Lob der Brandstifterin
Auszug aus der Erzählung Lob der Brandstifterin von Thomas Ballhausen.
You seemed so sure
That one day we’d be fighting
In a suburban war
Your part of town against mine
I saw you standing on the opposite shore
But by the time the first bombs fell
We were already bored
Arcade Fire — The Suburbs
Das zufällig gelesene Fragment stellt die Situation auf den Kopf. Linearität, so war unlängst zu hören, wäre ja ohnehin heillos überschätzt. Freundlicher als die Zeile ›Du hättest wenigstens anrufen können‹ wird es nicht mehr werden. Im Wechselschritt geht es verletzend voran, der kaum sichtbare Beobachter begleitet das schändliche Geschehen wie ein mechanischer Chronist. Aufblicken, sich umblicken, sich orientieren, wie sind wir, wie bin ich hier nur gelandet? Die Gesichter der anderen Gäste erscheinen bedrohlich vertraut, war ich verabredet, welches Geschäft galt es abzuwickeln? Oder ist die Mission gar eine andere? Jeden Moment kann man enttarnt werden, die nächste Katastrophe ist nur eine weitere Zufälligkeit entfernt. Versuche der Maskierung tragen noch zur weiteren Verfremdung der Gesamtsituation bei. Jede dieser Unternehmungen ist von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Unerkannt bleibt – es mutet ein wenig paradox an – über längere Zeiträume vielleicht aber doch nur derjenige, der sich nicht vorsätzlich verändert. Wie Leihgaben wechseln die Körper für kurze Zeit die Besitzer, man schenkt sich ja sonst nichts. Bald schon aber hat man sich satt, wer will denn schon jemand anderen nötig haben. Die Notwendigkeit des Verlusts wird jeden Tag neu verhandelt. Wir sind Politiker und Piraten, kaum haben wir das Bett verlassen. Habe ich zu lange unter Krähen gelebt, zu weit weg von all den anderen? Aber ich habe mich, entgegen aller Vermutungen und Ängste, dort sehr wohl gefühlt, vielen Dank auch. Ich habe die Arme ausgebreitet und mich unter sie gemischt, zugelassen, dass sie mich kennen lernen, aufnehmen, mich akzeptieren. Mich irgendwo einzufügen ist mir ja noch nie besonders schwer gefallen, das habe ich wie alle anderen Dinge auch trainiert. Für was immer ich getan habe, nachdem man mich dazu ausgebildet hat, musste ich nur die natürliche Begabung zu lügen mitbringen, alle anderen Fertigkeiten konnte ich erlernen, ich konnte sie üben, bis selbst ich davon überzeugt war, dass all dies nur aus mir kommt, nur aus mir entspringt. Vermutungen will ich nicht bestätigen, Fragen nicht beantworten, kein Kommentar zu den Vorkommnissen. Von den vergangen Dingen redet doch kaum noch jemand – und selbst dann nur hinter vorgehaltener Hand, es ist ein zum Getuschel gesteigertes Flüstern, wenn schon.
Die Feuer in der Tiefe sind längst erloschen. Nur in den langweiligsten Zusammenstellungen, den unbeantworteten Briefen und den vergessenen Einladungen wird noch darauf Bezug genommen. Alljährlich werden an der Oberfläche Menschen angezündet, zum Gedenken an den alten Schrecken und seine Rhythmen. Unruhig wird zwischen den Orten gewechselt. Als ob es sich auf der Straße leichter schreiben und im Park leichter leben ließe. Der vorsichtige Blick zur Seite ist verräterisch. Lieber soll ein weiteres Unrecht begangen, als auf jeden Anflug von Ordnung verzichtet werden. Wer nicht mehr fliegen kann, kann sich auch in keiner Laterne, sei sie auch noch so geräumig, einrichten. Die Unsicherheit und die Gerüchte stiften leise Verwirrung, kaum fühlbaren Aufruhr unter den zitternden Oberflächen. Im Neigen des Kopfes, im Falten der Hände versteckt sich das Entschlüsselbare. Für Momente der Entspannung kann die Außenwelt vergessen werden. Heimisch kann hier aber trotzdem niemand werden. Der Status des Gasts lässt sich nicht abwaschen, vor dem Spiegel nicht wegbürsten.
