» Texte / Mit der Wohnungsfrage kommt die Bodenfrage

Anita Aigner

Anita Aigner ist Assistenzprofessorin an der TU Wien. Ihr Forschungsschwerpunkt ist Architektursoziologie.


Der Boden ist etwas, über das wir im Alltag nicht viel nachdenken. Wie die Luft oder das Wasser ist er einfach da. Einerseits. Andererseits gilt für ihn genau das Gegenteil: Er gehört (zumeist) eben nicht allen, wird von Einzelnen besessen und zunehmend als rein finanzieller Vermögenswert behandelt. Auch wenn uns das Besitzen, Veräußern und Kaufen von Grundstücken (und auch Wohnraum) völlig selbstverständlich erscheint, ist das Privateigentum an Grund und Boden keine Naturgegebenheit, sondern eine gesellschaftlich gemachte Sache. Dass an diesem menschengemachten Normalzustand etwas faul ist, er von sozialer Ungerechtigkeit durchzogen ist und zur Verstärkung sozialer Ungleichheit beiträgt, dämmert in der Regel erst dann, wenn rasant steigende Bodenpreise – vor allem in boomenden Städten und Ballungsräumen – die Versorgung mit bezahlbarem Wohnaum untergraben. Die Wohnungsfrage ist also unweigerlich mit der Bodenfrage verknüpft.
        Zusehends wird Bodenpolitik als Dreh- und Angelpunkt einer sozial gerechten und nachhaltigen Stadtentwicklung gesehen. Eine unüberhörbare Stimme im gegenwärtigen bodenpolitischen Diskurs stellt die des früheren SPD-Chefs Hans-Jochen Vogel dar. Enerviert von der »unheilvollen Entwicklung« seiner Heimatstadt München, wo sich die Bodenpreise für Wohnungsneubau in den letzten zehn Jahren verdreifacht haben, hat der Altpolitiker mit stolzen 94 Jahren noch ein politisches Vermächtnis verfasst. Ein Buch, in dem der ehemalige Oberbürgermeister von München (1960– 1972) und Bundesminister für Bauwesen, Raumordnung und Städtebau (1972–1974) seinen in den 1960er- und 1970er-Jahren geführten Kampf für eine gerechtere Bodenordnung noch einmal aufgreift. »Mehr Gerechtigkeit!« fordert er im Titel und lässt keinen Zweifel daran, dass ein Mangel derselben das zentrale Problem beim Gebrauch der Ressource Boden geblieben ist.
        Eine »grobe Ungerechtigkeit« sei bis heute, dass private Eigentümer für eine durch kommunale Planung verursachte Wertminderung entschädigt werden (müssen), während sie die Gewinne aus der Wertsteigerung durch Umwidmung behalten dürfen. Der Sozialisierung von Entschädigungszahlungen steht also die Privatisierung der Gewinne gegenüber. Vogel spricht treffend von »leistungslosem Bodengewinn«, wenn öffentliche Bodenwidmung und kommunale Infrastruktur den Wert der Grundstücke steigern. Doch nicht nur, dass einige Grundeigentümer unverdient (weil ohne eigenes Zutun) reich bzw. noch reicher werden. Die steigenden Bodenpreise schlagen auch auf die Mieten durch – und wirken sich so vor allem negativ auf die Besitzlosen und sozial Schwächeren aus. Der gute alte (wenn auch vom theologischen Standpunkt seit jeher falsch verstandene) Matthäus-Effekt: Wer hat, dem wird gegeben; wer nicht hat, dem wird genommen.
        Der Boden als Ungleichheitsverstärker – das war den SozialdemokratInnen im fordistischen Nachkriegsdeutschland (noch) ein Dorn im Auge. 1959 verabschiedete die SPD das sogenannte Godesberger Programm, in dem klar gefordert wurde: »Die Bodenspekulation ist zu unterbinden.« »Ungerechtfertigte Gewinne sind aus Bodenverkäufen abzuschöpfen.« Auch im sogenannten Münchner Appell wurde 1972 der Ruf nach einer sozial gerechteren Bodenordnung laut. Zur Beseitigung der »durch Spekulation und Privilegierung des Bodeneigentums hervorgerufenen Missstände auf dem Bodenmarkt« wurde neben einer Ausweitung des kommunalen Vorkaufsrechts und der Beschleunigung von Enteignungsverfahren vor allem die Einführung einer Bodengewinnsteuer und eines Planwertausgleichs gefordert.
