MicroPublicPlaces
1. Im Namen der Öffentlichkeit
Arendts Polis
Hannah Arendt hat sich in ihrem Buch Vita activa ausführlich mit Problemen der Öffentlichkeit befasst. Ihr Ausgangspunkt war die antike griechische Stadt – die Polis, wo jeder Bürger auf zwei Weisen mit der Welt konfrontiert wurde. Da gab es den privaten Haushalt, der wie eine Lichtung im Walde durch harte Arbeit der Welt abgerungen werden musste. Nur dem Hausherrn war es gestattet, diese Haushalts-Lichtung zu verlassen, um in die Öffentlichkeit zu treten und hier einer politischen Tätigkeit nachzugehen, die Arendt mit Handeln bezeichnet. Die Grundbedingung dieser Tätigkeit »ist das Faktum der Pluralität, nämlich die Tatsache, dass nicht ein Mensch, sondern viele Menschen auf der Erde leben.« (Arendt 2002, S. 17). Mensch-Sein bedeutet für Arendt in erster Linie ein Sein unter Menschen. Beim Handeln geht es um die Erschaffung einer Welt, die »zwischen denen liegt, deren gemeinsamer Wohnort sie ist, und zwar in dem gleichen Sinne, in dem etwa ein Tisch zwischen denen steht, die um ihn herum sitzen; wie jedes Zwischen verbindet und trennt die Welt diejenigen, denen sie jeweils gemeinsam ist.« Ohne den Tisch in der Mitte würde sich »Weltlosigkeit« zwischen den Menschen ausbreiten. Diese wären dann zwar durch nichts getrennt voneinander, »aber auch durch nichts Greifbares mehr verbunden«. (Arendt 2002, S. 66) Die Tragödie der Moderne besteht für Arendt darin, dass der Tisch aus der Mitte verschwunden ist. Wir haben uns daran gewöhnt, Öffentlichkeit im Singular nur noch als eine gefährliche Homogenisierung zu betrachten (Whiting 2008, S. 190). Unser Verständnis von Öffentlichkeit ist geprägt von einer Vielzahl öffentlicher Räume, die nebeneinander existieren. Jede Minorität hat Anspruch auf Auftritte in ihrer Öffentlichkeit. Paolo Virno spricht von einem »Öffentlichsein ohne Öffentlichkeit« (Virno 2004). Fanatische Gleichgültigkeit zwischen den Teilöffentlichkeiten prägt das Sein unter Menschen. Etwas fehlt. Etwas, das das bunte Treiben der Teilöffentlichkeiten zusammenhält. Etwas, das alle Differenzen vereint und macht, dass Spannungen die menschliche Gesellschaft nicht auseinanderreißen, sondern sie vielmehr wie in einer Tensegrity-Struktur zusammenhalten. Es wäre jedoch falsch anzunehmen, dass sich der öffentliche Bereich automatisch an einem Ort ausbreitet, der allgemein zugänglich ist und wo private Interessen ausgeschlossen sind. Damit Öffentlichkeit entsteht, muss ein öffentlicher Bereich eingerichtet werden. Es braucht etwas Greifbares, so etwas wie einen Tisch, um den herum man sich versammeln kann. Und der Tisch müsste mit Dingen gedeckt sein, die alle etwas angehen, jedoch umstritten sind, weil jeder sie aus seiner eigenen Perspektive betrachtet.