Nachrichten wechseln zwischen den wie eigenständig agierenden Geräten hin und her. Phrasen werden abgespult, das Vielgesagte wiederholt. Die unbeabsichtigte Berührung einiger Tasten kann Existenzen löschen, Kriege auslösen oder Liebe stiften. Ein Zauberspruch ist also mitunter doch wie eine Telefonnummer, die man auswendig – by heart – weiß. Im hintersten Winkel des Verstecks gibt es angeblich keinen Empfang. Hier scharen sich die Verräter, die Flüchtenden und die Scheuen, die sich verführen lassen möchten. Wir treffen uns vor verschlossenen Türen. Es muss kein Wort gesprochen werden, hier gibt es keine schon vor längerer Zeit vorgefertigten Sätze, die pflichtgemäß zu wechseln wären. Ein Nicken, ein filmreifer Blick und das Ansetzen zu einer Bewegung. Das reicht, mehr braucht es nicht, das ist das Signal. Die Botschaft ist ebenso eindeutig wie unhöflich: ›WERDE ENDLICH ERWACHSEN‹ steht da in Versalien auf dem matt leuchtenden Display. An wen sich die Aufforderung richtet, ist unbestimmt. Wenn die Aufgabe erledigt ist, werden wir lange nicht wissen, wohin wir uns wenden sollen.
Kommt eine Reise noch in Frage? Können wir die geordnete Vorstufe zu einer weit chaotischeren Flucht noch in Betracht ziehen? Unsere Gepäckstücke sind so schwer von der Vergangenheit, dass wir uns im Jetzt kaum noch von der Stelle bewegen können. Wir stehen uns im Weg, nichts weiter. Später wirst Du behaupten, ich sei in Deine Schusslinie gelaufen. Das hätte ja niemand ahnen können. Den zu dieser Lüge passenden Gesichtsausdruck übst Du jeden Abend vor dem Badezimmerspiegel. Manchmal beobachte ich Dich heimlich dabei. Wer macht es sich hier leicht? Das ist eine der Fragen, die man in allen Zeitungen finden wird. Ich sollte mich nicht teilen, ich sollte mich vervielfältigen können. Die auf mich geworfenen Steine – erste, zweite, dritte und immer so weiter – liegen wie Fallobst ringsum verstreut. Zuletzt, in einem Anflug von Schwäche, hätte ich mich beinahe bei Dir entschuldigt.
Die Hand an das grobe Mauerwerk gepresst, fühle ich den Puls der Stadt, die unter dem Mauerwerk verlaufenden Leitungen. Etwas schläft unter dieser langsam abbröckelnden Haut. Sie hat längst verstanden, was für einen Wert das hat, aber sie will ihre Wahrheiten nicht mit mir teilen. Sie zieht es vielmehr vor, mich in den unmöglichsten Momenten mit den immer gleichen – und irgendwie auch immer gleich berechtigt klingenden – Vorwürfen zu konfrontieren. Die Mauer ist so kühl wie mein Gemüt. Da ist eine Stimme, die im Verputz der Dinge steckt, doch noch hat sich ihre Frequenz mir nicht erschlossen. Vielleicht wird hier ja auch von einer Wahrheit gesprochen, für die ich mich taub stellen muss. Das bedrohlich anmutende Geräusch, das zu hören ist, wenn man eine lange getragene Maske anzieht. Ein unfreundliches Schmatzen, Puder rieselt auf meine Schultern. Mein Gesicht ist gerötet. Für einen Moment fürchte ich, dass sich Teile meiner Haut ebenfalls abgelöst haben und die nächste, darunter liegende Maskierung zu sehen ist. Das Wunder der Fälschung liegt nicht so sehr im Vermeiden der Verluste begründet, sondern im Aufbieten unvermuteter Reserven.
