Christoph Laimer

Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.


Louise Michel ist das Gesicht der Pariser Commune. Im deutschsprachigen Raum ist sie in der breiten Öffentlichkeit weitgehend unbekannt, in Frankreich ist in jeder größeren Stadt eine Straße, ein Platz oder eine Schule nach ihr benannt. Ihr Konterfei ist so präsent wie das von Che Guevara. Jüngst sind einige Bücher und Texte von ihr auf deutsch erschienen, was wohl dem 150-Jahr-Jubiläum der Pariser Commune zu verdanken ist. Bahoe books veröffentlichte 2019 einen Band mit Texten und Reden von Michel und 2018 einen biographischen Roman über sie von Eva Geber. Ende letzten Jahres hat der Mandelbaum Verlag die Übersetzung ihres Buches über die Pariser Commune herausgebracht.
        Das Buch über die Commune hat Michel überraschenderweise erst 24 Jahre nach deren Ende, also 1895 veröffentlicht und selbst dazu musste sie offenbar überredet werden. Das liegt weniger daran, dass sie wenig publiziert hätte, sondern – den Eindruck gewinnt man von ihr – dass sie ein Mensch war, der ganz in der Gegenwart lebte und sich lieber aktuellen Kämpfen widmete, anstatt über die eigene Rolle der längst vergangenen Commune zu schreiben. Das ändert jedoch nichts daran, dass sie sich der Aufgabe, dieses bedeutende Ereignis zu dokumentieren mit großer Gewissenhaftigkeit widmete. Ein besonderes Anliegen war es ihr, sowohl den Kommunarden und besonders den Kommunardinnen als auch der Sache an sich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sie erwähnt unzählige Namen von Mitstreiter*innen und zitiert ausführlichst Unterlagen, die darlegen, wie berechtigt und wichtig die Commune war, wie niederträchtig und brutal die Regierung. Das verwundert nicht, wurden die Kommunardinnen von ihren Feinden doch als eine Horde von betrunkenen, blutrünstigen Verbrecherinnen dargestellt, die mordend und brandschatzend durch Paris ziehen. Michel steht jedoch auch nicht an, Verbrechen der Commune wie die Ermordung von Geiseln, beispielsweise des Erzbischofs Darboy, anzuklagen. Auch diese Taten führt sie auf das Problem von Machtpositionen zurück – »Macht verdirbt«, so ihre Überzeugung. Michel wurde nach der Commune gemeinsam mit tausenden anderen nach Neukaledonien verbannt. Auf der viermonatigen Schiffsreise dorthin teilte sie ihrer Genossin Nathalie Lemel »zwischen zwei Wetterfronten« ihre Einsicht mit, »dass, welcher Mensch auch immer an die Macht käme, er niemals etwas anderes tun könnte, als Verbrechen zu begehen, wenn er schwach oder ein Egoist wäre, oder vernichtet zu werden, wenn er aufopfernd und energisch handelte«, weshalb sie zur Anarchistin wurde.
        Für die zeitgenössischen Leser*innen sind die langen Zitate, die Michel immer wieder bringt, und das Atemlose ihrer Schilderungen zeitweise etwas mühsam und nicht immer erhellend. Obwohl Michel das Buch, wie bereits erwähnt, über zwei Jahrzehnte nach den Ereignissen verfasst hat, vermittelt es den Eindruck, als würde sie immer noch mitten im Geschehen stecken. Als Leser*innen hatte sie natürlich ihre Zeitgenoss*innen vor Augen und nicht solche des 21. Jahrhunderts, deswegen fehlt einem gelegentlich sowohl eine Erklärung oder Einordnung von Ereignissen als auch eine Schilderung von Alltäglichkeiten, um sich ein besseres Bild von Situationen machen zu können. Unzweifelhaft ist das Buch ein wichtiger Beitrag über die Pariser Commune.
        An Eva Gebers biografischem Roman ist Michels Zeit der Verbannung in Neukaledonien am beeindruckendsten. Michel erweist sich hier als unglaublich interessierte, weltoffene, singuläre Persönlichkeit. Sie ergeht sich nicht in Trauer und Verzweiflung ob ihrer Isolation tausende Seemeilen von Paris und damit auch von ihrer ihr sehr nahestehenden Mutter entfernt, sondern nimmt alles für sie Neue begeistert auf. Sie lernt die Sprache und Kultur der einheimischen Kanak, befreundet sich mit ihnen, fertigt Übersetzungen an, interessiert sich für Flora und Fauna und ist eine der ganz wenigen Verbannten, die den Aufstand der Kanak gegen die französischen Kolonialherren unterstützen. Regelmäßig berichtet sie in Briefen und Zeitschriftenartikeln über diese Zeit. Als eines Tages Aufständische aus Algerien auf Neukaledonien ankommen, wohin sie von Frankreich verbannt wurden, freundet sie sich auch mit ihnen an und wird zu einer Unterstützerin ihrer Kämpfe gegen den französischen Kolonialismus. Dass sich diese später an der Niederschlagung des Aufstands der Kanak durch die französische Kolonialmacht beteiligt haben, wusste sie offenbar nicht oder hat es verdrängt. Jedenfalls ist kein Wort darüber zu lesen.
        Nach sieben Jahren zurück in Frankreich beginnt Michel sofort wieder mit ihrer politischen Agitationstätigkeit, wofür sie immer wieder im Gefängnis landete. Sie tritt bei zahlreichen Veranstaltungen vor tausenden Menschen auf, tauscht sich mit anderen Revolutionär*innen aus, schreibt viel, macht Vortragsreisen durch Frankreich und andere Länder, beteiligt sich an Demonstrationen und Protesten. 1904 löst sie endlich ein Versprechen ein, das sie den algerischen Aufständischen auf Neukaledonien gegeben hat und unternimmt eine Vortragsreise durch Algerien. Sie bedauert, dass die Pariser Commune kein Zeichen der Solidarität mit den aufständischen Algeriern gesetzt hatte und engagiert sich nun umso mehr für den Antikolonialismus. Ein Jahr später, 1905, stirbt Louise Michel in Marseille. An ihrem Begräbnis nahmen 120.000 Menschen teil.
        Louise Michel ist zwar die mit Abstand bekannteste Kommunardin, aber bei weitem nicht die einzige. Wer beispielsweise mehr über Paule Mink, André Leo und Elisabeth Dmitrieff und andere Frauen in der Commune erfahren will, ist mit Carolyne J. Eichners Buch Surmounting the Barricades – Women in the Paris Commune bestens bedient. Ausführlich erfährt man darin über die von Elisabeth Dmitrieff gegründete Union de femmes oder über die Frauenklubs und ihren radikalen Anti-Klerikalismus. Es wird auch klar, dass es durchaus unterschiedliche Positionen gegeben hat. So war Hubertine Auclert eine eher einsame Kämpferin für politische Rechte für Frauen, wohingegen viele andere weitaus stärker für das Recht auf Arbeit und ein selbstbestimmtes Leben eintraten. Die Forderung nach dem Wahlrecht für Frauen war in der Commune im Unterschied zu früheren Aufständen eher marginal vertreten. Die Voraussetzung dafür, dass all diese Aktivitäten möglich wurden, war, wie Eichner schreibt, die Commune: »The rise of the Commune opened a field of opportunity, both real and imagined, for the reshaping of hierarchies and power relations, and for the potential cessation of privilege and oppression.« Vive la Commune!


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