        Doch Vogel erzählt nicht nur die Ge- schichte des Abwürgens letztgenannter Vorschläge in der politischen Alltagsmühle, sondern auch die Geschichte des Verschwindens bodenpolitischer Forderungen in den Reihen der eigenen Partei. »Im Hamburger Grundsatzprogramm von 2007 ist schließlich von Grund und Boden überhaupt keine Rede mehr.« So ist die politische Rückeroberung des Bodens als ein primär dem Gemeinwohl dienendes Gut bis heute ein utopisches, weitgehend erfolgloses Projekt geblieben. Dies obwohl Artikel 14 des Deutschen Grundgesetzes gerade beim Gemeinwohl ansetzt: »Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.« Eine Formel, deren praktische Hohlheit übrigens den Plakatkünstler Klaus Staeck im Jahr 1973 zu einer satirischen Neufassung – »Eigentum verpflichtet zur Ausbeutung« – veranlasst hat.
        Auch wenn Vogel selbstkritisch einräumt, dass er selbst nach 1977 immer mehr die Lust am Thema verlor, so hat er sich – nicht zuletzt ermuntert durch eine Gruppe wohnungspolitischer AkteurInnen um die Münchner Initiative für ein soziales Bodenrecht, allen voran Christian Stupka, einer der engagiertesten Vordenker der Münchner Genossenschaftsszene – doch noch einmal für den Boden als öffentliches Gut stark gemacht. Was ihn antreibt ist die ungebremste Preisdynamik von Bauland und der Ärger darüber, dass der Anstieg der Bodenpreise kaum thematisiert wird, wenn über den Mangel an bezahlbarem Wohnraum geklagt wird. So wenig die Bodenfrage in der politischen Debatte Deutschlands in den letzten Jahrzehnten präsent war, so drängend ist sie für den SPD-Grandseigneur: »Wir brauchen eine neue Bodenordnung – nur dann wird auch Wohnen wieder bezahlbar«, lautet auch der Untertitel seines Buchs.
        Die Notwendigkeit einer staatlichen Regulierung der Bodenpreise untermauert er mit Zahlen aus seiner Heimatstadt. Entfielen in München im Jahr 1950 von den Gesamtkosten eines Wohnungsbaus 1,42 Prozent auf die Grundstückskosten, so lag der Baulandkostenanteil im Jahr 2018 bei 79,15 Prozent. Damit sind also längst nicht mehr die Baukosten, sondern die Grundstückskosten der entscheidende Faktor für die Berechnung der Miete. Insgesamt sind die Bodenpreise in der bayrischen Landeshauptstadt seit 1950 um unglaubliche 39.390 Prozent gestiegen, während sich der Verbraucherpreisindex im gleichen Zeitraum um 412,5 Prozent erhöht hat. Das sind spektakuläre Zahlen und man wundert sich, wie diese gigantische Steigerung der Baulandpreise und ihre negativen Effekte (starker Anstieg der Miet- und Kaufpreise; Verdrängung von Niedrig- und NormalverdienerInnen aus zentralen städtischen Lagen) auf Regierungsebene so zögerlich und mit so zahnlosen Instrumenten (wie der Mietpreis- bremse) behandelt werden.
        Vogel steht sicher nicht für eine vor Kreativität sprühende fundamental neue linke Wohnungspolitik. Doch angesichts der vom neoliberalen Paradigma durchwirkten Haltung der AkteurInnen in Politik und Verwaltung, die seit den 1990er-Jahren immer mehr zum Teil einer Immobilienverwertungskoalition (Andrej Holm) geworden sind, nimmt ein alter (wenn auch gemäßigt) linker Standpunkt visionäre Züge an. Vogel stellt zwar das Privateigentum an Grund und Boden nicht grundsätzlich in Frage, doch macht er unmissverständlich klar, auf welche »Grundeinsicht« er seine politischen Forderungen stützt: »Grund und Boden ist keine beliebige Ware, sondern eine Grundvoraussetzung menschlicher Existenz. Boden ist unvermehrbar und unverzichtbar. Er darf daher nicht dem unübersehbaren Spiel der Marktkräfte und dem Belieben des Einzelnen überlassen werden, sondern muss (...) in den Dienst der Interessen der Allgemeinheit gestellt werden.« »Kernziel« müsse daher sein, »Grund und Boden wegen seines besonderen Charakters«, vergleichbar mit Luft und Wasser, »so weit wie möglich aus dem Herrschaftsbereich des Marktes herauszulösen und den sozialen Regeln des Allgemeinwohls zu unterstellen.«
        Eine so klar formulierte Haltung zu Grund und Boden findet man bei PolitikerInnen heute selten. In einem Umfeld, in dem das Wissen um gemeinwohlorientierte Organisation von Boden und Wohnraum verloren gegangen ist (die Wohnungsgemeinnützigkeit wurde in Deutschland 1990 abgeschafft) und der neoliberale Mainstream zur Kreativ- und Alternativlosigkeit erzogen hat, mutet das politische Vermächtnis des Altpolitikers wie eine Frischzellenkur an. Und auch da, wo Vogel aus 50 Jahre altem Archivmaterial zitiert, wirkt das Alte oft frischer als das Neue. Als LeserIn ist man bisweilen frappiert über die Aktualität des Gesagten. »Um Wucher und Bodenspekulation zu bekämpfen, muss dem Boden seine privilegierte Funktion als Anlagegut mit risikoloser Gewinnchance endlich genommen werden.« Was sich anhört wie eine Reaktion auf die gegenwärtige Finanzialisierung städtischer Wohnungsmärkte, entstammt einer am 18. November 1970 gehaltenen Rede des Münchner Stadtrats Werner Veigel.