Sie zündelt gerne, sie ist eine Pyromanin. Ihre Begeisterung dafür, auch mich in Brand zu stecken, mich bis zum Grund ausbrennen zu lassen, wird nur von dem sonderbaren Wunsch überflügelt, das All abzufackeln. Die Häuser, an denen sie sich zu schaffen gemacht hat, beginnen sie bereits zu langweilen. Lieber möchte sie den Sternen beim Verlöschen und Verglühen zusehen, nur um es beobachtet zu haben, nur um dabei gewesen zu sein, in diesem Moment, als die Finsternis begann. Sie möchte das All in Brand stecken, nicht zuletzt auch, um schließlich mit den Gesten einer selbstbewussten Siegerin verkünden zu können, dass sie, ganz wie sie es immer angenommen hatte, Recht behalten hatte. Es sei immer schon alles so gewesen, wie sie es von Beginn an vermutet hatte. Bei all dem, diesen bitteren Verkündigungen, wirkt sie nicht wirklich bösartig, bloß etwas unbeholfen. Alle ihre Freunde lieben sie, eben weil sie immer unter Verdacht steht und man ihr aber doch nie etwas hatte nachweisen können. Jeder von ihnen wird immer wieder versuchen, sie zu küssen, sich von ihr verführen zu lassen. Was wollen wir in dieser Stadt, in der immer früher Abend ist? Das stumpfe Licht fällt auf die Bilder an der Wand, die, wie selbst eine flüchtige Überprüfung ergeben muss, keine Originale sind. Sie wurden, so legt es die Staubschicht auf der Oberseite der Rahmen nahe, schon vor längerer Zeit ausgetauscht. Selbst hier finden wir also nur gefälschte Bilder, Reproduktionen, die aus billig hergestellten Katalogen herausgelöst wurden. Eine noch nicht fertig ausformulierte Antwort auf die Frage, welchen Eindruck ihr furchtbares Verhalten langfristig auf mich haben wird, tritt hinter die Notwendigkeit zurück, eine Antwort auf die Frage danach zu finden, ob ich all das nicht auch tatsächlich verdient habe. Was ist eigentlich mit Dir los? Sie verlangt mit einer gewissen Berechtigung nach einer Auskunft, die ich ihr weniger geben kann denn geben will. Man muss sich mit der Rolle des Ges-penstes erst abfinden, bevor man sich mit ihr anfreunden kann.
Dies ist der Ort des Austauschs, zwischen diesen langen Regalreihen hinterlassen wir unsere Nachrichten, kleine Botschaften, die nicht immer gleich ans Ziel gelangen. Prüfend wirft der Beamte einen weiteren Blick auf meinen gefälschten Ausweis. Er kann sich, ganz im Gegensatz zu mir, nicht an meinen letzten Besuch erinnern, ich komme ihm nicht so bekannt vor, wie ich es befürchtet habe. Immer wieder vergisst er auch die von mir angegebenen Namen, eigentlich ein segensreicher Umstand. Wir haben uns schon vor längerer Zeit auf ein Buch zur Übermittlung der verschlüsselten Botschaften geeinigt. Der gelbe Umschlag, das Papier und sein Geruch anderer Jahrhundertwenden, verheißt mit spitzer Feder ausgeführte, lockende Obszönitäten. Das Blättern in dem Band lässt mich zumindest für wenige, flüchtige Momente wieder die Neugier und die Aufregung vergangener Zeiten spüren. Die Erinnerungen an vermeintliche Kinderspiele, papierne Hilfsmittel und die Erziehung zum Lügen blitzen kurz auf. Ich lernte, die Lüge zu lieben, sie zu zelebrieren. Die statt ihrer Zeilen in dem Buch vorgefundenen Fotos behalte ich aus persönlichem Interesse. Dies hat rein gar nichts mit meiner Profession zu tun. Beide Aufnahmen richten sich, obwohl ich es vorerst nicht wahrhaben wollte, direkt an mich. Eines zeigt eine junge Frau, die ich Jahre, nachdem diese Aufnahme gemacht worden war, kennen lernte, eine junge Frau, deren heimlicher Geliebter ich eine zu kurze Zeit lang war. Die andere Aufnahme zeigt dem Betrachter den Blick aus dem Schlafzimmer der Frau auf das gegenüberliegende Gebäude. Erst dieser zweite Beleg entschlüsselte mir den ersten, machte mir klar, woher ich dieses junge, noch ganz mädchenhafte Gesicht kannte. Ich kenne diese Aussicht, ich kann mich erinnern, wo dieses Haus