Qualifizierung der Zwischenstadt
Besprechung von »Ästhetik der Agglomeration« von Susanne Hauser und Christa KamleithnerVon 2002 bis 2005 lief ein von der Gottlieb-Daimler- und Karl-Benz-Stiftung finanziertes so genanntes Ladenburger Kolleg unter dem Titel Mitten am Rand: Zwischenstadt. Zur Qualifizierung der verstädterten Landschaft unter Beteiligung von zwanzig WissenschaftlerInnen verschiedenster Disziplinen. Dieses Forschungsprojekt sollte den vor zehn Jahren von Thomas Sieverts eingeführten Begriff tiefer gehend erforschen. Und es sollte insbesondere Vorschläge zur Qualifizierung liefern, das heißt zur „Verbesserung der physischen Formen und Zusammenhänge in Siedlung und Landschaft“ ebenso wie zur „Aufklärung und damit [zur Veränderung der] inneren Einstellung von Bewohnern und Akteuren als Voraussetzung von Lern- und Erfahrungsprozessen“, zu „Entwicklungsstrategien und [zum] Entwurf von soziokulturellen Programmen und Prozessen“, wie Sieverts das formuliert.
Der Begriff selbst ist – auch nach Ende des Kollegs – umstritten, er bezeichnet ursprünglich diejenigen Gebiete, die weder Stadt noch Land sind und sich nicht mehr, wie der ältere Begriff Peripherie nahe legt, einem Zentrum unterordnen lassen. ProtagonistInnen der Diskussion bemängeln, dass die Zwischenstadt ein Drittes neben Stadt und Land etabliert, statt diese beiden Begriffe mit zu umfassen, oder dass die neuen Strukturen eher polyzentrisch als monozentrisch seien, aber eben immer noch Zentren besäßen. Dem entsprechend verwendet der achte und letzte Band der Schriftenreihe zum Kolleg von Susanne Hauser und Christa Kamleithner in seinem Titel den Begriff „Agglomeration“, der gewöhnlich für die Stadt samt ihrem suburbanen Umfeld bis zur Grenze zur unbebauten Landschaft verwendet wird, ohne etwaige Administrationsgrenzen zu beachten.
Sieverts’ Begriff von der Zwischenstadt geht teilweise von einem ästhetischen Zugang aus: Er sollte ein Phänomen erkennbar machen, das bis dahin unter der Wahrnehmbarkeitsschwelle der fachlichen und allgemeinen Öffentlichkeit lag. Dem entsprechend versuchen Hauser und Kamleithner eine Auseinandersetzung mit der Ästhetik der Stadtlandschaft, um daraus Qualifizierungsmöglichkeiten abzuleiten. Sie verstehen Ästhetik im Sinne einer sozialen Wahrnehmung: Ihr Gegenstand ist das, „was eine Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit wahrzunehmen bereit ist und als Gegenstand anerkannter Wahrnehmung auch thematisiert“. Der Band beginnt demnach mit einer Suche nach der Sichtbarkeit: Es geht um unsichtbare Orte und Grenzen zwischen Stadt und Land sowie zwischen Zonen der Agglomeration als Unterscheidungsmerkmal. Der nächste Schritt ist die Wahrnehmung der Stadt selbst, die durchaus nicht unproblematisch ist, wie die Autorinnen zeigen. Die jeweils vorherrschende Stadtästhetik ist wiederum Rahmung für mögliche Stadtplanungskonzepte. Die körperliche Erfahrung der Stadt wurde von Lewis Mumford in die Behälterstadt der Baustruktur und die Magnetstadt von urbanem Gedränge geschieden – letzteres ist für Kamleithner der Ansatz, städtische Erlebbarkeit auch auf die Zwischenstadt über-tragen zu können: Auch dort ist der Austausch zwischen Unbekannten möglich, nun allerdings an anderen Orten und mit größeren Distanzen zwischen öffentlich und privat. Mittlerweile sind ja auch die „alten Stadtkerne zu Funktionsinseln in der Agglomeration“ geworden.