Latours Ding
Die Dinge, die alle etwas angehen, sind bereits da – mehr oder weniger offenkundig, mehr oder weniger brisant. Sie klopfen überall an und verlangen, adäquat berücksichtigt zu werden. Die täglichen Nachrichten sind voll davon. Ob es sich dabei nun um den Bau eines Atomkraftwerks, das Bauverbot für Minarette, das Schmelzen der Gletscher, den Stromausfall in einer Stadt, die Bevölkerungswanderungen handelt – jede dieser Meldungen könnte eine Entwicklung ankündigen, die die Welt völlig verändern wird. Es handelt sich um Dinge, die ein Publikum um sich versammeln: öffentliche Dinge – lateinisch: res publicae –, auf welche die Definition von Martin Heidegger zutrifft: »Res publica heißt nicht: der Staat, sondern das, was jeden angeht, was jeden im Volk offenkundig angeht und darum öffentlich verhandelt wird.« (Heidegger 2000, S. 176). Bevor man mit dem Wort »Ding«, so Heidegger weiter, einen Gegenstand bezeichnet habe, wurde damit eine Angelegenheit, ein Streitfall, aber auch die Versammlung zur Behandlung einer Angelegenheit bezeichnet. Genau dieses Vermögen der Dinge zu versammeln jedoch ist es, was er an den modernen technischen Objekten so sehr vermisste. Demgegenüber stellt Bruno Latour die Frage, warum man Heideggers Respekt vor den Dingen nicht auch auf technische Objekte übertragen sollte. Selbst eine ganz gewöhnliche Cola-Büchse sei auf vielfältige Weise in menschliche Angelegenheiten verwickelt (Latour 2004, S. 233). Man brauche nur etwas genauer hinzuschauen, um zu erkennen, dass technische Objekte in Wirklichkeit eigentlich Dinge im ursprünglichen Sinne des Wortes sind. So gesehen sind wir heute mehr durch Dinge – einschließlich der Unfälle, die sie verursachen – verbunden als durch Verwandtschaften, Werte oder nationale Identitäten. (Latour 2005a, S. 11) Die Dinge, die alle etwas angehen, sind also bereits im Überfluss vorhanden. Doch ohne einen Plan, wie das »Gebäude des öffentlichen Lebens« (Latour 2001, S. 232) damit errichtet werden soll, sind sie für die Öffentlichkeit bedeutungslos. Um ihr inhärentes Öffentlich-Sein explizit zu machen, schlägt Latour eine »Dingpolitik« vor (Latour 2005b). Die Dinge verlangen nach andern Formen der Repräsentation, um ihre Rolle als Wiege des Gemeinsinns wahrnehmen zu können. Demokratische Institutionen sind in erster Linie dazu gedacht, die Interessen einer gated community – des Volkes – wahrzunehmen. Im Gegensatz dazu zählt eine Stimme in der Öffentlichkeit wegen ihrer Relevanz, die sie für eine bestimmte Angelegenheit hat. Sehr wohl möglich, dass einem Wassertropfen mehr Gewicht zukommt als der Meinung der Mehrheit. Die Dinge verlangen nach neuen Formen der Repräsentation. Schwer vorstellbar, wie sich diese Dingpolitik in demokratischen Parlamenten oder Forschungslaboratorien umsetzen lässt. De facto wird hier die Anzahl der Repräsentanten der Effizienz so klein wie möglich gehalten. Bei der Auswahl spielen zudem die herrschenden Interessen eine weit wichtigere Rolle als Relevanz. Eine Möglichkeit, die repräsentativen Ansprüche der Öffentlichkeit zu lösen, ist, den öffentlichen Bereich neu zu konzipieren. Man stelle sich öffentliche Institutionen vor als Thingstätten oder Orte der direkten Demokratie, die in eine globalisierte Welt versetzt worden sind. Sie definieren neu, was eine Schule, ein Gefängnis, ein Kunstmuseum oder ein Spital ist. Sie werden zu Orten, wo öffentliche Güter wie Erziehung, Sicherheit, Kultur, Umwelt, Gesundheit produziert statt bloß verwaltet und verteilt werden.
2. Infrastruktur der Zukunft
Daten und Software
Daten bilden den Grundstock der Informatik. Von Sensoren erzeugt, sind sie die digitale Repräsentation von Information. Sie fallen sequenziell an und sind daher nur dann durchsuchbar und nützlich, wenn sie nach definierten Regeln und Strukturen geordnet werden. Die allererste Intervention in den Datenfluss beginnt daher mit der Definition einer Datenstruktur. Erst dann kann ein Algorithmus, ein Prozedere zur Lösung eines definierten Problems, greifen. Datenstrukturen zusammen mit Algorithmen bilden, wie dies Niklaus Wirth (Wirth 1975) präzis formuliert hat, das eigentliche Programm. Kein Wunder also, dass Programme fragil sind – sie arbeiten stets nur mit jener Realität, die mit dem System und den vordefinierten Datenstrukturen verträglich ist. Und weil sie spezialisiert sind, braucht man immer mehr und immer neuere Programme. Diese stets wachsende Programm-Population hat einen eigenen Namen: Software. Software zeichnet sich durch etwas Besonderes aus: Sie hat ein dynamisches Potenzial in dem Sinne, dass sie für eine bestimmte Aufgabe erfunden wird, aber zugleich für andere Anwendungen erweitert werden kann. Die Anwendung Twitter – Zeitgeist-Phänomen und Internetkloake zugleich – begann zum Beispiel als einfache Anwendung für SMS-Mitteilungen. Software kann eben skalieren. Ein Programm kann isoliert auf einem einzigen Rechner gedeihen oder auf unzähligen Rechnern global verteilt leben. Software eignet sich zur globalen Kommerzialisierung im gleichen Maße wie sie sich als digitaler Virenverteiler eignet. Software dient der Individualbenutzung ebenso wie der Kollektivbenutzung.
