Panische Metropolis
Besprechung von »Panische Stadt« von Paul VirilioDie philosophische Arbeit Paul Virilios ist dem Dispositiv eskalierender Geschwindigkeit unterworfen, dem Aufarbeiten eines für Konsequenzen blinden Wettlaufs technischer Entwicklungen. Der Mensch, so eine Zwischenbilanz aus seinen zahlreichen Veröffentlichungen, ist in eine Abseitsposition geraten, aus der ihn nur eine umfassende, systemdurchdringende Kritik an technischer und insbesondere militärischer Intelligenz befreien kann. Virilios’ vorliegendes Buch, das an diese Haltung anschließt, trägt seinen Aufmerksamkeit erregenden Titel nicht zu Unrecht – beschreibt es doch nicht nur die allgemeine Panik der westlichen (Stadt)Gesellschaft nach 9/11, sondern wird auch selbst von ihr durchdrungen. Anders als die Panic Encyclopedia aus 1989 – die Arthur Kroker, Marilouise Kroker und David Cook besorgten – soll hier kein Wegweiser für die Zukunft, sondern eher ein Warnschild für die Gegenwart angeboten und am Beispiel der Hauptstadt, also der nach Virilio maximierten und immer schon inkohärenten und gefährdeten Stadt, ausgeführt werden.
Als Beispiel dient ihm dabei die Stadt Paris, als Weggefährten im Zitat Walter Benjamin, Victor Hugo, Henri Michaux, Ernst Jünger oder auch die Heilige Schrift. Virilios’ Ansinnen ist es, der Leserschaft „eine Vorstellung vom Umfang der Panik [zu geben], die […] auf uns zukommt“. Mit literarischer Intensität und stilistischer Gewandtheit widmet er sich dementsprechend der Identifizierung und Beschreibung innerer und äußerer Bedrohungen, die er immer wieder an das Überthema Stadt koppelt. So sieht er etwa eigenständig geschaffene, autonome Beziehungs- und Streckengeflechte des einzelnen Stadtbewohners durch technisch bedingte Verluste in der Orientierungsmöglichkeit bedroht; ein Umstand, der aufgrund der Aufwertung einer „inneren Sicherheit“, also der vom Autor als krankhaft-regressiv eingestuften Tendenz zur Privatisierung, zur Verschanzung und Einrichtung von gated communities, noch zusätzlich begünstigt wird. Damit benennt Virilio aber auch die Reaktion auf die für ihn wesentlichste von außen drohende Gefahr: den Terrorismus und die damit einhergehende Veränderung militärischer Konflikte. Auch hier scheint seine Argumentation, die vor allem auf der Verschiebung der Opferverhältnisse zwischen Soldaten und Zivilisten fußt, nicht wirklich neu, sondern eher einem neuen öffentlichen Bewusstsein geschuldet, das sich der weitgehenden Auflösung der Grenze zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten klar geworden ist. Als durchgängiges Referenzsystem dient Virilio hierfür richtigerweise das Militär und seine Terminologie; bei der nicht zuletzt auch deshalb weitgehend gelungenen Beschreibung des für ihn zentralen „Hyperterrorismus“, der einer Architektur der Vertikalisierung und der strategischen Ausrichtung auf den Luftraum entgegensteht, bleibt er dann aber leider doch eine wesentliche Erläuterung und Kontextualisierung des historisch davorliegenden „Hypoterrorismus“ schuldig.
Der aus dieser Bedrohung erwachsende hyperterroristische Anschlag als deutlichste und somit katastrophalste Ausprägungsform gilt Virilio dabei als Unfall, als „verkehrtes Wunder“, das eine in die „Ästhetik des Verschwindens“ eingebettete Rückkehr des Tragischen mit sich bringt. Er definiert hier den Unfall primär als potenzielles „Ereignis“, das immer schon in die ursprüngliche Struktur des betroffenen Objekts eingeschrieben wäre: Schiffe müssen folglich sinken, Türme einstürzen. Der bedrohliche Unfall ist für ihn ein „Anschlag auf die Anständigkeit der Substanz“, eine „Heimsuchung des Beispielhaften“ und somit gleichermaßen Form der Beschwörung und inhaltsschwerer Akt des Aufbegehrens gegen die Wirklichkeit selbst. An dieser Nahtstelle schließen für Virilio die Größenverschiebungen des Kriegs an: Von der „Masse“ über die „Energie“ habe man sich schließlich zur „Information“ weiterbewegt, der psychose-dominierte Info-War richtet sich gegen die Realität und bringe eine Rückkehr der „endemischen Kriege“ mit sich, also Zustände unausgesetzter Belagerung.
