Mapping London
Besprechung von »Mapping London. Making Sense of the City« von Simon FoxellKarten dienen als Orientierungsversuche, als Optionen auf Ordnung. Sie sind Mittel der Vereinfachung, des spezialisierten Zugriffs und der historischen Festschreibung. Der Vorteil der Karte als Medium liegt dabei klar auf der Hand: Eine Vielzahl komplexer Informationen kann möglichst übersichtlich, rezeptionsfreundlich zusammengefasst und strukturiert dargestellt werden. Stadtpläne und Straßenkarten, die mit zu den ältesten Kartentypen zählen, stellen dahingehend keine Ausnahme dar. Sie wurden und werden als Hilfsmittel der Kategorisierung benutzt, die der Einschätzung und Präzisierung verpflichtet sind.
Historisch entwickelten sich diese Medientypen über schematische Darstellungen, Aufrisszeichnungen und perspektivische Versuche schließlich hin zu echten Grundrissdarstellungen. In dieser Abfolge spiegelt sich auch der seit Jahrhunderten andauernde Versuch der Kartographen, der Stadt – im Fall der vorliegenden Publikation: London – und ihrem Wachstum eine nachvollziehbare Form zu geben, ihr Sinn und Planbarkeit nachzuweisen, ja vielleicht sogar retrospektiv überzustülpen. Simon Foxells bemerkenswertes Buch Mapping London: Making Sense of the City lässt uns nichts von den zuvor erwähnten Elementen vergessen, wenn er anhand der historischen und aktuellen Karten Londons das Wachstum, die chaotische Eigenwilligkeit und das ungeplante, unplanbare Eigenleben dieser Millionenmetropole auf gänzlich neue Weise nacherzählt. Sein Vorhaben ist es, die Kartographen als Entdecker zu verstehen und begreifbar zu machen. Mittels ihrer Ansätze wird es möglich, ihre Geschichten ebenso zu erzählen wie die Historie der jeweiligen Karte.
Der thematische Zugriff, der Prozess der Fertigung, die Betonungen und Vereinfachungen lassen Rückschlüsse auf Beweggründe, Vorgehensweisen und Rahmenbedingungen zu. All dies wird für die Leserschaft auch als Teil der Geschichtlichkeit der jeweiligen Quelle – hier eben der Karten – verständlich, ist doch jede Quell-e der Historizität unterworfen und somit Teil eines größeren Diskurses, eines historischen Kontextes und Gesamtbildes. Die hier versammelten Karten Londons, die als historische Quellen schon von größtem Wert sind, werden so als Belege für Imaginationen, Entwürfe und Visionen entschlüsselbar: „[K]nowledge is there, even if understanding has to be unearthed. Any map potentially includes all human knowledge and much that is potent but has yet to be understood. The map, as a scaled replica of the entire city, presents a choice to its maker: not what to include, but rather, what to exclude. The mapmaker, like a sculptor, must chip away at the raw block of material that is the city to reveal the shape and representation hidden inside. Over the centuries, that raw block has revealed the most astounding shapes and interpretations under the hands of some of the most talented, imaginative and creative individuals. Carving away, they have re-vealed a London that we didn’t know existed or that we needed to find.“
Foxells Aufarbeitung und Darstellung ist auch geschichtswissenschaftlich zu sehen: In seiner Publikation bietet der Architekt keine kontinuierliche, glatte Geschichte, sondern vielmehr eine von Frakturen und (Karten)Falten durchzogene Historie. Mit der Geschichte der Stadt London wird anhand des Exempels auch die Entwicklung der Kartographie miterzählt. Die Darstellung der Veränderung des Blicks (und des Angeblickten) macht deutlich, dass Kartographie eben nicht nur geographische Aufgabe und partielle Repräsentation ist, sondern auch Teil der Soziologie, Architektur, Medizin, Militärwissenschaft – und immer auch der Politik.
Der Band zerfällt in vier sinnvoll miteinander verknüpfte Hauptabschnitte, in denen das präsentierte Kartenmateria-l erläutert und kontextualisiert wird: Im ersten Kapitel London: Change and Growth finden sich Versuche der städtischen Gesamtdarstellung, Belege über historische Entwicklungsschübe und Bauvorhaben, aber auch panoramagleiche Ansichten voller Lebendigkeit oder für den Medientypus revolutionäres/legendäres demographisches Material: „People and populations had been invisible on maps of the city since the very early maps of the sixteenth century. Now, their presence would be felt through the use of colour-coding and elaborate figures. In 1891 Bartholomew produced a map of the southeast of England, in which he presented densities as contours that were colour-coded in between. The interpretation of statistic information on maps – in the guise of landscape relief – would prove to be one of the most fruitful and enduring metaphors for social cartographers and enable them to visualise numerical data as three-dimensional shapes and patterns.”
Das Folgekapitel Serving the City beinhaltet neben polizeidienstlichen und militärischen Detailkarten auch Klassiker des Transportwesens wie Henry Becks weltbekannten U-Bahn-Plan von 1933 und die darauf basierende Überarbeitung von Maxwell Roberts aus dem Jahr 2005. Abgerundet wird dieser Abschnitt durch Material zu nicht realisierten Vorhaben, die den Entwurfscharakter städtischer Zukunft spürbar machen.
Näher an der gelebten Wirklichkeit ist die im Abschnitt Living in the City zusammengeführte Auswahl: Hier erlauben die Karten einen Blick auf Arbeitsbedingungen, Immobilienpreise oder auch touristische Anforderungen. Das Schlusskapitel Imagining London rundet den Band mit Beispielen künstlerisch-kreativer Auseinandersetzung – von der Monopoly-Karte bis zum Scotland-Yard-Spielplan, von Simon Pattersons The Great Bear (1992) zu Layla Curtis’ London Index Drawing (2003) – mit der Hauptstadt ab und verweist erneut auf die Vielzahl der Perspektiven und Herangehensweisen: „[P]owerful visions are more than pragmatic planning suggestions and the necessary process of improving London’s street patterns and infrastructure. Visionary plans are both utopian and dystopian […].“ Simon Foxells Buch, das besagte Widersprüchlichkeiten keineswegs unterschlägt, ist das bemerkenswerte und ansehnliche Ergebnis seriöser Recherche, das nicht allein durch seine facettenreichen Bildquellen sondern auch durch die begleitenden Texte überzeugt.
Thomas Ballhausen, Autor, Film- und Literaturwissenschaftler, ist Mitarbeiter der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur im Literaturhaus Wien / Leitung der Pressedokumentation.