Netzwerke und Intelligenz
Programme erhalten eben eine ganz andere Dynamik, wenn sie im Verbund arbeiten. Man arbeitet bei sich zuhause vor dem Bildschirm, aber die Daten werden anderswo verarbeitet, und dieses Anderswo ist unbekannt. Man erfährt Informatik im Singular, aber dahinter und damit verbunden ist ein Netzwerk von unzähligen erwünschten und unerwünschten Geräten und Gästen. »The network is the computer«, wie John Gage als Erster feststellte. Das Netzwerk selbst besteht aus Signalverstärkern, Kabeln, Software, Protokollen und Servern. Im Gegensatz zu Wasser, Gas und Elektrizität können Daten einfacher bewegt werden. Deshalb lassen sich Engpässe in den Netzwerken einfacher als in den herkömmlichen Infrastrukturanlagen umgehen oder durch Erweiterung eliminieren. Die alte und die neue Infrastruktur sind aber eng miteinander verflochten. Millionen von Computern verschlucken immer mehr Elektrizität und machen den Bau von neuen Kraftwerken unumgänglich. Strom von Wasserkraftwerken wiederum wird durch Regeltechnik dorthin verfrachtet, wo er gebraucht wird. Wie sehr wir mittlerweile von diesem Infrastruktur-Gemisch abhängig geworden sind, merken wir erst, wenn sie fehlt – bei Stromunterbrüchen oder Server-Ausfällen. Jedermann erwartet heute, dass das Netzwerk der Netzwerke, das Internet, von überall und zu jeder Zeit greifbar ist. Zutritt zum System Internet bedeutet Zugang zu Software und Servern. Es bedeutet aber auch Besitz von Codes und Passwörtern. Überall entstehen neue Stadtmauern. Dennoch wird es nicht allzu lange dauern, bis die ganze Welt ans Netz gekoppelt ist. Was einst gemäß Marshall McLuhan zu einem einzigen großen globalen Dorf zusammenwachsen hätte sollen, wird nun mehr und mehr zu einem diskontinuierlichen Archipel von sicheren Inseln im alles umfassenden Netzwerk von Daten. Spätestens dann werden Daten zur Welt-Währung, und wer aus der Fülle dieser Daten Mehrwert kreiert, wird Kasse machen. In dieser Hinsicht ist die Zukunft ja bereits Gegenwart. Von zentraler Bedeutung ist hier die Frage, wie denn dieses informationstechnische Potenzial eingesetzt werden kann, um für öffentliche Angelegenheiten nützlich zu sein. In diesem Zusammenhang sind zwei Eigenschaften von besonderer Bedeutung. Erstens, die Fähigkeit adaptiv und lernfähig zu handeln, und zweitens die Fähigkeit, Informationen von ganz unterschiedlichen Quellen zu sammeln und zu vergleichen in einem Maße und mit einer Geschwindigkeit, die dem menschlichen Verstand entgeht. Diese beiden Kräfte bilden ein neues Potenzial, um Dinge zu erfahren und Zusammenhänge zu verstehen. Dadurch entsteht, kurz, eine neuartige Intelligenz. Anpassungsfähigkeit ist ein zentrales Anliegen der Informatik. Maschinelles Lernen (machine learning – ML) ist wie Künstliche Intelligenz (artificial intelligence – AI) bemüht, Computer so zu programmieren, dass sie sich intelligent verhalten, das heißt, eine Art von Lernfähigkeit aufweisen. Im Gegensatz zu AI ist ML nicht auf Symbollogik ausgerichtet, sondern auf Ereignisse in der Welt außerhalb des Computers. Datensätze von ML stammen oft aus ganz praktischen Bereichen, und heute werden ML-Prinzipien in der Sprachverarbeitung, Bildverarbeitung und für das Semantic Web mit erstaunlichem Erfolg eingesetzt. ML ist nach wie vor der menschlichen Lernfähigkeit weit unterlegen, trotzdem aber von Interesse, weil es – auch in der jetzigen unvollkommenen Form – Dingen mehr Bedeutung beimisst als Regeln. Bei