Christoph Laimer

Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.

Kenan Güngör


Wien, Foto: Marcel Leitner
Wien, Foto: Marcel Leitner

Kenan Güngör arbeitet seit vielen Jahren im gesamten deutschsprachigen Raum als Experte für den Themenkomplex Zuwanderung, Integration und Diversität. Seit 2007 lebt er in Wien und ist auch für die Stadt Wien tätig. Im Interview mit Christoph Laimer spricht Güngör über seine Arbeit für Kommunen und Länder, seine Sicht auf die österreichischen Verhältnisse, Differentes und Gemeinsames sowie seine allgemein positive Einschätzung des Integrationsprozesses.

dérive: Herr Güngör, auf Ihrer Website ist zu lesen: „Das Arbeitsfeld von [difference:] liegt im Bereich der steuerungs- und hand­lungsorientierten Analyse, Beratung und Gestaltung von gesellschaftlichen Transformationsprozessen im Kontext von Gesellschaften, die zunehmend durch Zuwanderung, Integration und Diversität geprägt sind.“ Der Satz macht es mir nicht leicht, mir ein genaues Bild von Ihrer Arbeit zu machen. Sie sind seit 2007 auch für die Stadt Wien tätig; können Sie anhand dieses Beispiels erläutern, wie ihr Tätigkeitsbereich aussieht?

Kenan Güngör: Ich arbeite seit 2007 für die Stadt Wien, unser Büro betreut aber gleichzeitig viele weitere Projekte in ganz Öster­reich. Ich arbeite stark im Bereich von Integrations-Leitbildern und versuche während des Prozesses ein Commitment zu schaffen, das die wichtigsten Akteure zusammenbringt. Die Projekte laufen oft eineinhalb, zwei, manchmal auch drei Jahre, deswegen ist der Prozess wichtig; es soll nicht nur ein Abschlusspapier geben. Bewusstseins­bildung und Vernetzung der Akteure sind vorrangige Aspekte der Arbeit. Gegenwärtig arbeite ich am Integrationsleitbild für Vorarlberg.

Im Umgang mit der Programmatik sind wir noch in den Kinderschuhen, auch wenn man feststellen muss, dass in den letzten zehn Jahren in Österreich eine unheimlich starke Veränderung zu beobachten ist. Es gibt ein zunehmendes Zuständigkeitsbewusstsein der Städte und Bundesländer. Auf der Ebene der Kommunen, Bundesländer und interessanterweise auch der Organisationen wie z. B. der Industriellenvereinigung zeigt sich verstärkt ein pragmatischer Zugang, eine klare Sicht der Dinge, und es findet eine programmatische Ausdifferenzierung statt. Je höher die politische Ebene ist, desto symbolischer wird mit dem Thema umgegangen und desto weniger fundiert sind die Strukturen. Das ist eine Paradoxie, die wir in Österreich bemerken können. Es gibt andere Länder, in denen es genau umgekehrt ist – da kommt der pragmatische Zugang von oben und breitet sich dann langsam nach unten in die Regionen aus. Die Integrationsthematik hat in Österreich zwei Seiten: auf der einen Seite den lösungsorientierten Ansatz und auf der anderen Seite eine Hysterisierung. Wir arbeiten deswegen auch in der Politikberatung, wo es darum geht, wie Themen kommuniziert werden können, wie man einen Konsens schaffen kann. Meist sind wir dann in der Funktion, dass wir auf mehreren Ebenen gleichzeitig spielen müssen. Je ausdifferenzierter eine Gesellschaft ist, desto mehr leistet sie, sie wird aber gleichzeitig blind für das Gegenüber. Das Wichtige ist nun, Schnittstellen zu schaffen, die die Ebenen miteinander verbinden. Eine Aufgabe unseres Büros ist es, diese Übersetzungs­arbeit zu leisten.