stand. Ich kenne diese Lippen, nein, ich kannte sie zumindest ein wenig. Beide Aufnahmen sind, so wie es für diese Art von belichteten Sofort-unikaten früher üblich war, blau getönt. Ich kann nur Vermutungen darüber anstellen, wer die Fotografien aufgenommen hat. Ich kann Leute verdächti-gen, die ich aus Schilderungen kenne. Ob es noch weitere dieser Belege gibt, ob es überhaupt Botschaften sind, die sich vorsätzlich an jemanden richten? Vielleicht täuscht mich mein Wunsch nach Interpretation über die Tatsachen hinweg, wieder einmal. Der Zufall ist mir diesmal wertvoller als ein möglicher Sinn, der sich durch die Entschlüsselung ergeben könnte. Da ist immer noch eine Schwäche für die Abgebildete spürbar, eine Schwäche, die ich mir nicht eingestehen wollte.
In einer anderen Wirklichkeit bin ich wahrscheinlich eine viel verträglichere, umgänglichere Person. Hier aber müssen wir Geheimnisse erfinden, um etwas zu haben, das nur uns gehört und verbindet. Generationen gelangweilter Zuschauer würden sich sonst zu schnell abwenden, nur unter ihren neugierigen Blicken scheinen wir wirklich und tatsächlich zu existieren. Es wird einem offensichtlich immer noch zu leicht gemacht, sich nicht für die Welt zu interessieren. Was wir übereinander wissen, verbindet uns. Die Brücke, zu der mich die Spur führt, erweist sich als ungesicherter Übergang zwischen den Zonen. Die Leute tragen Schutzmasken. Ist das ein Trend oder eine Vorsichtsmaßnahme, ich vermag es nicht zu sagen. Ich krame kurz in meiner Tasche und hole die aufgrund ihres Alters fast schon antik wirkende Gasmaske hervor, die ich seit den letzten Attacken immer mit mir herumtrage. Sie sitzt schlecht, ich muss kurz stehen bleiben und die Bänder, die sie auf meinem Kopf fixieren, nachziehen. Ungenügend geschützt, aber unkenntlicher als zuvor, setze ich meinen Weg fort, als wüsste ich, wohin ich unterwegs bin. Hier kann ich nicht bleiben. Hier nicht, hier auch nicht. Ich möchte lernen, die Katastrophe wie einen alten Freund zu umarmen, so heftig und ehrlich, wie nur wenige vor mir. Ich könnte mich mit ihr anfreunden lernen, da bin ich mir ganz sicher. Diesmal wird alles anders sein. Wir sind am Zug.
Später wechsle ich meine Kleidung und schlüpfe in die Krähenhaut, die immer noch im markierten Kasten zu finden war. Wie eine alte Lederjacke, die nach langen Jahren ihre unveränderbare Form bekommen hat, ist auch hier jede Falte an ihrem Platz. Am Türknauf hängt eine Maske wie der Kopf einer Enthaupteten. Es ist eine traurig obszöne Hinterlassenschaft, die mich für einen Moment erstarren lässt. Hier ist erneut jemand zu Boden gegangen, doch an der Schwerkraft kann es nicht gelegen haben. Mein Weg führt mich weiter, er führt mich weiter weg. Es ist immer die Frage, wie man sich in der jeweiligen Wirklichkeit einrichtet. Das hier ist eine völlig andersartig ausgemalte und tapezierte Welt, ein mit Stoff ausgeschlagener Ort, dessen Zugang versteckt ist. Natürlich kann man die Gardinen zuziehen, das Mobiliar verschieben, wirklich heimisch wird man an diesem Fluchtpunkt aber trotzdem niemals werden. Es gilt, vorerst kein Risiko einzugehen. Bei der Wahl des nächsten Aufenthaltsortes berücksichtige ich das umso mehr. Hier, in den beschaulicheren Gegenden ihrer Kindheit, einem im Wald verborgen liegenden Haus, wird sie mich nicht gleich vermuten. Das Blau des Himmels verdichtet sich über mir zu einer farblich nachjustierten, eintönigen Künstlichkeit, die sich bis zum Horizont erstreckt. Wenn ein Gebäude wirklich dauern, also überleben will, braucht es, so erzählte es mir einmal ein grausamer Engländer, eine gute und saubere Erzählung. Die Tür knarrt, sie hat sich unter den ständigen Temperaturschwankungen verzogen. Was ging verloren, hier in diesem Zwischenreich? Zumindest waren wir uns noch bewusst gewesen, etwas verloren zu haben.