ML werden Ähnlichkeiten und Abhängigkeiten in Datensätzen gefunden, ohne dass zuvor eine übergreifende Logik definiert wird (Mitchell 2009). Diese ergibt sich, wenn überhaupt, aus den Daten selbst. Dieser Ansatz ist für unser Anliegen vielversprechend, weil er die Absicht (des Designers) den Dingen unterordnet. Zudem impliziert der Ansatz eine andere Arbeitsteilung zwischen Computern und Menschen. Das Gerät wird mehr zum Vermittler und Mitarbeiter. Da ist eine neue Bescheidenheit am Werk, und eine neue Möglichkeit Dinge zu vertreten, die im Verborgenen leben. Kollektive Intelligenz (collective intelligence – CI) erlaubt es, viele und unterschiedliche Inputs (handle es sich dabei nun um Meinungen oder Messungen) zu kombinieren und daraus Einsichten zu gewinnen, die aus den isolierten Inputs nicht ersichtlich sind. CI ist dieser Tage aktuell, weil die Analyse des Verhaltens von Netz-Benutzern hilft, gezielt Werbung einzusetzen. CI-Systeme sind darüber hinaus wichtig, weil sie aufzeigen, wie sich aus unterschiedlichen Äußerungen und unverträglichen Meinungen – unter den richtigen Umständen – qualitativ neue Einsichten gewinnen lassen. Das ist aber nicht ganz so einfach. Weder ML noch CI liefern ohne weiteres Zutun eine Dynamik, die sie außerhalb ihrer Fachgebiete brauchbar macht. Sie müssen anders gedacht und entsprechend eingesetzt werden. Vergessen ist die Einsicht Sigfried Giedions, dass nicht alle Aspekte des Lebens automatisiert sein sollten (Giedion 1987, S.775/76). Information hat die Vollautomatisierung erfahren, digitale Dateien sind zum Standard geworden. Mittlerweile ist klar, dass man um eine aktive Gestaltung der Informationssphäre nicht herumkommt.
3. MPPs in Aktion
MicroPublicPlaces in the City
MicroPublicPlaces sind eine Antwort auf zwei starke globale Tendenzen – den Aufstieg der alles umfassenden Informationstechnologien und den gleichzeitigen Niedergang des öffentlichen Bereichs.
MicroPublicPlaces, Foto: Marc Böhlen und Hans FreiMicroPublicPlaces sind Teil eines städtebaulichen Gedankenexperiments. Was, wenn die Stadt von den Bedürfnissen der Öffentlichkeit aus gedacht wird? Wie kann der Niedergang der Öffentlichkeit aufgehalten werden? MicroPublicPlaces sind Tische im Sinne von Hannah Arendt. Man versammelt sich um sie, nicht weil man gleicher Meinung ist, vielmehr weil man sich für die gleiche Sache interessiert, jeder jedoch aus einer anderen Perspektive. Sie sind mit Dingen gedeckt, die alle etwas angehen und deshalb öffentlich gemacht werden müssen. MicroPublicPlaces sind klein, aber zahlreich, weit verstreut, aber vernetzt. Sie bringen mehr Asien und Afrika in die rationalen Strukturen westlicher Städte. Sie ergänzen die großen öffentlichen Institutionen, die schon lange in einer Krise stecken. Stell sie dir als Kraftwerke vor, in denen Öffentlichkeit hergestellt wird, und nicht bloß als Verteil- und Verwaltungszentren für öffentliche Güter. MicroPublicPlaces biegen Informationstechnologien für jene zurecht, denen sie dienen. Sie nutzen dabei Datensätze des Maschinellen Lernens (ML) und der Kollektiven Intelligenz (CI), um anpassungsfähige und alles-umschließende Beziehungen zwischen Menschen, der Gesellschaft und der Natur herzustellen. In einigen Fällen wird dadurch der Charakter von bestehenden öffentlichen Institutionen verändert. In anderen entstehen neue Typen öffentlicher Institutionen, indem Dinge öffentlich gemacht werden, die bisher eher im Hintergrund standen.
