Elke Krasny

Elke Krasny ist Kuratorin, Stadtforscherin und Professorin für Kunst und Bildung an der Akademie der bildenden Künste Wien.


Die Ausstellung An der Grenze des Denkbaren im < rotor > in Graz zeigt künstlerische Analysen und Visionen zur Situation der Menschenrechte in Europa. Das Land der Menschenrechte ist auf keiner Landkarte zu finden. Es ist in keinem Atlas verzeichnet. Das Land der Menschenrechte ist ein utopischer Ort der heterotopen Kritik, ein heterotoper Ort zunehmend utopischer werdender Kritikfähigkeit. Ausgestattet mit allen Mitteln der Kunst sind im Land der Menschenrechte Kritik und Utopie innerhalb der engen Grenzen des Realen aufgebrochen, um diese Grenzziehungen in Kopf wie Welt radikal in Frage zu stellen. Aufzufinden ist dieses Land als Arbeitsprozess eines auf drei Jahre angelegten Projekts, das gemeinsam von sechs europäischen Kunstinstitutionen getragen wird, und sich zwischen Kunst, Aktivismus, Kritik, (Selbst)reflexion, Forschung, Diskursproduktion, breiter Öffentlichkeit und Kunstpublikum bewegt. Es geht in dieser 2007 begonnenen Untersuchung um den „Status Quo der Menschenrechte in Europa aus Sicht der bildenden Kunst“ (http://www.landofhumanrights.eu). Finanzielle Unterstützung kommt vom Kulturprogramm der Europäischen Union. Zu den deklarierten Aufgaben der Generaldirektion Bildung und Kultur zählen der Aufbau eines Europas des Wissens, die Entwicklung eines europäischen Kulturraums sowie die Einbeziehung von Bürgerinnen und Bürgern in dieses europäische Einigungswerk.

Historisch begann die Vorstellung eines Landes der Menschenrechte mit einer Deklaration, am 10. Dezember vor sechzig Jahren. In der symbolschweren 8er Gedenkreihe, die von 1848 über 1918 bis zu 1938 oder 1968 reicht bzw. reichen könnte, wurde 1948 als das Geburtsjahr der Menschenrechte in den allgemeinen Gedächtnispolitikritualen schmählich übersehen. Während der rigorosen ideologischen Umbauarbeiten nach dem Zweiten Weltkrieg wurde von der Generalversammlung der Vereinten Nationen im Palais de Chaillot in Paris die Resolution 217 A (III) verabschiedet, die 30 Artikel der Allgemeinen Menschenrechte umfasst wie „Bildung“, „am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen“, „Lebensstandard“, „Erholung und Freizeit“, „soziale Sicherheit“, „Meinungsfreiheit“, „Staatsangehörigkeit“, „Asyl“, „Leben, Freiheit, Sicherheit“. In rund 300 Sprachen wurde diese Deklaration übersetzt.

Der 2007 begonnene Übersetzungsprozess in das Land of Human Rights aktiviert künstlerische Produktion als Perspektivierung auf die Menschenrechte und ihre Verletzlichkeit. Land of Human Rights hat sich die Aufgabe gestellt, den lokalen Wirksamkeiten der Deklaration und viel mehr noch der Missachtung respektive ihrer Bedeutungslosigkeit, die globale Subjekte ihrer Menschenrechte beraubt, forschend nachzugehen. Sechs Kunstinstitutionen, < rotor > association for contemporary art in Graz, University of J.E. Purkyne˘ , Ústí nad Labem, riesa efau – Motorenhalle in Dresden, Trafó Gallery in Budapest, Galerija Škuc in Ljubljana und die galerija miroslav kraljevi´c in Zagreb arbeiten als künstlerisch-aktivistisches Forschungsnetzwerk.