Wir konnten uns nur nicht mehr erinnern, was es gewesen war oder wie es sich angefühlt hatte. Was sich in diesem Haus, ihrem Haus, befindet, ist ein Durcheinander, eine Sammlung. Es ist ein auf den ersten Blick ungeordnet wirkendes Privatmuseum: Geraubte Schätze liegen neben gebündelten Zeitungen. Ein Steckbrief, der sie zeigt, ist wie ein wertvolles Porträt gerahmt worden und hängt einsam an einer der Zimmerwände. Unter dem nur vermeintlichen Chaos ist eine geheime Ordnung verborgen, die sich nicht gleich erschließt. Ich lasse den Blick schweifen, wie auf der Suche nach einem Objekt, das sie vielleicht zu bannen vermag, einem Gegenstand mit Vergangenheit. Geheime Zimmer und Räume wie diese scheinen, so macht es den Eindruck, nur zu existieren, um beschrieben zu werden. Doch je länger ich wieder hier stehe, desto eher halte ich diese Annahme für einen Irrtum. Die Ablageformen haben die Quellen, das Übermittelte und Erhaltene immer schon wesentlich mitbestimmt. Die Geschichten, so hat es sich im Verlauf der unterschiedlichsten Stränge gezeigt, werden überwunden und schon kann der Untergang erneut beginnen. Wir lesen doch überall auch von den Fehlern, die wir gemacht und doch nicht als solche erkannt haben. Ich möchte etwas direkt aus der Zeit herausbrechen und wieder strahlen lassen.
Wie ich mir wünsche, dass zumindest diese Stadt meine Verbündete wäre. Ich könnte mich hier wirklich wohl fühlen, mich hier einrichten und damit beginnen, Bilder aus unbeschwerten und friedlicheren Zeiten erneut in eine Gegenwart verwandeln. Einige Straßen weiter war früher einmal ein kleiner Laden, eine so genannte Tauschzentrale. Hierher brachten die Bewohner des Bezirks ihre Kleidungsstücke, Spielzeuge und Bücher, um sie, nach Entrichtung einer kleinen Gebühr, gegen für sie neue Gegenstände und Textilien einzutauschen. Ich stehe, von der Warte eines Passanten aus betrachtet, wohl ungewöhnlich lange vor dem heruntergelassenen Gittertor, den wenig einladenden Auslagen. Ich gehe um das Gebäude herum und durch den Innenhof eines schäbigen Wohnhauses, der für die kommenden Festivitäten nachlässig geschmückt wurde. Hinter Papiergirlanden finde ich die Hintertür zum Geschäftslokal wieder. Der Ersatzschlüssel ist immer noch unter einem der lockeren Pflastersteine neben der Tür zu finden. Hier habe ich immer bekommen, wonach ich gesucht hatte. Staub hat sich auf den ausgestellten Waren niedergelassen. Es macht den Eindruck, als hätten die Besitzer nur kurz weggehen wollen und sich dann, aus welchen Gründen auch immer, entschlossen, nicht zurückzukehren. Das Licht fällt trübe durch die stark verschmutzten Scheiben herein, während ich den papiernen raschelnden Vorhang zu den hinteren Räumlichkeiten durchquere. Ich passiere einen engen Gang voller Kostüme und pornographischer Angebote und gehe zu einem Zimmer am Ende der Räumlichkeiten vor. Da hängt an einem Haken, ganz vereinsamt, immer noch mein alter Anzug, bühnentauglich und feuerfest. Ich ziehe die ihn umschließende Kunststoffhülle herunter und streife meine Kleidung ab. Der Stoff des Anzugs knistert ein wenig, als ich ihn anlege. Er passt immer noch, ich habe nicht so viel zugenommen wie befürchtet. In den Jackentaschen finden sich die dort hinterlassenen Utensilien, kleine Hilfsmittel für Zaubereieinlagen. Dieses Outfit erscheint mir perfekt für die zu absolvierende Dompteurseinlage. Wie bändigt man die Realität, wenn nicht mit Geduld, Nachsicht und einer größeren Anzahl von Kunststücken.