Was Wien betrifft, habe ich die Aufgabe, die Frage, wie man Integrations- und Diversitätsstrategien entwickeln, kommunizieren und umsetzen kann, wissenschaftlich zu begleiten. Mein zentraler Fokus liegt in der Entwicklung von Diversitätsstrategien innerhalb der Verwaltung der Stadt Wien, die immerhin 64.000 Mitarbeiter hat. Systemisch muss ich davon ausgehen, dass dieses Thema kaum irgendwen interessiert. Wie schaffe ich es nun, das Thema für die Abläufe, Logiken und Verständnisse einer Organisation zu übersetzen? Da braucht es einen sehr guten Blick für die inneren Logiken einer Struktur, um den Punkt zu finden, an dem man anknüpfen kann, damit dann klar wird: Das Thema hat doch etwas mit der Organisation zu tun. Und zwar nicht nur, weil es nett ist, einmal ein Projekt zu machen, sondern weil es zur Kernaufgabe gehört. Dafür muss ich Konzepte, Strategien und Module entwickeln, und ich muss das Thema vor allem kommunizieren. Darüber hinaus machen wir gemeinsam mit dem Europaforum das Diversitätsmonitoring für die Stadt Wien.

dérive: Woher kommen die Leitbilder? Wer konzipiert sie?
Kenan Güngör: Die Leitbilder sind eigentlich eine Entwicklung aus der Wirtschaft. Sie wurden in den 1960er Jahren entwickelt und haben mit der Veränderung der Selbstsicht von Unternehmen zu tun. Die haben festgestellt, dass sie nicht nur Arbeitskräfte, sondern auch eine Kultur und eine Identität haben – Stichwort Corporate Identity. Nationale Unternehmen wurden im Zuge der Globalisierung oft internationale Unternehmen. Durch die verstärkte Medialisierung unserer Gesellschaft wurde und werden der Auftritt, die Identität und das Erscheinungsbild imme­r wichtiger. Niemand kann es sich mehr leisten, unsichtbar zu bleiben, sogar Gefängnisse haben heutzutage Websites. Leitbilder haben die Funktion, den künftigen Weg zu zeigen, und haben auch eine beruhigende, zuversichtliche Wirkung.

Die Umbrüche und Entwicklungen auf gesell­schaftlicher Ebene wie etwa der Bedeutungsverlust der Nationalstaaten, Verstädterung etc. führen zu einer Unübersichtlichkeit. Mit der Zuwanderung haben sich unsere Gesellschaften auch in sozialer, kultureller und ethnischer Hinsicht differenziert, d. h. wir werden mobiler. Die Herausforderung ist nun, Antworten auf all die Fragen zu finden, die sich dadurch ergeben. Antworten, die die Politik leider noch nicht hat. Mit den Leitbildern werden von den Menschen, die an mich herantreten, vielfach eher vage Vorstellungen verbunden. Sie haben ein Bedürfnis nach Orientierung und Gestaltung, aber keine genaue Vorstellung davon. Die Aufgabe für uns besteht darin, diese Bedürfnisse vor dem Hintergrund der Fragen, Anforderungen und Dynamiken vor Ort zu kontextualisieren und entsprechende Vorgehens­strategien zu entwickeln.

Die Schweiz ist bei den Integrationsleit­bildern Vorreiter – das bekannteste Beispiel ist Basel. Für eine Stadt dieser Größenordnung war es ein sehr innovativer Ansatz. Mittlerweile gibt es in der Schweiz viele Nachfolgeprojekte. Aus meiner Erfahrung mit Städten und Ländern in Österreich weiß ich, dass der Prozess einen sehr zentralen Teil des gesamten Projektes darstellt. Insbesondere dort, wo es wenige integrationsrelevante Akteure, Multiplikatoren und Institutionen gibt. Das war z. B. in Dornbirn der Fall. Es hätte wenig gebracht, ein Leitbild ohne einen breit angelegten Prozess zu verfassen. Die Stadt hätte dann ein Expertenpapier, aber keine Vernetzung, Sensibilisierung und kein Commitment, das dieses Papier stützt und somit auch die Umsetzungswahrscheinlichkeit erhöht. Wir versuchen zudem, durch den Prozess aus der Defensivposition in der Integrationsthematik heraus in eine Offensivposition zu kommen. Insgesamt sind die Ergebnisse hinsichtlich der Implementierung in Österreich sehr unterschiedlich, und interessanterweise kann man am Beginn einer Zusammenarbeit nicht einschätzen, ob ein Projekt erfolgreich verlaufen wird oder stecken bleibt. Dafür sind solche Prozesse in ihren Wechselwirkungen zu dynamisch und komplex.

dérive: Wovon hängt es ab, ob ein Projekt erfolgreich verläuft oder nicht?