< rotor > untersucht die europäische Praxis der Abschottung und Abschiebung. Das Bild der Festung als Vision der Sicherheit drückt Europa seinen Stempel auf, ist im kleinen Maßstab aber auch in jeder gated community zu finden wie zu spüren. Der Gegenwartskunstort < rotor > zieht jedoch nicht nur ein „Kunstpublikum“ an, sondern schafft Szenenübergänge zu NGOs, AktivistInnen, MigrantInnen, ForscherInnen … In den Übergängen liegt die Schärfe und die Kraft des Projekts. Setzt Aktivismus heute auf resolidarisierende Politisierung und die wissenschaftliche Forschungspraxis auf de-subjektivierende Objektivitätsverpflichtung, so kann die Kunst zwischen allen Formaten changieren und dadurch ihre Positionierung im eigenen Feld wie in anderen situieren. Die großzügigen Räume des < rotor>, an der viel befahrenen Grazer Volksgartenstraße gelegen, ermöglichen ein intensives, konzentriertes Schauen. Man muss sich Zeit nehmen für die einzelnen Arbeiten, sie fordern dieses Recht auf Zeit. Schnelles Auf-einen-Blick-Verstehen oder beiläufig flanierendes, flottes Ästhetikkonsumieren gibt es hier nicht. Und das ist gut so! Sofie Thorsen bearbeitet eine gated community in Warschau. Lorenz Aggermann, Eduard Freudmann und Can Gülcü schrieben einen Reiseführer in eine Elendssiedlung (siehe Besprechung in diesem Heft auf Seite 54). Demnächst wird ihr Buch Beograd Gazela auch ins Englische, ins Serbische und in Romani übersetzt. Auch die Arbeit von Michael Blum nimmt das Format eines Buchs an. Mein Land sind 100 komprimierte Texte über Abschiebungsfälle in Europa. Lala Rascic thematisiert körperliche Unsichtbarkeit als Metapher für den Zustand der Marginalisiertheit. Luchezar Boyadjiev komponiert mit Texten und Fotografien das, was er für die Verletzung seiner visuellen Rechte als Bürger und Mensch hält. Seinen Blick richtet er auf neokapitalistische Städte wie Sofia, Bukarest, Moskau, Belgrad, Skopje oder Kiew. Ursula Biemann präsentiert mit mehreren Projektionen und Monitoren Sahara Chronicle, eine Videosammlung über Mobilität und die Politik der Abschottung in der Sahara. Bei drei Exkursionen zu den Zugängen und Knotenpunkten des trans-saharischen Migrationsnetzwerks in Marokko, Niger und Mauretanien wurde das Material gesammelt. Die Kurzvideos versuchen eine Dokumentation des subsaharischen Exodus Richtung Europa.

Wie stark die Denkfiguren von Raum und Subjektkonstituierung in geopolitischer wie mikropolitischer Dimensionalität selbst wiederum verräumlicht sind und über die Figur der individuierten Territorialisierung erzeugt werden, zeigt sich in der Strategie, die für die künstlerische wie kuratorische Auseinandersetzung gewählt wurde. „Die Auseinandersetzung soll bewusst mit Fragestellungen ,vor der eigenen Haustür‘ bzw. ,im eigenen Haus‘ geführt werden.“ (http://www.rotor.mur.at) Das Kehren vor der eigenen Tür klingt in all seiner Ambiguität an. „Und schließlich eines der wichtigsten Probleme für die Städte im 18. Jahrhundert, nämlich die Überwachung zuzulassen, da ja der durch die ökonomische Entwicklung notwendig gewordene Wegfall der Festungsmauern bewirkte, daß man die Städte abends nicht mehr schließen oder tagsüber das Kommen und Gehen nicht mehr genau überwachen konnte und folglich die Unsicherheit der Städte gesteigert wurde durch den Andrang all der ziehenden Völker, Bettler, Vagabunden, Delinquenten, Kriminellen, Diebe, Mörder usw., die, wie jedermann weiß, vom Land hereindrängen konnten“, so Michel Foucault in der Geschichte der Gouvernmentalität. Das 18. Jahrhundert ist uns auf die verkürzende lapidare Kurzformel der Aufklärung ins kollektive Erinnerungsstammbuch eingeschrieben. Wie das 21. Jahrhundert hinkünftig benannt werden wird, ist uns noch nicht bekannt. Die Foucaultsche Beschreibung lässt sich ins Heute übersetzen, nicht ohne Brüche, aber mit vielen offenen Eingängen. Aus der Stadt wurde Europa. Aus den geschliffenen Festungsmauern die Globalisierung. Aus der Unsicherheit die sich rapide steigernde Überwachungsmaschinerie. Aus den vom Land Hereindrängenden die MigrantInnen, die „vielen 100 Millionen Menschen, die in den Ländern des Südens in extremer Armut leben“, wie das < rotor > Leitungsduo, Margarethe Markovec und Anton Lederer, schreibt. Und Europa kehrt vor der eigenen Tür, indem es dicht macht, nach außen wie nach innen. Die Entsolidarisierung beginnt vor der eigenen Haustür. Mit höchst individualisierten Ansprüchen fühlt man sich in der eigenen Haut, im eigenen Haus am wohlsten. Und die Nachbarn sind, wiewohl die Welt auf einen Katzensprung geschrumpft ist, ferner denn je.

--
Ausstellung
An der Grenze des Denkbaren
< rotor >
association for contemporary art
29. März bis 6. Juni 2008


Heft kaufen