Pamphlet für die lebenswerte Stadt
Besprechung von »Die Unwirtlichkeit unserer Städte« von Alexander Mitscherlich20 Jahre ist es her, seit die Alliierten Deutschland vom Nationalsozialismus befreit haben, die zerbombten Städte sind mehr schlecht als recht wieder aufgebaut worden, die Primitivform eines funktionalistischen Städtebaus dominiert die Stadtplanung. Gebaut wird billig und trostlos. Die Kritik an der „Unwirtlichkeit“ der Städte, der Einfalls- und Rücksichtslosigkeit der Stadtplanung und ihrer Unterwerfung unter den motorisierten Individualverkehr, der unaufmerksamen und wenig durchdachten Architektur taucht in vielen Länder auf. Jane Jacobs’ 1963 auf Deutsch erschienenes Buch Tod und Leben großer amerikanischer Städte trifft auf hohes Interesse, der Terminus „Urbanität“ taucht erstmals in Diskussionen auf, Städtebau wird zum Thema, das nicht nur Fachleute interessiert. In Wien wird 1965 die Österreichische Gesellschaft für Architektur gegründet, die sich dezidiert auch an ein Laienpublikum wendet und Architektur als gesellschaftspolitisches Thema betrachtet, das alle betrifft.
In dieser Zeit beginnt auch der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich sich mit dem Thema zu beschäftigen. 1965 fasst er vier seiner Texte zu dem Buch Die Unwirtlichkeit unserer Städte zusammen, das zu einem unglaublichen Erfolg werden sollte. Es verkaufte sich rund 200.000 Mal und entfachte über etliche Jahre zahlreiche Diskussionen, die sich keineswegs auf Fachkreise beschränkten. Zum 100. Geburtstag von Alexander Mitscherlich hat Suhrkamp das Buch in einer Sonderausgabe, versehen mit Nachworten der Stadtsoziologin Marianne Rodenstein und des Architekturtheoretikers Nikolaus Hirsch, neu veröffentlicht.
Mitscherlich ordnet seinen Text der leider vernachlässigten Gattung des Pamphlets zu und verwendet Überschriften wie Anstiftung zum Unfrieden, die 1968 schon erahnen lassen. Der Text ist mit viel Herzblut und Engagement geschrieben, was wohl einen Grund des Erfolgs ausgemacht haben dürfte, aber auch mit Wissen und Gespür für im Entstehen begriffene Stimmungen. Im Zentrum des Pamphlets steht die Kritik an den „produzierten“ Städten, deren Hersteller keine Zeit darauf verschwenden, sich Gedanken darüber zu machen, welche Bedürfnisse die in der Stadt lebenden Menschen haben (werden). Mitscherlich hat ein ungebrochenes Verhältnis zu umfassender Planung. Kritik, wie sie zum Beispiel der im Buch zitierte Alfred Prokesch vorgebracht hat – es sei „eine geschichtliche Tatsache, daß es keine erfolgreiche Stadtplanung gibt oder je gegeben hat“ – entgegnet Mitscherlich, dass sich die Planung nicht nur auf Baumaßnahmen beschränken dürfe, sondern viel umfassender sein müsse. Hier möchte man entgegnen, dass es schon sehr toll wäre, würden die Baumaßnahmen gut funktionieren. Die Hoffnung Mitscherlichs, man könnte alle möglichen gesellschaftlichen Probleme durch kluge Planung vermeiden oder wenigstens vermindern, Mitscherlich erwähnt u. a. die Jugendgewalt, überschätzt die Möglichkeiten bei Weitem. An wen Mitscherlich denkt, wenn er eine Einbeziehung von ExpertInnen anderer Disziplinen in die Planung denkt, verschweigt er gar nicht: Es ist seine eigene Zunft, die der Psychoanalytiker, die das „kritische Bewusstsein“ repräsentieren. Dieses verschwindet nämlich, wie Mitscherlich diagnostizierte, gemeinsam mit der „Leidenschaft zur Gestaltung“ zusehends aus der Gesamtgesellschaft. „Der Zusammenhang mit der Stadtgestalt“ liegt dabei „offen zu Tage“: „Man pferche den Angestellten hinter den uniformierten Glasfassaden der Hochhäuser dann auch noch in die uniformierte Monotonie der Wohnblocks, und man hat einen Zustand geschaffen, der jede Planung für eine demokratische Freiheit illusorisch macht.“ Die Folge davon ist, dass die Menschen sich mit dem vorhandenen nicht nur zufrieden geben, sondern es schönreden. Die Gesellschaft passt sich ans „Elendsmilieu“ an.