Kenan Güngör: Dafür gibt es sehr viele Faktoren. Es gibt die Risikofaktoren zu Beginn, es können Probleme während des Prozesses auftauchen und auch am Ende beim Ergebnis. In einem ÖVP-regierten Bundesland gab es beispielsweise eine sehr engagierte Landesrätin; es kristallisierte sich im Prozess aber heraus, dass sie in dieser Frage eigentlich eine Minderheit in der eigenen Partei darstellte. Die Landesrätin war bemüht, aber die lokalen Akteure leisteten wenig Mobilisierungsarbeit, und es gab daher kaum Fortschritte. In einem anderen Bundesland, in diesem Fall Oberösterreich, hat das Vorhaben zum Teil von der Kritik und Konkurrenz der Parteien profitiert, weil mehrere Parteien das Thema für sich besetzen wollten. Für mich war es dann wichtig, das Thema so aufzubereiten, dass sich alle damit profilieren konnten. Die Ausgangslage war anfangs sehr schwierig, mittlerweile ist es aber das am meisten beachtete Bundesland im Hinblick auf Programmatik, geschaffene Strukturen und Umsetzung in Österreich.

dérive: Wie messen Sie den Erfolg Ihrer Arbeit? Woran erkennen Sie, dass es gut gelaufen ist?

Kenan Güngör: Österreich ist ein Land, das sehr stark durch die Aufteilung in zwei – mittlerweile fast drei – politische Reichshälften gekennzeichnet ist. Für uns ist es ein Erfolg, wenn wir eine gemeinsame Basis schaffen können. Wir brauchen keinen Konsens in allen Punkten. Wer die parteipolitischen Diskussionen kennt, weiß dass oft strategisch gespielt wird. Wenn sich am Schluss herausstellt, dass das Leitbild eines der SPÖ oder der ÖVP ist, dann haben wir verloren. In Oberösterreich ist es uns gelungen, dass SPÖ, ÖVP und Grüne das Leitbild im Landtag mitbeschlossen haben. Es gibt nun mehr Ressourcen und Personal und mehr Programme. Die Dynamik, die in Oberösterreich entstanden ist, hat uns sehr überrascht. In Tirol dagegen sind die Ergebnisse bei weitem nicht so gut.

dérive: Das Ziel ist also in erster Linie, die Kommunikation zwischen den einzelnen Akteuren zu fördern bzw. erstmals in Gang zu bringen, den Beteiligten klar zu machen, was das Thema ist ...

Kenan Güngör: Kommunikation, Konsensführung und auch sehr wichtig: Wissensproduktion. Die Versachlichung und Dehysterisierung sind entscheidende Punkte.

dérive: Wenn von Migration die Rede ist, redet man meist von den letzten drei, vier Jahrzehnten. Aber viele Städte wie z. B. Wien oder Berlin hatten um die vorletzte Jahrhundertwende eine enorme Zuwanderung, die die heutigen Zahlen als unbedeutend erscheinen lässt. Lernen Städte aus solchen Erfahrungen nicht? Müssen bei jeder neuen Zuwanderungsgruppe die gleichen Fehler wieder gemacht werden?

Kenan Güngör: Die Mechanismen der Inklusion waren Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts ganz andere. Gesellschaften, die ein ausgeprägtes Sozial- und Solidaritätssystem haben, sind stärker herausgefordert als andere. Wenn sie nicht für jeden eine Wohnung finden müssen, wenn sie sich nicht um die Altersvorsorge kümmern, dann haben sie es natürlich leichter. Für Wohlfahrtsstaaten mit einem ausgeprägten Sozial­system stellen sich Fragen und tun sich Probleme auf, die es nicht gibt, wenn die sozialpolitischen Ansprüche niedriger sind. Es kommt auf die Form der Vergemeinschaftung an. Es ist auch ein Faktor, welche Leute zuwandern. Es gibt Gruppen, die sehr gut angenommen werden, und andere, zu denen wir möglicherweise eine größere Distanz haben. Das heißt, die Erfahrungen der Vergangenheit helfen da wenig. Es gibt so etwas wie intendierte Multikulturalität, und es gibt faktische Multikulturalität. Ich bin eher daran interessiert zu fragen, was die Unterschiede und nicht, was die Gemeinsamkeiten waren. Wien oder Österreich haben sich – trotz der phasenweise hohen Zuwanderung – nie als Zuwanderungsregion verstanden, das ist im kulturellen Gedächtnis nicht verankert.