Den größeren Rahmen für die Vermittlung dieser Konfliktsituationen, die der Autor unter Rückgriff auf Giorgio Agambens Konzept des „Ausnahmezustands“ vollzieht, stellt die so genannte „Gefühlsdemokratie“ dar, also die Vereinnahmung der Medien in signifikant neuer bzw. erneuerter Weise. In diesem Abschnitt betreibt Virilio die gelungene Fortschreibung seiner Theorie der Beschleunigung anhand der Behandlung der in den Krieg eingebundenen Medien, bei der die analysierte Dynamik schließlich zur „Verunglückung“ einer faktischen und verbürgten Wahrheit führt. Mit der Darlegung eines medienbasierten Ersetzungsprozesses, bei der eine angebliche global-zivilisatorische Gemeinsamkeit jegliche tatsächliche Gemeinsamkeit ablöst, führt er diesen Ansatz weiter: Virilio sieht im Einsatz dieses „Arsenal[s] der ENTWIRKLICHUNG“ den Beginn einer vorsätzlichen Tilgung von Geschichte. Das Ziel ist dabei das Einrichten einer totalen Gegenwart und die Etablierung der „TYRANNEI DER ECHTZEIT“; statt der Dualität von „davor“ und „danach“ würde dabei dauerhaft der Imperativ des „während“ durchgesetzt werden. Mit dem Hyperterrorismus und der skizzierten, politisch gelenkten Parallelisierung von Massenmedien und Emotionen sieht Virilio aber nicht nur die Gefahr einer „Gleichschaltung der Standardisierung und Vereinheitlichung der öffentlichen Meinung“ gegeben; vielmehr diagnostiziert er auch eine umfassende Unterminierung der Kunstszene, die ihre moralischen und ästhetischen Werte zugunsten ihrer Vermarktbarkeit preisgegeben hätte. Dieser freiwillige Verlust auf ihr urbanes und kritisches Potenzial macht sie deshalb für ihn gar zum „Teil der TERRORISTISCHEN SZENE“.
Die Umstülpung bzw. Umkehrung einer „alten, imperialen Geopolitik“ unterstützt ebenfalls den schon erwähnten Ausnahmezustand, der für Virilio als Teilelement des „Unfalls der politischen Ökonomie“ erfassbar ist. So wie die euklidische Geographie seiner Annahme nach nicht mehr in der Lage ist, die neue Machtgeografie zu erfassen und zu beschreiben, setzt sich eine Tendenz eines Rückzugs in die Städte durch – hin zur „OMNIPOLIS“. In dieser „Phantomstadt, eine[r] METASTADT ohne Grenzen und Gesetz, Hauptstadt aller Hauptstädte in einer gespenstischen Welt“, manifestiert sich für ihn die grenz-überschreitende Metamorphose des Gesellschaftlichen, in der die Stadtpolitik die nationalstaatliche Geopolitik ablösen wird. Diese (neue) Metropolis ist für Virilio klar „die Zeitgenossin unserer Fortschrittsdesaster“, die von „panische[r] Kriminalität“ durchdrungen ist und in ihrer strukturellen Beschaffenheit auch die Abschaffung der Menschen befördern würde. Sie ist „[e]ine geschlossene, eine abgeschlossene Welt, in der wir alle OUTGESOURCT werden.“
Eine solchermaßen unternehmerisch-militärisch überformte (Stadt)Welt am Ende des Zeitalters politischer Revolutionen bringt, so der daran anschließende Gedanke, einen neuen Menschentypus hervor, den „Exterminator“. Dieser ist aber, anders als bei Virilios, Landsmann Enki Bilal, kein einsamer Vollstrecker, sondern das willige und gnadenlose Instrument eines vermeintlich guten Größeren: „Er ist weniger der Massenmörder eines suizidal gewendeten Terrorismus, nicht der lange Schatten der gefallenen Soldaten vergangener Kriege. Vielmehr stellt der Exterminator treuherzig alle nur erdenklichen Mittel, ob wirtschaftliche, technische oder wissenschaftliche, zur Verfügung, um einer abgeschlossenen Welt und ihrer Menschheit (inzwischen embedded) ein Ende zu bereiten. Dabei ist er zutiefst überzeugt, für den Fortschritt zu arbeiten, für eine bessere Welt…“ Von der Denkposition des Endes her greift Virilio als philosophische Gegenmaßnahme zu einem Bündel moralisch aufgeladener, phänomenologischer Erneuerungstaktiken, wie der Wiederaufwertung der physischen Realität und der Neubewertung des Urbanen als eigentliche Forderung einer Rückkehr zur „geophysischen Politik“. Gleichermaßen konservativ wie epistemologisch lückenhaft ist auch der Ausblick des Bandes geraten, in dem er, abseits eines Abgleichs mit tatsächlichen technischen Entwicklungen, einigermaßen unreflektiert gegen fortschreitende Tendenzen der Virtualisierung anschreibt und schließlich das Schreckensszenario eines posthumanistischen Zeitalters entwirft. Virilio spart in seinem Buch, dessen französische Originalausgabe bereits 2004 erschienen ist, nicht mit drastischen Formulierungen und Polemik. Trotz streckenweiser Aufgeregtheit gelingt ihm aber auch ein genaues Benennen wesentlicher Fragen und relevanter Problemfelder. „Panische Stadt“ ist deshalb ein streitbarer, doch zumindest lesenswerter Beitrag zu einer bis auf weiteres sicherlich unabgeschlossenen, aktuellen Diskussion.
Thomas Ballhausen, Autor, Film- und Literaturwissenschaftler, ist Mitarbeiter der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur im Literaturhaus Wien / Leitung der Pressedokumentation.