MicroPublicPlaces, Foto: Marc Böhlen und Hans Frei
Mögliche MicroPublicPlaces
Fünf Beispiele, wie MicroPublicPlaces funktionieren könnten:
Die MicroPublicSchool ist provisorisch in Containern untergebracht. Lernfähige Systeme werden hier eingesetzt, um Kinder individuell zu fördern. Zum Beispiel: Für einen Lehrer ist es schwierig, zehn Kindern mit unterschiedlichem kulturellen und intellektuellen Hintergrund gleichzeitig etwas beizubringen. Für den Computer ist dies viel einfacher. Nachahmung ist eine universelle Lernform, die Computer wie Menschen und Tieren eigen ist. Nur, ein Computer hat unendlich mehr Geduld und kann sich aufteilen. Er holt jedes Kind bei seinen Voraussetzungen ab und führt es über eine nicht im Voraus bestimmte Route zwischen Ähnlichkeiten und Differenzen hindurch zur richtigen Lösung. Solche computergestützten Imitations-Spiele werden für das Lernen von Tierlauten, sprachlichen Ausdrucksweisen und Zahlenbeziehungen benutzt. An die Stelle des Lehrers tritt ein Coach, der alle Zeit zur Verfügung hat, die Kinder zu motivieren und ihre Erfolge beim Lernen mit der Maschine in soziale und praktische Aktivitäten umzuwandeln.
MicroPublicSchool, Foto: Marc Böhlen und Hans Frei
Der MicroPublicZoo liegt in einem eingezäunten Gehege für Menschen, die andere Populationen beobachten. Er besteht aus mehreren Pavillons. Die Biosphäre der Halbkuppel ist auf die Bedürfnisse einer Ameisenkolonie eingestellt. Von Beobachtungsposten innerhalb der Kuppel aus kann man das Leben der Ameisen verfolgen und seine Beobachtungen auf der Datenbank des MPZ speichern. Im »Salon der Löwen« stehen große Bildschirme, auf denen in der Serengeti lebende Löwen zu sehen sind: Panorama-Ansichten, Zeitlupenaufnahmen und Close-ups. Videooperateure vor Ort steuern die Überwachungskameras. Meistens passiert nichts. Die Löwen dösen unter einem Busch. Doch plötzlich: Bam! Ein Rudel von Zebras rennt durchs Bild. Einige Besucher machen Entdeckungen, die den viel beschäftigten Wissenschaftlern entgangen sind. Wem das Warten zu langweilig ist, der kann die Datenbank des MPZ nach bestimmten Stichworten durchforsten: »Junge«, »Sex«, »Jagd« etc.
MicroPublicZoo, Foto: Marc Böhlen und Hans Frei
Die MPChapel ist ein Ort der Besinnung im Zeitalter nach Gott. Auf einem künstlichen Erdhügel ist eine große Betonschale eingebettet. Die Aufmerksamkeit des Besuchers wird nach oben gerichtet, während die irdische Welt rundherum nahezu ausgeblendet wird. Im Erdhügel befindet sich ein Observatorium mit einem Teleskop. Über ein Mobiltelefon, das in eine bestimmte Richtung gehalten wird, erhält man zusätzliche Informationen über das, was man sieht (den Namen der Sterne beispielsweise) sowie über das, was man mit bloßen Augen nicht sieht (die Mission von Satelliten, die gerade den entsprechenden Sektor des Himmels queren). Die Wahrnehmung des realen Raumes wird mit Informationsräumen gekoppelt. Solchermaßen mit dem großen Hier und dem langen Jetzt (Brian Eno) konfrontiert, stellen sich erste und letzte Fragen: Wie groß ist das Universum? Was bedeutet Leben? Wer bin ich?
MicroPublicChapel , Foto: Marc Böhlen und Hans Frei
Bisher war noch jede technische Erfindung, schreibt Paul Virilio, gleichbedeutend mit der Erfindung von entsprechenden Katastrophen. Die Informationstechnologien haben uns nun den Systemzusammenbruch gebracht. Meist trifft er uns völlig unerwartet, ohne irgendwelche Spuren auf der glatten Oberfläche der Geräte zu hinterlassen. Alles ist wie eingefroren. Das MPRC ist ein Institut für einen kreativen Umgang mit Systemzusammenbrüchen. Es umfasst eine Werkstatt, in der mit Zahnbürstchen, Schraubenzieher und viel Schlauheit die kaputten Geräte geflickt oder umfunktioniert werden. Daneben gibt es ein Aufnahmestudio, in dem jeder über seine eigenen Erfahrungen mit Systemzusammenbrüchen berichten kann. Im Archiv werden die persönlichen Geschichten gesammelt, geordnet und greifbar gemacht. Ein Animations-Programm auf dem Server-Speicher ist dazu geschaffen, aus den Erfahrungen mit unvorhersehbaren, aber unvermeidbaren Systemzusammenbrüchen eine »Kultur der Innovation« (Jan Chipchase) anzuregen.