dérive: Ist die Tatsache, dass es in Wien bzw. Österreich regelmäßig zu Phasen verstärkter Einwanderung gekommen ist – in den 1950ern Ungarn, in den 1960ern Tschechen und Slowaken, in den 1980ern Polen, in den 1990ern Bosnier etc. –, ein Punkt, der bei der Erarbeitung eines Leitbildes eine Rolle spielt?

Kenan Güngör: Eindeutig ja. Wir haben eine Mystifizierung der Vergangenheit, die von einer homogenen Struktur ausgeht, und merken gar nicht, dass wir die Gesellschaft, die wir sind, auch deswegen geworden sind, weil es in der Vergangenheit immer wieder Zuwanderung gegeben hat. Das ist natürlich ein Punkt, auf den wir sehr viel Wert legen. Hier kommt es dann immer wieder zu Aha-Effekten.

Ich achte sehr auf den Begriff des kulturellen Gedächtnisses; für mich ist es immer interessant, zwischen dem Geschehen und dem Erfahren zu unterscheiden – das kann höchst divergent sein. Was sich eine Gesellschaft aus einem Ereignis herausholt und in sein kulturelles Gedächtnis transformiert, ist immer ein spezifischer und selektiver Auszug und daher mit dem Geschehen nie deckungsgleich.

dérive: Ihr Mission Statement lautet „Integration heißt das Zusammenwirken von Differentem ... und nur wo Differentes ist, ist Gemeinsames denkbar“... Was kann und soll unterschiedlich sein, was muss und soll gemeinsam sein?

Kenan Güngör: Die harten Grenzen kann man kommunizieren, aber ein ganz große­r Teil dessen, was wir als different sein bezeichnen, ist Aushandlungssache. Bevor wir vom Gemeinsamen sprechen, müssen wir zuerst einmal vom Differenten sprechen. Ich habe sehr oft das Gefühl, dass wir, wenn wir über Gemeinsames sprechen, die Differenz noch gar nicht ausbuchstabiert haben. Auf der anderen Seite muss man sagen: Wenn Differenz lebbar sein soll, muss man sich im Klaren sein, was die Gemeinsamkeiten sind, auf deren Grundlage Differenz möglich ist. Die Grundfrage lautet für mich: Was braucht eine Gesellschaft an gemeinsamen Institutionen, Strukturen und Teilhabeprozessen, damit Differenz – wie wir sie faktisch schon längst haben – gelebt, im besten Falle genutzt, aber auch toleriert werden kann. Es gibt Bereiche, die Toleranz fordern. Wenn ich etwas nicht möchte, aber es toleriere, muss es jedoch auch die Möglichkeit geben zu sagen: Das toleriere ich nicht mehr. Zum größten Teil handelt es sich um Aushandlungs- und Anerkennungsprozesse, welche Differenzen als legitim gelten und welche nicht. Das hat immer mit den Machtstrukturen, mit den Selbstverständlichkeiten, mit den dominanten Bildern in einer Gesellschaft zu tun. Es gibt mittlerweile viele Felder, für die es keine eindeutigen Lösungen gibt; deswegen brauchen wir die Klugheit von Aushandlungssystemen.

dérive: Wie kann das Wissen über Regeln und Normen in einer Gesellschaft verbreitet werden? Wodurch ist klar, was aushandelbar ist und was nicht? Für Migranten, die von weiter weg kommen, muss es ja sehr schwer sein, sich dieses Wissen anzueignen bzw. überhaupt zu erfahren, wie sie dazu kommen können. Der Inhalt, der in Staatsbürgerschaftstests abgefragt wird, hat damit ja meist gar nichts zu tun. Da geht es ja oft um relativ spezielles historisches oder geografisches Wissen, das einem im Alltag nicht hilft.