Da es bei Vogels Forderungen (Vermehrung des Gemeindeeigentums, keine profitorientierte Verwertung und kein Verkauf von öffentlichem Grundbesitz, Vergabe nur im Erbbaurecht, Abschöpfung leistungsloser Bodengewinne etc.) nicht um ein sozialistisches Experiment geht, sondern um eine demokratische Notwendigkeit, lässt er auch politische Gegner, etwa den langjährigen CDU-Chef (1950–1966) und ersten Bundeskanzler der Bundesrepublik (1949–1963) Konrad Adenauer zu Wort kommen: »Die bodenreformerischen Fragen sind nach meiner Überzeugung Fragen der höchsten Sittlichkeit. Es nützt Ihnen alles nichts [...], wenn Sie nicht das Übel an der Wurzel fassen.«
        Das Übel an der Wurzel fassen – wie das gehen könnte, zeigt heute vor allem die alternative Bau- und Genossenschaftsszene auf. Eine Reihe von aktuellen Publikationen beleuchtet die Frage, wie sich vor dem Hintergrund des zunehmenden Drucks von InvestorInnen alternative Formen des gemeinschaftlichen Zugangs zur Ressource Bo- den organisieren lassen. Schon das 2018 erschienene ARCH+-Heft 231: The Property IssueVon der Bodenfrage und neuen Gemeingütern, in dem Florian Hertweck übrigens auch Hans-Jochen Vogel zu Wort kommen lässt, bezeugt eine zunehmende Politisierung des Bodens innerhalb der ArchitektInnenschaft – und damit auch ein erfreuliches Erstarken einer Gegenposition zu VertreterInnen einer weiteren Marktliberalisierung (wie beispielsweise Patrik Schumacher). Man darf auch gespannt sein auf den von Hertweck herausgegebenen Band Architektur auf gemeinsamem Boden. Positionen und Modelle zur Bodenfrage, der im Mai 2020 bei Lars Müller Publishers er- scheinen soll. Dass im gemeinschaftlichen Gebrauch und Besitz von (v. a. städtischem) Boden die Schweizer die Nase vorne haben, wird einmal mehr mit Boden behaltenStadt gestalten (2019, Rüffer & Rub Verlag) unter Beweis gestellt. Ein Sammelband, der vor allem deutlich macht, wie wichtig eine informierte und engagierte Zivilgesellschaft für die Verwirklichung eines dekommodifizierten Umgangs mit Boden und Wohnraum ist. Mit welchen negativen sozialen und ökonomischen Konsequenzen eine weitere Privatisierung öffentlicher Flächen (privare: lat. berauben – also einer Beraubung von allen) einhergeht, kann in Brett Christophers Buch The New Enclosure. The Appropriation of Public Land in Neoliberal Britain (2018, Verso) nachgelesen werden.
        Vogel steht also mit seinem Schlaglicht auf die nicht vermehrbare und immer teurer werdende Ressource Boden nicht alleine da. Es mag schmeicheln, wenn er – neben der fortschrittlichen Schweiz (er beschäftigt sich v. a. mit der Basler Bodeninitiative) – immer wieder auch auf Wien als Vorbild rekurriert. Doch könnte Wien nicht auch etwas von Vogel lernen? Aber ja doch: die von Vogel geforderte Abschöpfung »leistungsloser Bodengewinne« und ihre Investition in kommunale Daseinsvorsorge wäre ebenso für Österreich wünschenswert; und so könnte auch die hiesige (wie überall in Europa unter WählerInnenschwund leidende) Sozialdemokratie vom Kramen in alten Aufsätzen und Gesetzesentwürfen profitieren, wie auch – und das ist uns Vogel schuldig geblieben – vom Stöbern in Dokumenten der frühen Genossenschafts- und Bodenreformbewegung. Auf gute alte Grundeinsichten gestützt, dürfte dann auch in Wien nicht mehr alles so rosig erscheinen. Grund und Boden, der uns allen gehört, wird nämlich auch hier nicht notwendig einer gemeinnützigen Verwertung zugeführt (denken wir nur an das Bauprojekt Triiiple auf der im Bundeseigentum befindlichen Fläche des ehemaligen Zollamtsgebäudes). Aber das ist eine andere Geschichte, auf die noch gesondert einzugehen sein wird.


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