Pro Futuro: Ein Plädoyer für die europäische Stadt
Besprechung von »Die Zukunft der europäischen Stadt. Stadtpolitik, Stadtplanung und Stadtgesellschaft im Wandel« herausgegeben von Oliver Frey und Florian KochDie Zukunft der europäischen Stadt geht uns alle an. Freilich wird es immer schwerer, ein klares Bild darüber zu gewinnen, wie sie sich eigentlich entwickeln wird oder sollte. Oliver Frey und Florian Koch nahmen sich als Herausgeber dieser nicht unspannenden Frage an, und das Ergebnis dieser Neugierde ist ein Reader zum Thema, der sich sehen lassen kann. Durch eine gelungene Mischung aus namhaften AutorInnen und jüngeren NachwuchsforscherInnen gelingt es hier, auf über 400 Seiten ein umfassendes Bild der künftigen Perspektiven zu entwickeln, das sich im Spannungsfeld mehrerer Fragestellungen bewegt. Zunächst geht es um die Frage des Überganges von der großen Tradition der europäischen Stadt, die vielfach noch Werkcharakter aufwies, hin zum neuen, seit dem Fordismus geläufigen Paradigma einer Produktion von Stadt. Die Geschichte der Stadt ist durch das Zusammenspiel verschiedenster Faktoren geprägt: Ökonomische, politische und soziale Elemente konnten sich hier in einer Organisationsform zum Ausdruck bringen, die immer noch unübertroffen ist und die Erfindung der Urbanität zur Folge hatte, die wohl mit der neueren Geschichte der Menschheit untrennbar verbunden ist.
Im 19. Jahrhundert kommen mit der industriellen Produktion und der Arbeiterfrage die neuen, großen sozialen Probleme, wie die des Wohnens, auf. Die im 20. Jahrhundert aus amerikanischen Modellen bezogene Problemlösung, die fordistische Produktionsweise nämlich, hatte eine klare Funktionstrennung zum Inhalt – Trennung von Wohnen und Arbeiten –, erzeugte die Suburbanisierung und damit eine radikale Ausdehnung der Stadt, die wiederum entsprechenden Verkehr nach sich zog. Erst in den jüngeren vergangenen Jahrzehnten gelangte man wieder zur Einsicht der Qualität der Dichte und der daraus resultierenden kulturellen Produktivität, die mittlerweile bereits selbst wieder zu einem – nicht unumstrittenen – Paradigma der Stadtproduktion wurde. Als weiterer Punkt ist natürlich der Umstand der Migration zu erwähnen, der ebenfalls die Formatierung beeinflusst. Damit sind nur einige der zentralen Faktoren einer Bestimmung des Rahmens der Entwicklung der Stadt angeführt, die aber ausreichend Schreibstoff für zahlreiche Aufsätze bieten. Kompaktheit, Dichte, Heterogenität und Durchmischung sind immer noch Eigenschaften, die mit der europäischen Stadt assoziiert sind und die mit der wichtigen Rolle des öffentlichen Raumes einhergehen.
Freilich steht die Stadt immer unter der Spannung des Wandels. Fragmentierung und Segregation zeitigen größere Ungleichheit, die Kraft der Integrationsmaschine hat in Europa spürbar nachgelassen. Gleichermaßen spannend ist die Stadtgesellschaft als Labor für künftige Lebens- und Arbeitsweisen und die Herausbildung neuer Identitäten. Dieser Wandel der Stadtgesellschaft hat auch einen Wandel der Urbanistik zur Folge, mithin auch der Stadtplanung und Stadtpolitik.