Kenan Güngör: Diese Tests sind nicht nur inhaltlich oft seltsam, viel problematischer ist, dass der möglicherweise glaubwürdige Kern damit in Frage gestellt ist. Man muss sich überlegen, ob man es wirklich ernst meint mit dem, was man tut, oder eigentlich andere Absichten verfolgt. Ich habe grundsätzlich gar nichts gegen solche Tests, wenn sie klug gemacht und ein bewusster Akt, eine Art Initiation sind, damit die Leute ein Gefühl dafür bekommen, wie es ist, in dem Land zu leben – aber es sind Demütigungsrituale. Im Moment der rechtlichen Naturalisierung, im Moment der Einbindung spüre ich noch einmal die Ausgrenzung, und das ist das Perfide daran. Damit wird die Glaubwürdigkeit des Akzeptiertseins weggenommen. Die Leute lesen das und fragen sich: Wollen sie mich überhaupt? Durch solche Formen kommunizieren wir das Gegenteil von dem, was wir damit sagen, und jeder spürt, dass implizit etwas anderes transportiert wird.

dérive: Es ist ja für Staatsbürgerschaftsanwärter sicher seltsam zu sehen, dass ihnen ein Wissen abverlangt wird, das der durchschnittliche Österreicher oft nicht hat.

Kenan Güngör: Ja, und dann sieht man auch, dass das nicht nur aus Unwissenheit kommt, sondern Kalkül ist. Es ist ein prekäres Signal, wenn Menschen, die gerade ein Teil dieser Gesellschaft werden wollen und dafür Voraussetzungen mitbringen, merken, dass sie noch ein letztes Mal gedemütigt werden sollen und ihnen gesagt wird: Eigentlich warst du nie wirklich willkommen. Ich glaube, ein Problem ist in diesem Land grundsätzlich, dass keine Gesten gesetzt werden, dass nicht gesagt wird: Es ist okay, dass du da bist; das ist das Elemen­tarste. Wenn Sie hier herreinkommen und ich beachte Sie nicht oder sehe woanders hin, wenn ich mit Ihnen rede, dann sagt das schon etwas in Bezug auf fehlende Wertschätzung aus. Eine kleine Bewegung genügt. Wir unterschätzen die Wichtigkeit dieser Gesten, und diese Gesellschaft tut das permanent. Ich habe nichts gegen kritisches Befragen und Auseinandersetzen, aber zuerst muss gelten: Es ist okay, dass du da bist. Die Voraussetzungen müssen gegeben sein. Ich habe das Gefühl, dass diese grundsätzlichen Voraussetzungen hier nicht vorhanden sind, sondern vielmehr ständig eine Möglichkeit gesucht wird, Miss­fallen zu signalisieren, indem auf irgendwelche Fehler hingewiesen wird. Diesen tiefen Glaubwürdigkeitsverlust halte ich für sehr problematisch.
dérive: Das Thema Integration ist in Öster­reich seit vielen Jahren in der politischen Auseinandersetzung und in den Medien präsent. Trotzdem hat man nicht das Gefühl, dass den handelnden Personen klar ist, welche Probleme und welche Chancen es gibt und welches Konzept geeignet wäre, ein lebenswertes Umfeld für alle in Österreich Lebenden zu schaffen. Man hat das Gefühl, alle orientieren sich nur an den Kampagnen der FPÖ. Wieso ist es so schwierig, einen pragmatischen und weitsichtigen Umgang mit dem Thema zu finden? Ist das Feigheit, politische Kurzsichtigkeit?

Kenan Güngör: Das ist eine Frage, mit der ich inhaltlich und analytisch permanent konfrontiert bin. Österreich gehört nach EU-Studien zu den Ländern mit der höchsten Distanz zu Fremden, aber nicht zu allen Fremden. Wir – auch Sie und ich – haben, ohne uns dessen bewusst zu sein, eine hierarchische Werteskala: Manche Länder und Sprachen sind uns sympathisch, über andere denken wir nicht so gut. Aus dieser Kategorisierung können wir uns nicht lösen; entscheidend ist, wie reflektiert, umsichtig und zivilisiert wir damit umgehen. Nur weil ich ein Land nicht so wertschätze, muss ich einen Menschen aus diesem Land hier nicht blöd anreden. Kultur, wie ich sie verstehe, ist auch eine Sozialtechnik, mit Befindlichkeiten gefiltert umzugehen.