Haben sich denn tatsächlich alle entschlossen, seriös zu werden, wetterfeste Schuhe zu tragen und sich mit den Umständen zu arrangieren? Ein Blick in die Zeitung, die ich in einem Café unweit der Bibliothek lese, bestätigt es mir. Mein Vertrag mit dieser Wirklichkeit wird wohl nicht verlängert werden; nicht, dass ich besonderen Wert darauf lege. Draußen sind die ersten Feiernden zu beobachten, weitere werden ihnen schon bald folgen. Ab und zu ein toter Anführer, ein ermordeter Visionär, wen kümmert das schon tatsächlich. Die Aufregung über diese stets ungelösten Taten ist nur von kurzer Dauer, sie wird vom Erstaunen und den Diskussionen über neue Nichtigkeiten abgelöst. Doch das noch schlimmere Verbrechen, an dem unsere Zeit und unsere Vernunft letztendlich zerbrochen sind, bleibt ungenannt. Nur von der erneuten Anordnung umfassender Ermittlung ist die Rede, von der Entsendung eines noch zu bestellenden Spezialisten in die Krisenregionen. Man wolle sich erst einen Überblick verschaffen. Die Schwärze der Buchstaben färbt ein wenig vom billigen Papier ab. Man wird voraussichtlich wieder zu spät kommen. Was Zeit und Erfahrung aus uns gemacht haben, welche Erkenntnisse mit den Erlebnissen einhergehen, muss von anderer Stelle ermittelt werden. Ich will dafür nicht auch noch zur Verfügung stehen müssen. Ich bin aus guten Gründen ein Unsichtbarer geworden – ein Umstand, der sich nur schwer zur vollen Befriedigung aller erklären lässt. Ich habe zu lange nachgelebt, was mir vorgegeben worden war. Weniger noch als damals wird sie mich berühren können. Ich war funktional und sie war verliebt, eine ungünstigere Verbindung ist kaum denkbar. Die Gegend scheint infiziert, verseucht zu sein. Es ist schlicht die Fehlstellung der Welt, so möchte man mit einem entschuldigenden Achselzucken bemerken. Undeutlich spiegle ich mich im Metall der Wandverschalung, mein verzogenes ich und mein nicht weniger verschwommenes Gesicht sind Teil der Ausschweifungen, die nun in vollem Gange sind. Nachts wirkt all dies ein wenig natürlicher und angebrachter, man ist leichter bereit, nachsichtig zu sein, zu verzeihen. Die Buchstaben, die auf der Schiefertafel vor dem Lokal angebracht sind, beginnen unter meinem Blick zu tanzen und geben nach kurzer Zeit eine verborgene Botschaft frei. Auf der Rückseite der Tafel entdecke ich eine Postkarte, motivisch grinst sie mir darauf entgegen. Es ist eine Einladung, unmissverständlich und voller gefährlicher Reize. Ich freue mich doch immer, wenn sie mir schreibt.
Thomas Ballhausen, Autor, Film- und Literaturwissenschaftler, ist Mitarbeiter der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur im Literaturhaus Wien / Leitung der Pressedokumentation.