Aus der Perspektive des städtischen Pols wird die Frage der Urbanität an die Stadtlandschaft gestellt. Bei aller Ambivalenz dieses Begriffs, der zwischen den Idealbildern der anonymen Großstadt und der gemeinschaftlichen Kleinstadt pendelt und der auf der Idee der Öffentlichkeit basiert, leiten die Autorinnen daraus mögliche Handlungsansätze ab: In der Weitläufigkeit und Zerstreuung der Zwischenstadt müssten Orte des Austauschs installiert, bestehende Räume durch dichtere Verbindungen für alle Verkehrsmittel, schnelle wie langsame, vernetzt sowie offene, unprogrammierte Räume angeboten werden.
Ausgehend vom ruralen Pol könnten schließlich das überkommene und gerade in jüngster Zeit wieder verstärkt diskutierte Konzept der Landschaft und ihr Versprechen an den Betrachter, die Betrachterin in Anspruch genommen werden: Das Wahrgenommene mit der „natürlichen“ Ordnung übereinstimmen zu lassen, lässt sich nur schwer auf die Zwischenstadt übertragen. Wo könnte diese also sonst Wunscherfüllung leisten? Bei der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Begriffs der „Kulturlandschaft“ wird auch deutlich, dass die Zwischenstadt eben nicht jede bisherige Form von Stadt und Land umfasst: Neben den sich zunehmend verdichtenden Stadtlandschaften bleiben Gebiete, deren Wirtschaft ausschließlich aus dem primären Sektor besteht und die sich nach und nach weiter entleeren. Doch auch das neuere, US-amerikanisch inspirierte Konzept von Kulturlandschaft, das die schnellen Veränderungen des heutigen Alltags mit einbezieht, besitzt die Prämisse der lokalen Eigenart, der sich weite Teile der Zwischenstadt nicht unterordnen lassen. Das Beharren auf dem Lokalen ist allerdings nicht nur ein konservierender Ansatz, sondern solche gemeinschaftsbildenden Identitäten besitzen auch widerständiges Potenzial, wie etwa die Arbeiten von Fredric Jameson und David Harvey zeigen.
Die Basis des Lokalen bildet Identität, ein viel gebrauchter, schwieriger und schwammiger Begriff, der, wie Hauser zeigt, als Ausgangspunkt von Wahrnehmung dienen kann, weil Identität oft materielle und damit meist örtliche Kristallisationskerne braucht. Die kurzlebigen Produkte dieser Erkenntnis nennt man Stadt- oder Regionalmarketing. Regionen und damit kollektive Identitäten entstehen unabhängig von solchen Konstrukten genau dort, wo Ökonomie und Politik jeden regionalen Bezug bereits gesprengt haben und somit ein Bedarf besteht.
Aus der beschriebenen Argumentationslinie werden schließlich Vorschläge für die Qualifizierung der Zwischenstadt abgeleitet: Zugänglichkeit und Durchlässigkeit des Raumes seien zu erhöhen, und zwar mittels verschiedener möglicher Verkehrsgeschwindigkeiten; sinnliche Erlebbarkeit sollte zentrales Gestaltungsmerkmal sein; die Verdichtung von Funktionen müsste die Brauchbarkeit der Räume steigern; durch das Anbieten materieller Identitätskristallisationskerne sollte Kenntlichkeit und lokale Eigenart entwickelt werden; kommunikative Planungsverfahren und daraus entstehende lokale Kommunikationsstrukturen könnten diese Eigenarten erkennbar und nutzbar machen; die schnellen Transformationsprozesse der Stadtlandschaft seinen als Anlass für prozessuale Entwicklungsplanung zu nehmen und zugängliche Räume als Orte der – zerstreuten – Öffentlichkeit zu etablieren.
Der Band liefert somit schließlich den – für Architekten und Architektinnen dann auch wieder nicht so sehr – überraschenden Schluss, dass Ästhetik ein zentraler Ansatzpunkt für die Qualifizierung, man könnte auch sagen Verbesserung, der Zwischenstadt und ihrer Räume ist. Es geht aber hier dezidiert nicht um eine vorrangig visuelle Ästhetik, wie man aus architektonischer Perspektive vielleicht schließen könnte. Sondern es braucht eine prozessuale Ästhetik, die Kontext und Planbild vernetzt, Partizipation erlaubt und sich um Nutzbarkeiten und Programme (oder manchmal auch um Programmlosigkeit) kümmert.
Robert Temel ist Architektur- und Stadtforscher in Wien.