Ich habe 20 Jahre in Deutschland gelebt, wo die Türken die größte Minderheit darstellen, aber die Türkenfeindlichkeit in Öster­reich, wo die Türken nicht die größte Minderheit sind, ist beachtlich. Dass historische Themen wie die Türkenbelagerung so aufgespielt werden, ist seltsam. Da muss man sich schon fragen, was passiert in dem Land. Es gibt Untersuchungen von Schulbüchern, in denen diese „Erbfeindschaften“ bewusst betont werden. Dass die Osmanen und die Habsburger im Ersten Weltkrieg Verbündete waren, hat man vergessen. Was mir auffällt, ist, dass sich dieses Land – wie andere auch – nie auf eine bewusste, dauer­hafte Zuwanderung eingestellt hat. Das Zuwanderungsmodell war nie so ausgerichte­t. Für die Gastarbeiter gab es das Rotationsmodell, die Leute sollten zurückkehren. Wenn Sie mit den Gastarbeitern der ersten Generation reden, egal ob in Deutschland, der Schweiz oder Österreich, werden Sie hören, dass es in den ersten zehn, fünfzehn Jahren auch sehr angenehm war. Zu Beginn herrschte die Meinung vor: Wir brauchen die Zuwanderer, damit es uns wieder besser geht. Man hat mit ihnen den Aufstieg verbunden. Irgendwann später ist es die Stimmung dann gekippt. Es gab die Ölkrise, steigende Arbeitslosigkeit etc. Stillschweigend wurde so langsam klar, dass es sich bei den Zuwanderern nicht um Gäste handelt, sondern dass sie bleiben.

Die ersten, die dafür eingetreten sind, dass die Gastarbeiter bleiben, waren interes­san­ter­­weise die Wirtschaftsunternehmen. Denen war klar, dass es keinen Sinn ergibt, dass Leute just zu dem Zeitpunkt, zu dem sie ihre Arbeit gelernt und sich an ihren Alltag gewöhnt haben, zurückgeschickt werden, um durch neue Arbeiter, die man wieder anlernen muss, ersetzt zu werden. Die Unternehmer waren also interessiert, die Aufenthalte zu verlängern. Auch die Migranten haben gemerkt, dass sich Geld nicht so schnell verdienen lässt. Die Idee des dauerhaften Bleibens in Österreich ist eine Entscheidung aufgrund einer Nichtentscheidung von beiden Seiten gewesen. Wir versuchen gegenwärtig die Nachwehen dieser Nichtentscheidung und die Folgen einer fehlenden Integrationspolitik nachholend aufzuarbeiten.

David Poe
David Poe

Ich glaube, der entscheidende Punkt war, als mit den Migranten nicht mehr Aufstieg, sondern Abstieg verbunden wurde. Wenn autochthone Österreicher heute in die Stadtteile gehen, merken sie, dass dort, wo Armut verbreitet ist, der Anteil der Migranten hoch ist. Sie haben das Gefühl, dass ein Teil der Migranten die deutsche Sprache nicht spricht, dass sie eher unter sich bleiben wollen. Ich kann dazu nur sagen, die Latenz des Unbehagens ist sehr menschlich. Die Instrumentalisierung des Unbehagens ist hingegen sehr problematisch. Ich versuche nicht zu urteilen und frage: Warum ist das so? Im Alltag ein bestimmtes Ressentiment zu haben, kann naheliegend sein. Vor allem dann, wenn medial die Negativseiten so stark kommuniziert werden. Was wir nie entwickelt haben, ist eine Empathiefähigkeit. Dadurch ist unser Bild des Zugewanderten – mittlerweile Einheimischen – immer noch ein fremdes. Die Erkenntnis, dass diese Leute nun seit vierzig, fünfzig Jahren hier sind und auch hier bleiben werden und die daraus folgenden Fragen nach der Zukunft unserer Gesellschaft hat man erst vor zehn Jahren begonnen sich zu stellen.

