Peripherie?! Zentrum!
Besprechung von »Peripherie in der Stadt. Das Wiener Nordbahnviertel« von Evelyn Klein und Gustav GlaserDer Untertitel der von Evelyn Klein und Gustav Glaser verfassten Studie konkretisiert, was mit Peripherie in der Stadt gemeint ist. Die Einblicke, Erkundungen und Analysen des Nordbahnviertels rücken globale Entwicklungen ebenso wie den „Rest der Stadt“ an die Peripherie. Die Peripherie in der Stadt, das Wiener Nordbahnviertel, steht im Zentrum dieser community study, womit gleichermaßen auch die Bedeutung von Zentrum und Peripherie als soziale Konstrukte angesprochen wird. Soziale Konstitutionen von Stadtvierteln, Nachbarschaften oder communities sind ein zentrales Forschungsanliegen von community studies im Allgemeinen und jener des Nordbahnviertels im Besonderen. Im Kontext der community studies definieren sich communities weniger als baulich oder administrativ abgegrenzte Einheiten, sondern als Beziehungsgeflechte von alltäglichen Lebenspraktiken, deren Wahrnehmung und Bewältigung. Communities sind dabei keineswegs autarke Einheiten, sondern eingebettet in und verflochten mit übergeordneten räumlichen, sozialen und ökonomischen Strukturen und Prozessen. Dieser Analysekonzeption folgend fokussiert Peripherie in der Stadt auf die alltäglichen Lebenspraktiken der Menschen, die das Nordbahnviertel als community konstituieren. Die soziale Konstitution des Stadtviertels wird, der forschungslogischen Konzeption von community studies folgend, im Spannungsfeld von Raum, sozialen Strukturen und Kultur entwickelt. Die „vertikale“ Durchdringung politischer und ökonomischer Zyklen, wie jene der Stadtentwicklung, erfolgt sowohl im Sinne sozialer als auch räumlicher Hierarchieebenen – dem Viertel, der Straße, dem Haus bis zur Ebene des Individuums. In der Verknüpfung von Einzelschicksalen und Biographien mit individuellen und sozialen Bedeutungen übergeordneter Strukturen und Prozessen wird die community als Produkt sozialer Konstruktionen und Interpretationen sicht- und erlebbar.
Die gesellschaftliche Relevanz von community studies und so auch jener des Nordbahnviertels wird im Einleitungskapitel dargelegt. Es geht um soziale Konflikte, Konflikte zwischen Gruppen um „Positionierungen“ in der sozialen Hierarchie, um Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum, aber auch um kulturelle Konflikte, wenn Kultur als Identitätsbildung und Interpretation des Alltäglichen verstanden wird. Aus der Binnenperspektive des Nordbahnviertels erfolgt die Annäherung an zentrale Fragestellungen der Immigration und des sozialräumlichen Wandels. Soziale und individuelle Wahrnehmungen und Interpretationen werden in theoretische Erklärungsansätze und übergeordnete Prozesse integriert. In den Interpretationen des Alltäglichen werden verklärte Idealisierungen „früherer“ Verhältnisse von Bedeutung. An der Dekonstruktion dieser früheren Verhältnisse setzt die Chronologie der sozialen Konstruktion des Nordbahnviertels an. Der Strukturwandel im ökonomischen Zyklus der Industrialisierung führt nicht nur zum Werden Wiens als europäische Metropole, sondern bildet mit seinen spezifischen Anforderungen an städtische Strukturen die baulichen und sozialen Entstehungsbedingungen des Nordbahnviertels als community in der Stadt. Der Prozess des community buildings setzt mit der Zuwanderung und „Integration des Fremden“ – der Ausbildung des Viertels als urbaner Raum in der Gründerzeit – an und wird mit der jüdischen Zuwanderung fortgeführt. Im Unfassbaren der Auslöschung der jüdischen Gemeinde werden Wahrnehmung und Interpretation von Eigen- und Fremdbild akzentuiert – nicht verständlicher, aber in seiner ganzen Dimension erlebbarer und damit noch unfassbarer gemacht.
Die Nachkriegszeit wird mit dem Verschwinden der Bahnhöfe eingeleitet, was bleibt ist die Bezeichnung – Nordbahnviertel. Mit den geopolitischen Veränderungen wird die europäische Metropole Wien zur Peripherie. Als Peripherie in der Peripherie kann die community am Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit nur bedingt partizipieren. Der Weg in die Moderne führt am Nordbahnviertel vorbei in die Stadtrandgebiete, die sozialen Beziehungsgeflechte erodieren. Sozialer Aufstieg manifestiert sich durch Abwanderung aus dem Viertel. Aus der räumlichen und sozialen Isolation des Viertels wird eine persönliche. Das Stigma eines peripheren Viertels bleibt und wird akzentuiert. Der mit den Boomjahren der Moderne verbundene Zustrom an GastarbeiterInnen perpetuiert das periphere Image ebenso wie die Organisationsprinzipien der sozialen Konstruktion des Viertels. An den Alltags- und Lebenssituationen der ImmigrantInnen wird die integrative aber auch exkludierende Funktion sozialer Beziehungsgeflechte, die sich durch die räumliche Nähe der community definieren, erneut sichtbar gemacht. Die Ambivalenz der Wahrnehmungen und Identitäten der community als Chance, Nische oder soziale Degradation wird als Spannungsfeld in den öffentlichen Raum transferiert. Als Zentrum in der Peripherie manifestieren sich diese Konflikte am Marktplatz des Viertels als kulturelle. Mit der einsetzenden Gentrifizierung als Folge des sozialen und ökonomischen Wandels der Postmoderne wird im Beziehungsgeflecht mit politischen AkteurInnen und Institutionen die community uminterpretiert, neu erfunden und konstruiert. Das Nordbahnviertel wird baulich und infrastrukturell in die global city Wien integriert und neu – wiederentdeckt. Für die „Pioniere“ der sozialen Aufwertung, ebenso wie für die ImmigrantInnen der 2. und 3. Generation wird der Habitus des Viertels als community zum ambivalenten Bestandteil einer individualisierten urbanen Kultur als habitualisierte Lebensform.
Die idiographische Zugangsweise der community study analysiert die Komplexität der Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen des Nordbahnviertels. Häuser, Geschäfte, Plätze und Straßen werden als soziale, politische und ökonomische Notwendigkeit nachvollziehbar gemacht. Die stringente Konzeptionierung der community study als theoriegeleitete Reflexion des Idiographischen rechtfertigt den über den idiographischen Ansatz hinausgehenden Anspruch des Titels Peripherie in der Stadt. Als pars pro toto steht das Buch beispielgebend in der Reihe der community studies und mit ihm das Wiener Nordbahnviertel exemplarisch für die soziale Konstitution einer Peripherie in der Stadt.
Gerhard Hatz