Anna Vukan


Peter Payer begibt sich bereits zum zweiten Mal auf kulturhistorische Streifzüge und verwandelt eine Sammlung von Essays der letzten sechs Jahre zu einem Buch, das in vergangene Tage entführt. Es ist ein Ausflug in jene Zeit, in der sich Wien, begleitet von einer Reihe technischer Veränderungen im öffentlichen Raum, auf den Weg macht, Weltstadt zu werden.
In seinen Erzählungen versteht es Payer, die Vergangenheit mit allen Sinnen erfahrbar und Bilder lebendig zu machen. Die Stadt zählte vermutlich nie zu den ruhigsten Orten, der Einzug des Verkehrs mit Automobilen und Straßenbahnen veränderte die Lärmverhältnisse jedoch erheblich. Payers Beschreibung der zentralen Opernkreuzung machen diese Zustände begreifbar und illustrieren, wie schwierig es anfangs für die Wienerinnen und Wiener war, mit dem anhaltenden Lärm und den chaotischen Straßenverhältnissen in der Stadt umgehen zu lernen. Die willkommene Erfindung des Gehörschutzes Ohropax verschaffte in Folge nicht nur Schriftstellern wie Peter Altenberg oder dem Komponisten Hugo Wolf Erleichterung. Unüberhörbar dürfte trotzdem der »Mittagsschuss« geblieben sein: Ein Schuss aus einer kleinen Kanone, der weithin zu vernehmen war, markierte die genaue Mittagsstunde laut Zeitnehmung an der Urania-Uhr. Die Maßnahme war eine Folge der Ausstattung von Wiens Plätzen mit öffentlichen Uhren, die aufgrund der mangelnden Einheitlichkeit der Zeitmesser zu erheblichen Problemen geführt hatte. Trotz dieser Anlaufschwierigkeiten wurden die würfelförmigen Uhren zu einem bestimmenden Element des Wiener Stadtbildes, nach deren Geometrie viele Jahre später auch die blauen U-Bahn-Würfel gestaltet wurden, die bis heute die U-Bahnstationen weithin sichtbar markieren.
Eines der vielen kleinen Aha-Erlebnisse, von denen man bei der Lektüre von Peter Payers Textsammlung zur Alltagskultur durchgängig begleitet wird. Von der heutigen Selbstverständlichkeit, Wien durch die Elektrifizierung im frühen zwanzigsten Jahrhundert bei Nacht zu erleben, über die Gerüche der Maroni- und Würstelstände, die untrennbar mit Wien verbunden sind: Payer erzählt von Orten, Menschen und Objekten, die an der Entwicklung der Stadt zu einem Ort der Unterhaltung und der Erholung teilhatten und vergisst dabei auch nicht, über die Armut in der Stadt zu schreiben, wenn er über die prekäre soziale und ökonomische Lage seiner »Wiener Typen« berichtet. Seine Texte stehen jeder für sich und fügen sich doch zu einer Geschichte. »Im Zentrum stehen auch diesmal bisher wenig beachtete Aspekte des Wiener Alltagslebens, Wahrnehmungs-Splitter, zusammengefügt zu einem Kaleidoskop, in der Hoffnung, damit etwas über das besondere Wesen Wiens und seiner Bewohner zu vermitteln«, schreibt Payer in der Einleitung zu seinem Buch. Die Bewohner und Bewohnerinnen, die ins Rampenlicht gerückt werden, entstammen dabei nicht dem herkömmlichen Reiseführer-Repertoire. Entworfen wird eine Alltagsgeschichte Wiens mit vielen, in der öffentlichen Wahrnehmung weitgehend unbekannten Akteuren, die das Bild der Stadt mit geprägt haben: So erzählt Payer von den Grafikdesignern Gustav Mezey und Eduard Paryzek, die sich der Gestaltung von Filmplakaten verschrieben hatten und mit ihren großformatigen Darstellungen von Schauspielern und Filmdiven das Stadtbild prägten. Oder er berichtet vom Schriftsteller und Journalisten Eduard Pötzl, den er sowohl selbst portraitiert als auch die von ihm geschaffene Figur des »Herrn Nigerl«, durch den Pötzl unverblümt Geschichten der Stadt skizzieren konnte. Auch der fiktiven Figur des »Grafen Bobby«, der stets in Doppelconférence mit »Baron Mucki« mit seiner Naivität den Wiener ein bisschen auf die Schaufel nahm, ist ein eigenes Kapitel gewidmet.
Payers kulturhistorische Streifzüge pendeln zwischen der Beleuchtung von städtischer Imageproduktion – bereits 1873 versuchte Wien im Rahmen der Weltausstellung ausdrücklich unter Beweis zu stellen, dass es den Status einer Weltstadt verdiente – und dem Selbstbild der Wienerinnen und Wiener, die es gern gemütlich haben und das Flanieren entlang des Donaukanals ebenso schätzen wie den Spaziergang auf den Leopoldsberg. Ein Freizeitverhalten, das sich bis heute in Form des Liegestuhl-Aufgebots am Donaukanal zeigt oder in der großen Liebe zu den »Enzi«-Liegemöbeln im Wiener Museumsquartier fortsetzt. Wie viel Folklore im Image von der »Wiener Gemütlichkeit« steckt, mag jeder selbst entscheiden. Oder bei einem Lokalaugenschein in der Donaustadt erkunden.


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