Österreich zeichnet sich für mich dadurch aus, dass es eine politische Kultur gibt – und das gilt weit über die Integrationsthematik hinaus –, die es offenbar nicht schafft, für gefällte, kollektiv bindende Entscheidungen einzustehen. Dieses Nicht-Einstehen ist fast immer und in allen Ländern ein wichtiges Moment für das Aufkommen von Populismus. Deswegen ist es falsch, immer die FPÖ zu analysieren; wir müssen vielmehr die anderen analysieren. Die Schwäche, für Entscheidungen, die man gefällt hat, nicht einzustehen, ist in Österreich sehr ausgeprägt. Politik zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Bedürfnisse und die Willensbildung der Bevölkerung ernst nimmt, auf der anderen Seite aber natürlich gesellschaftspolitische Überzeugungsarbeit leisten muss. Da ist Österreich sehr schwach. Dadurch kann eine Partei wie die FPÖ Agenda-Setter werden.

Wenn ich wüsste, dass die 75 Prozent, die nicht FPÖ wählen, stabil sind, würden mich die 25 Prozent der FPÖ nicht nervös machen. Mich können eher die 75 Prozent nachdenklich machen. Das weitverbreitete Fehlen von trivialsten Formen der Empathie, das von der Politik nie als Problem angegangen und gemanagt wird, erschwert die Situation und führt dazu, dass das Unbehagen instrumentalisiert und politisch ausgenutzt wird. In der Gesellschaft findet das einen sehr breiten Nährboden. Die Ressentiments gegenüber Zuwanderern reichen, von der FPÖ ausgehend, über der ÖVP bis in weite Teile der Sozialdemokratie hinein. Das ist ein österreichisches Problem.

Sao Paulo, Foto: Rodrigo Soldon
Sao Paulo, Foto: Rodrigo Soldon

dérive: Eine Folge des Rotationsmodells ist, dass sich die verantwortlichen Politiker lange Zeit nicht um die Bildung der zweiten Generation gekümmert haben. Gleichzeitig gibt es viele der Industriejobs, in denen Gastarbeiter ursprünglich gearbeitet haben, nicht mehr. Sehen Sie eine Chance, aus dem Dilemma schlechte Bildung in Kombination mit einem veränderten Arbeitsmarkt mittelfristig herauszukommen?

Kenan Güngör: Meine Einschätzung der Lage ist nicht so düster. Integration ist im Großen und Ganzen gut gelaufen – Punkt. Wenn wir uns den Bildungsstatus der Eltern und der Kinder ansehen, sieht man, dass die Kinder die doppelte Qualifikation ihrer Eltern haben. Wenn Sie sich die Referenzgruppen genau ansehen, merken Sie, dass wir mittlerweile eine etablierte Mittelschicht haben. Der Anteil der Migranten mit Matura und auf den Universitäten steigt. Die Integrationsmaschineri­e könnte und sollte besser laufen und sie hat bestimmte Schwierigkeiten, aber ich diskutiere darüber nur unter der Bedingung, dass sie läuft. Es ist vielen gar nicht klar, wie es aussehen würde, wenn eine Gesellschaft in so einem Bereich stillstünde. Wenn ich den Vergleich mit Österreichern ziehe, habe ich den Eindruck, die Integration läuft nicht. Wenn ich mir das aber innerhalb der Migranten-Communities anschaue – woher kamen sie, wo stehen sie jetzt –, dann sind das zum Teil enorme Aufstiege, die da vor sich gehen. Ein Teil macht die Mitte aus, und nur ein Teil bleibt wirklich zurück, und das ist in der Tat problematisch.

Es gibt einen ungeheuren Bildungsaufstieg, und die Gesellschaft war sozial noch nie so mobil wie heute. Bei manchen geht es nicht ganz so schnell, und da muss man etwas tun, das ist ganz klar – aber wir leiden vergleichsweise auf einem hohen Niveau. Mir ist es auch wichtig zu betonen, welche Errungenschaften wir erreicht haben. Die Bereiche, die verbessert werden können, müssen natürlich benannt und Probleme angegangen werden. Das Gerede von einer Bildungsmisere geht jedoch an mir vorbei. Soziologisch kann man nicht sagen, dass die Integration nicht funktioniert hat. Missstände gibt es, das ist klar. Dass es eine Gruppe von Migranten gibt, die wirklich am untersten Ende der sozialen Hierarchie ist und von dort kaum wegkommt, ist ein Problem.

