» Texte / Neue Perspektiven auf Provinz, Peripherie und Urbanität

Gisela Mackenroth

hat Soziologie und Humangeographie studiert. Sie ist Lehrbeauftragte in München und Jena sowie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften der Universität Tübingen.


Ländliche Räume sind schon lange Gegenstand der Analyse globaler sozialer Ungleichheit. In einer gegenwärtig diskutierten sozial-ökologischen Transformation geraten sie mit Fragen von Ernährungs- oder Umweltgerechtigkeit verstärkt in den Blick, die sich in den Beziehungen von Stadt und Land oder Zentrum und Peripherie stellen. Jüngste Proteste wie jene der Gilet Jaunes in Frankreich oder der Landwirte in Deutschland suchen gezielt die Öffentlichkeit urbaner Zentren auf. In ihnen manifestieren sich Konflikte zwischen Stadt und Land. Aus der Perspektive urbaner Lebenswelten haben prominent Didier Eribon und Arlie Russel Hochschild kulturelle und politische Entfremdungsprozesse zwischen Stadt und Land in autobiografischer Selbstreflexion sozialwissenschaftlich erkundet.
        Die Kritische Geographie legt jetzt nach: In ihrem Sammelband Kritische Geographien ländlicher Entwicklung stellen die Herausgeber Michael Mießner und Matthias Naumann zunächst fest, dass eine Untersuchung ländlicher Entwicklungen eine Forschungslücke der auf die Stadt fokussierten Kritischen Geographie darstellt. Die Beiträge beleuchten daran anschließend, inwieweit die Kritische Stadtforschung methodische und theoretische Ansätze zur Analyse ländlicher Entwicklungen beitragen kann und welche Rückschlüsse sich damit auch für urbane Entwicklungen ziehen lassen. Zunächst geht es den AutorInnen in Form einiger Tiefenbohrungen darum, klassische Perspektiven der Stadtforschung – sozialer Wandel, konflikthafte Vergesellschaftung und Modernisierungsprozesse – auf den ländlichen Raum zu beziehen: Florian Dünckmann untersucht Raumbilder einer »ländlichen Idylle« auf ihre politische Funktion hin. Sowohl für progressive als auch für regressive Stoßrichtungen sind derlei Raumbilder anschlussfähig. Mit Hannah Arendt auf Dimensionen des Öffentlichen befragt, lässt sich – dies verdeutlicht Dünckmann an Beispielen – das vermeintlich private Idyll zum Bestandteil quasi-urbaner Auseinandersetzungen machen. Martina Neuburger wechselt die Perspektive. Aus der globalen Peripherie schaut sie auf globale Machtbeziehungen und lokale institutionelle Voraussetzungen. Neuburger beobachtet eine Verengung von Stadt-Land-Beziehungen, die Ausgangspunkt gesellschaftlicher Transformation sein könnten. Die von David Harvey in der Stadtforschung aufgeworfenen und durch urbane soziale Bewegungen aufgegriffenen Fragen räumlicher Gerechtigkeit stellen Marc Redepenning und Raphael Singer nun für den ländlichen Raum. Hierfür abstrahieren sie diese im Anschluss an Nancy Fraser zu Fragen von Umverteilung, Anerkennung und Repräsentation. Die AutorInnen finden so für den ländlichen Raum normative Ansatzpunkte, die fortlaufend politische und ökonomische Teilhabe einforderbar machen könnten. Paul Jutteau und Félix Authier richten den Blick auf Frankreich und entnehmen dem dortigen Forschungsstand, dass klassentheoretische Fragen nicht allein die Stadt, sondern gleichermaßen auch ländliche Räume be- treffen. Dort vorgefundene Produktionsverhältnisse sowie Formen sozialer Ungleichheit seien entsprechend gesamtgesellschaftlich zu verstehen.
        Die Kapitel orientieren sich bis hierhin an konkreten Vorarbeiten der Stadtforschung. Die nun folgenden Beiträge machen sich von diesem Kontext unabhängig, indem sie eine politische Geographie ländlicher Entwicklungen aus staatstheoretischer Perspektive erarbeiten und in anschließenden Schwerpunkten Mensch-Umwelt-Verhältnisse sowie Fragen politischer Teilhabe be- leuchten. Diskutiert werden insbesondere Fallstudien zum Globalen Süden. Die Beiträge beziehen sich einhellig auf Bob Jessop und Stuart Hall und untersuchen so Kräfteverhältnisse zwischen Stadt und Land sowie globalen und lokalen Entwicklungen in der (Re-)Produktion staatlicher Strukturen und Praktiken. Dieser kontextsensible Blick auf ländliche Entwicklungen ist begrifflich und empirisch auch zum Verständnis urbaner Entwicklungen hilfreich: Nadine Reis zeigt anhand der mexikanischen Landwirtschaft auf, dass sich unter den Vorzeichen eines finanzialisierten Kapitalismus Landwirtschaft und Industriearbeit nicht in urbane und rurale Raumproduktionen unterscheiden lassen. Dies bildet sich insbesondere in Urbanisierungsprozessen von Klein- und Mittelstädten ab. Auch Yvonne Francke wirbt für einen relationalen Blick auf urbane und rurale Entwicklungen am Beispiel historisch gewachsener ökonomischer und kultureller Beziehungen zwischen der argentinischen Pampa- Region und Buenos Aires.
        Der Beitrag von Andreas Kallert und Simon Dudek zeigt anhand von Widersprüchen eines sozialstaatlichen Rückzugs aus ländlichen Versorgungsstrukturen im Globalen Norden und einer aktivierenden Förderpolitik auf, was sich auch in der Stadt beobachten lässt: eine Verschärfung räumlicher Disparitäten als Folge staatlicher Austeritätspolitik. Dieser Rückzug ist für Stefan Haunstein lokale Bedingung bürgerschaftlichen Engagements in ländlichen Räumen. Er fragt, ob es unter diesen Voraussetzungen pragmatische oder politische Motive sind, die dortiges zivilgesellschaftliches Engagement antreiben. Gerade im lokalen Begründungszusammenhang vermutet Jens Reda das widerständige Potential gegenüber staatlicher Vereinnahmung.
        Hier stellt der Sammelband wichtige Fragen für humangeographische Beiträge zur Analyse zivilgesellschaftlicher Strukturen. Mit Blick auf die im Sammelband eingangs eröffneten Perspektiven auf Klasse, politische Teilhabe oder das Konfliktpotential von Raumbildern ließe sich die Debatte zu politischer Partizipation noch weiterführen. Der in den Beiträgen entwickelte relationale Ansatz zeigt bereits fundiert auf: Es gibt gemeinsame Problemlagen. Für Solidarisierungen zwischen urbanen und ländlichen Entwicklungen bestünden somit Grundlagen.


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