Mitscherlich lehnt Großstädte nicht ab, ganz im Gegenteil kritisiert er deren KritikerInnen von denen es (in Deutschland) immer genügend gab und gibt. Er verfällt keinem Kulturpessimismus, sondern will dazu beitragen, die Zukunft der Städte menschlicher zu gestalten. Der Blick zurück fällt gelegentlich aber doch etwas verklärt aus, wenn er z. B. schreibt: „Städte sind bisher langsam gewachsen, in einem sehr intensiven Verständigungszusammenhang ihrer Bürger.“
Ganz zentral ist im Buch die Kritik an den Besitzverhältnissen an Grund und Boden, die speziell in der Wiederaufbauzeit die Stadtplanung stark einschränkte. Mitscherlich schließt sich der Forderung etlicher ArchitektInnen der Moderne an und tritt ganz vehement für die Möglichkeit der Enteignung ein, wenn damit der Allgemeinheit gedient werden kann. Er ist sich der Radikalität seiner Forderung – Stichworte: Kalter Krieg, Antikommunismus – bewusst, verteidigt sie dennoch scharf. Marianne Rodenstein weist in ihrem Nachwort darauf hin, dass Mitscherlich mit seiner Forderung nach der Möglichkeit einer Erbpacht, „bei der der Boden im Besitz der Stadt bleibt und die Nutzung für eine bestimmte Zeit Privaten überlassen wird“, jedoch gar nicht so revolutionär war, wie er vielleicht selbst glaubte. Sie schreibt, dass die Erbpacht in vielen Städten schon vor dem Ersten Weltkrieg verbreitet war.
Ein weiterer Aspekt, der Mitscherlich stark beschäftigte und der an mehreren Stellen des Buches auftaucht, widmet sich den beiden Polen Freiheit und Gemeinschaft. Er will Städte, die ihren BewohnerInnen beides bieten: Orte des community spirit (Mitscherlich vermeidet ganz bewusst den missbrauchten Gemeinschaftsbegriff), der Nachbarschaft, der Freundschaft ebenso wie Orte der Freiheit und Rückzugsräume. Der Rede von der Anonymität, die der Großstädter über alles schätzt, widerspricht Mitscherlich, der vielmehr meint, dass die Städter es verlernt hätten, zwischen „schrankenloser, zudringlicher Intimität“ und „vollkommener Interesselosigkeit“ einen Mittelweg zu finden.
Alexander Mitscherlich leitete das Sigmund-Freud-Institut, das sich auch mit „Städtebau und Sozialpsychologie“ beschäftigte. Er nahm vor allem nach dem Erfolg seines Buches städtebauliche Gutachten und Aufträge an, wie Nikolaus Hirsch schreibt. Beim Bundesdemonstrationsvorhaben Heidelberg-Emmertsgrund, einer Stadt für 12.000 Leute, in deren Planung er von Beginn an einbezogen war, musste Mitscherlich mit der Zeit aber schmerzlich feststellen, dass er doch nur als Galionsfigur missbraucht wurde und seine Ideen und Vorschläge in der Schublade landeten. Der persönliche Praxistest war nicht so erfolgreich wie die publizistische Tätigkeit, dennoch hat Mitscherlichs Pamphlet durch den großen Widerhall und das deutschlandweite Interesse, das sein Buch ausgelöst hat, wohl nicht nur im Denken, sondern auch in der Praxis viel verändert.
Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.