Das informative Kompendium gliedert sich in vier Teile. Teil 1 (Das Modell der europäischen Stadt – zwischen Vergangenheit und Zukunft) eröffnet Hartmut Häußermann mit Thesen zur Bedrohung der Urbanität und kulturellen Produktivität der europäischen Stadt durch den Verlust der sozialen Dichte. Klaus Kunzmann tröstet hingegen damit, dass der mögliche Verlust auf alle Fälle durch ältere und neuere chinesische Fakes kompensiert wird: Quingdao ist eine deutsche Stadtgründung von Kaiser Wilhelm 1897. Sie war in einem romantischen historistischen Stil errichtet und wies eine sehr moderne technische Infrastruktur und eine fortschrittliche Bodenordnung zur Vermeidung von Spekulation auf. Heute hat die Stadt acht Millionen EinwohnerInnen, der alte Stadtteil existiert noch. Zugleich gibt es zahlreiche Versuche, Kopien von europäischen Städten als Satellitenstädte zu bauen um Identität zu erzeugen. Ein Vergleich zwischen der europäischen und amerikanischen Stadt und ihrer Konvergenz (Christine Hahnemann, Tobias Mettenberger) und Überlegungen zum Konstrukt der »Dichte« (Nikolai Roskamm) ergänzen diesen ersten Teil. Ein weiterer Aufsatz widmet sich der Spannung zwischen Integration und neoliberaler Politik am Beispiel der Wohnungs- und Quartierspolitik (Florian Wukowitsch).
In Kapitel 2 geht es um die Handlungsfelder des Wissens, der Kreativität und der Orte. Dieses Kapitel stellt die Fragen der kreativen Stadt (Alain Thierstein, Anne Langer-Wiese, Agnes Förster) und der kreativen Klasse (Ilse Hellbrecht) in den Mittelpunkt. Kreativwirtschaft und Quartiersentwicklung (Katharina Heider) so wie multilokale Lebensformen stehen in ähnlichem Zusammenhang (Knut Petzold). Theoretische Ergänzung wird durch die Rolle der medialen Urbanität geleistet (Frank Eckardt).
Kapitel 3 thematisiert veränderte Planungsansätze und neue Politikansätze; zunächst durch die Darstellung einer Typologie informeller Stadtentwicklung und städtische Governance (Florian Koch). Weiters werden in diesem Kontext Stadtmanagementansätze (Heidi Sinning) und Stadterneuerungsprogramme, hier am Beispiel Bristol, analysiert. Business Improvement Districts in Hamburg ( Annette Vollmer), Eigentümerstandortgemeinschaften als neue stadtpolitische Instrumente (Elena Wiezorek) sowie irreguläre Migration in Barcelona und Den Haag und deren Behandlung (Simone Buckel) vervollständigen dieses Bild neuer Methoden.
Kapitel 4 schließt mit der Frage der Herausforderungen für die europäische Stadt durch die Herausgeber Frey und Koch. Zuvor kommen noch einige AutorInnen zur Sprache – Themen sind Reurbanisierung, Globalisierung und Inwertsetzung (Klaus Brake), neue Perspektiven des Ruhrgebietes durch den Titel Kulturhauptstadt (Gregor Betz), Stadtentwicklung in Istanbul und ein Vergleich mit der europäischen Stadt (Katharina Sucker) und Schwierigkeiten bei der Umsetzung des europäischen Modells im politischen Alltag (Ulrich Hatzfeld). Einen informativen Ausblick auf die Vielfalt der Stadtmodelle gibt Oliver Frey, indem er nahezu eine halbe Hundertschaft an Beispielen anführt und einer kurzen Charakterisierung unterzieht. Und wie wird die Zukunft nun wirklich sein? Widersprüchlich. So jedenfalls die Meinung der Herausgeber, die sich berechtigterweise aus der Spannung zwischen der semantischen Bandbreite dieses Begriffs und der Vielfalt an Strategien und Methoden und den unterschiedlichen politischen Ansätzen ergibt. Der Stoff dürfte auch für den nächs-ten Sammelband nicht ausgehen. Man kann aber jetzt sehr schön den Status des augenblicklichen Diskurses über die Stadt, zumindest wie er in der Soziologie und Urbanistik verläuft, verfolgen und vielleicht auch schon einige Kristallisationen ausmachen.
Manfred Russo ist Kultursoziologe und Stadtforscher in Wien.