Beim Argument „Die Integration steht still“ treffen sich die Linken und die Rechten. Bei den Rechten sind es die Ausländer, die keine Integration wollen, bei den Linken ist die Mehrheitsgesellschaft schuld – beide kommunizieren Stillstand. Das ist mir ein wenig zu einfach. Man muss auch sagen, dass unsere Gesellschaft grundsätzlich dynamischer und diffiziler ist und die Ansprüche stetig steigen. Ich denke, wir sind mit der Integration in vielen Bereichen im grünen und in manchen Feldern im orangen Bereich. Auch wenn ich tendenziell zuversichtlich bin, dass wir das managen können, weiß ich um die Voraussetzungshaftigkeit gesellschaftlicher Dynamiken. Wer hätte vor zehn Jahren gedacht, dass die Diskussion um den Islam so breit werden wird und wir mittelalterliche Debatten führen müssen. Unsere Möglichkeit besteht darin, soviel wie möglich in der Gegenwart zu tun, um die Voraussetzungen für die Robustheit und die Offenheit der Gesellschaft ein wenig zu stärken.

dérive: Zum Abschluss eine Frage, die sich mir gestellt hat, als ich auf der Suche nach Teilnehmerinnen für eine Podiumsdiskussion war: Warum findet man in Österreich Positionen, wie sie Seyran Ates, Necla Kelek oder die Ex-Muslime in Deutschland vertreten, so schwer? Gibt es die in Österreich nicht?

Kenan Güngör: Die gibt es schon, sie sind medial aber nicht so präsent. Seyran Ates und Necla Kelek, die ich beide kenne, sprechen etwas an, das ich wichtig finde, auch wenn ich es in der Zuspitzung und teilweise Trivialisierung eher problematisch finde. Ich hätte mir oft eine bessere Argumentation und Kommunikation gewünscht. Diese Debatten haben Auswirkungen innerhalb der Community: Es gibt Zeichen für eine Islamisierung, die wir beobachten können. Es gibt im Islam mittlerweile auch so viele Strömungen, dass man sie gar nicht mehr überblicken kann. Es gibt da sehr selbstbewusste und sehr emanzipierte Bewegungen, anderseits solche, die in ihrem Auftritt nach außen sehr modern wirken, aber nach innen unheimlich streng religiös sind, andere hingegen, die einfach alltagsreligös sind. Ein Kollege hat einmal gesagt, dass wenn wir gegen die Diskriminierung der Migran­ten auftreten, Gefahr laufen, uns vielen wichtigen Fragen innerhalb der Community nicht zu stellen, weil es unangenehm ist. Wenn man etwas verteidigt, muss man das Gefühl haben, dass damit alles OK ist. Wenn man merkt, dass da etwas divergent ist, tut man sich mit der eindeutigen Parteinahme schwer. Ich habe manchmal auch das Gefühl, dass für einige Gruppen die Migranten das Ersatzproletariat darstellen, das es nur als Opfer wahrzunehmen und zu verteidigen gilt.

dérive: Das Gefühl habe ich auch.

Kenan Güngör: Nicht nur die Mehrheiten, auch die Minderheiten brauchen ihre Lernprozesse. Man muss sich auch kritische Fragen gefallen lassen. Die Voraussetzung dafür muss aber immer die grundsätzliche Akzeptanz sein. Es gibt hier Kurden, es gibt Aleviten, die eine Anbiederung an die Muslime konstatieren. Laizisten stellen fest, dass man durch die Angst vor der Islamfeindlichkeit in der Gesellschaft immer mehr in die Schutzrolle für Muslime verfällt und wegen des Machtungleichgewichts Gefahr läuft, auch die Inhalte dieser Gruppen zu affirmieren. Das sehe ich gegenwärtig als großes Problem. Ich bin kein Freund des Kopftuchs, die religiösen und philosophischen Aspekte, die dahinter stehen, sind höchst hinterfragbar. Darüber möchte ich auch diskutieren und es hinterfragen können. Was ich aber nicht möchte, ist, dass eine Frau deswegen keinen Job bekommt oder sonst wie diskriminiert wird. Das ist eine Frage der Rechte und nicht der Inhalte.

dérive: Danke für das Gespräch.


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