MicroPublicRepairCenter, Foto: Marc Böhlen und Hans Frei
In der MicroPublicWaterTreatmentPlant (MPWTP) wird lokales Regenwasser gesammelt und durch Langsamsandfiltration gereinigt. Danach wird es in zusätzlichen Sandschichten mit mineralischen Spurenelementen angereichert. Das gereinigte und mineralisierte Wasser wird den Gästen der Wasser-Bar angeboten. Solange der Vorrat reicht, können auch eigene Kanister abgefüllt werden. Die Bar ist eine Kreuzung zwischen einer Starbucks-Filiale und einem Kommandoraum für Probleme der Wasserversorgung weltweit. Die Gläser und Flaschen sind RFID (radio-frequency identification)-markiert. Dies ermöglicht es, gezielt Informationen vom Server des MPWTP auf das Mobile phone herunterzuladen: Wo ist Wasser knapp? Wie steht es um den nachhaltigen Umgang mit Wasser? Welche Gewässer sind wie stark verschmutzt? Wo und von wem wird Wasser privatisiert? Was kostet »virtuelles Wasser«?
MicroPublicWaterTreatmentPlant, Foto: Marc Böhlen und Hans Frei
Es macht einen Unterschied, ob mobile Telefone oder RFID eingesetzt werden, um das private Leben angenehmer zu gestalten, oder dazu, dem öffentlichen Leben zu dienen. Mark Weissers Beobachtung, dass erfolgreiche Technologien in den Hintergrund verschwinden, weil wir uns daran gewöhnen, wird vor allem für das öffentliche Leben zum Fluch. Den Gewinn an Komfort zahlen wir mit Zinseszinsen in Form von Unübersichtlichkeit und Abhängigkeit. Genau dagegen treten die MPP an.
Hans Frei arbeitet als Architekt in Zürich. Von 1997 bis 2003 war er Professor für Architekturtheorie und Entwurf an der Universität Kassel.
Marc Böhlen ist Künstler-Ingenieur und arbeitet in Buffalo, Toronto und Zürich und unterrichtet am Department of Media Study der Universität Buffalo.
Arendt, Hannah (1958)(2002): Vita activa oder Vom tätigen Leben. München/Zürich: Piper.
Giedion, Sigfried (1948)(1987): Die Herrschaft der Mechanisierung. Frankfurt a.M.: Athenäum.
Heidegger, Martin (2000): Das Ding. In: ders.: Vorträge und Aufsätze. Band 7: Gesamtausgabe. Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann.
Latour, Bruno (2001): Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie. Frankfurt a. Main: Suhrkamp.
Latour, Bruno (2004): Why has critique run out of steam? From matters of fact to matters of concern. In: Critical inquiry. Winter 2004.
Latour, Bruno (2005a): Von der Realpolitik zur Dingpolitik. Berlin: Merve Verlag.
Latour, Bruno & Weibel, Peter (2005b): Making things public. Ausstellungskatalog. ZKM Karlsruhe: ZKM.
Mitchell, Tom (2009): Brains, Meaning and Corpus Statistics. GoogleTechTalks. Verfügbar unter: http://www.youtube.com/watch?v–QbTf2nE3Lbw (Stand: 2010-08-01).
Virno, Paolo (2004): Publicness of the intellect. Non-state public sphere and the multitude. In: ders.: A Grammar of the Multitude. Cambridge: MIT Press, Semiotext(e). Verfügbar unter: http://www.republicart.net/disc/publicum/virno02_en.htm (Stand: 2010-07-01).
Whiting, Sarah (2008): Going public. In: Ruby, Ilka and Andres (Hg.): Urban transformation. Berlin: Ruby Press.
Wirth, Niklaus (1975): Algorithms + Data Structures – Programs. Englewood Cliffs: Prentice Hall.