Los Angeles. Eine Autopie
Besprechung von »Los Angeles. Eine Stadt im Film« von Astrid Ofner und Claudia SiefenDem Filmhistoriker und Regisseur Thom Andersen gelang es, bereits mit seinem Essayfilm Los Angeles Plays Itself (2003) dem Phänomen nachzuspüren, wie sehr sich in der filmischen Selbst- und Fremdinszenierung der Filmstadt Los Angeles reale und fiktive Szenen überschneiden. Als Kurator der Viennale-Retrospektive Los Angeles – Eine Stadt im Film spannte Thom Andersen den Bogen noch weiter, indem er mit dem Mythos Los Angeles als Stadt des Glamours und der Stars bricht und neben Spielfilmen wie Sunset Boulevard (1950) oder The Wild Angels (1966) selten gezeigte Experimental- und Dokumentarfilme mit rebellischem Undergroundpotenzial wie The Decline of the Western Civilization (1981) auswählte. Themenschwerpunkte wie Slapstick City, Sunshine Noir, Loving Los Angeles oder Falling Apart regten zu einem individuell gestaltbaren Streifzug durch eine architekturkritisch akzentuierte Filmgeschichte an, welche die Stadt Los Angeles zu ihrer Hauptdarstellerin machte.
Trotz 169-minütiger Dauer bietet Los Angeles Plays Itself (2003) den idealen Einstieg in Thom Andersens Demontage von Los Angeles als Glitzermetropole. In dem auf Video gedrehten Filmessay geraten collagenartig Ausschnitte aus unterschiedlichen Filmszenen von Kiss me Deadly (1955), Double Idemnity (1944), Chinatown (1974), L.A. Confidential (1997) oder Blade Runner (1982) zu einem abwechslungsreichen Porträt der Stadt und ihrer Anziehungs- und Imaginationskraft im Film. Der realhistorische, urbanistische Hintergrund von fiktiven Hollywooddarstellungen wird von Thom Andersen einer kinematografischen Analyse unterzogen. Als Location taucht wiederholt das Bradbury Building als architektonische Landmark auf. Doch Thom Anderson montiert nicht nur markante Filmausschnitte clipartig aneinander, sondern blendet unter anderem Bilder von jenem Obelisken ein, der den Standort des Keystone-Studios, des frühen Produzenten von Slapstickfilmen Mack Sennett, und damit den Geburtsort der Film-Comedy markiert. Auch L.A. Plays Itself (1972) von Fred Halsted, auf den sich der Titel von Thom Andersen bezieht, wurde vom Künstler und Filmemacher William E. Jones als Video rekonstruiert und lief während der Retrospektive. Eskalierende Szenen homophiler Begegnungen wechseln mit idyllischen Naturaufnahmen, die durch das Herannahen von Bulldozern gestört werden. Gezeichnet wird ein Los Angeles des Überlebenskampfes eines homosexuellen Regisseurs, der die heterosexuell dominierte Pornoindustrie der 1970er Jahre mit brutalen Einstellungen vom Fistfuck provozierte und deshalb zensuriert wurde.
Wie die Auswahl von Thom Andersen zeigt, existiert in L.A. auch ein Kino der Minderheiten – ein Minor Cinema, wie es der Filmwissenschaftler David E. James nannte. Über welche Möglichkeiten verfügt allerdings ein Kino der Minderheiten in einer Stadt, in der die Verkommerzialisierung der Filmindustrie seit den 1910er Jahren die Dynamik der urbanen Entwicklung dominierte? Los Angeles ist nicht nur „die Stadt“, in der das Kino im Mittelpunkt ihrer wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, kulturellen und städteplanerischen Entwicklungen steht, sondern die gesamte Region wird vom magnetischen Feld des Kinos in Beschlag genommen, wie die Stadtteile Silver City, Hollywood und Culver City im San Fernando Valley, wo Elektronik- und Unterhaltungsindustrie im Silicon Valley aufeinander treffen, belegen. Los Angeles gilt nicht zuletzt durch seine Entstehung an einem Unort – der Wüste – als Vorreiter der postindustriellen Stadt. Michel Foucaults Begriff der Heterotopie ist wohl auf keine andere Stadt zutreffender als auf Los Angeles. Hier überschneiden sich an einem Ort durch die multikulturelle, topografische und architektonische Pluralität mehrere Räume und Platzierungen. Über 14.000 Los-Angeles-Filme wurden bis dato in der Stadt gedreht. Dennoch sind es in den Hollywoodfilmen vorwiegend metonymische Bilder wie Sonnenaufgang am Strand, Palmen in Beverly Hills, Luftaufnahmen der Autobahnen sowie das Hollywood-Namensschild, die als werbeträchtige Images auftauchen. Mit diesem Mainstream-Kino bricht die Auswahl von Thom Andersen in der Retrospektive durch Filmraritäten wie The Exiles (1958/1961), der erst knappe 50 Jahre nach Produktionsbeginn in die Kinos kam. Kent Mackenzies arbeitete in The Exiles mit Laien-darstellerInnen und „Native Americans“ zusammen, setzte dokumentarische Mittel ein, um deren Existenzkampf als filmisches Soziotop und als Zeitbilder an Orten wie Bunker Hill, wo die Gentrifizierung von L.A. einsetzte, zu zeigen. Thom Andersens Auswahl berücksichtigte auch jene neorealistische Strömung, die in den 1970er Jahren eingeleitet wurde. Im Low-Budget-Film My Brothers Wedding (1983/2007) des afro-amerikanischen Regisseurs Charles Burnett geraten hautnah persönliche Schicksale, das Ankämpfen gegen Rollenmodelle der schwarzen Community und Ausbruchsversuche aus kulturellen Zwangsverordnungen durch komplexe Detailaufnahmen im Ghetto in Watts, South Central L.A. aneinander. Always Outnumbered, Always Outgunned zeigt den Kampf eines Ex-Häftlings, ehrlich zu bleiben. In The Savage Eye (1960) bewegen wir uns in die Randzonen der Stadt, begleiten die suizidgefährdete Protagonistin durch Fitnesscenter, Shoppingmalls und Schönheitssalons. Es ist ein schonungsloser Außenseiterfilm, der mit dokumentarischen Mitteln antiheroisch Los Angeles auf der Suche nach Erlösung durchfährt und die Abgründe menschlicher Einsamkeit gekoppelt an urbane Transitzonen durchdringt.
In Reyner Banham Loves Los Angeles (1972) hingegen führt der englische Architekturkritiker Reyner Banham auf einer Autotour durch sein Los Angeles, das sich als Metropole allen städtebaulichen Reglements widersetzt. Für diese Dokumentation der BBC durchstreift Reyner Banham die Straßen von Los Angeles, gefilmt werden PassantInnen an Straßenecken und Kreuzungen aus dem fahrenden Blickwinkel des Architekturtheoretikers. Banham bezeichnete Los Angeles als „Autopie“, als eine Stadt, deren diffuse urbane Textur sich aus dem Fluss der Bewegung erschließt. Jene Lücken, die in seinem Filmessay Los Angeles Plays Itself noch existieren, versucht Thom Andersen nun zu schließen, indem er in der Retrospektive seinen Lieblingsfilm, John Cassavetes’ Minnie and Moskowitz (1971) zeigte – seine Liebeserklärung an die Stadt.
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Los Angeles
Eine Stadt im Film
Viennale-Retrospektive
5. Oktober bis 5. November 2008
Ursula Maria Probst