Religiöse Bewegungen als urbane Machtfaktoren
Besprechung von »Urban Prayers. Neue religiöse Bewegungen in der globalen Stadt« herausgegeben von MetroZonesReligion ist ein Thema, das in dérive bisher kaum Erwähnung fand. ein einziges Mal widmete sich ein Artikel explizit Stadt und Religion, und das war ein Text von Stephan Lanz in der 10-Jahre-Jubiläumsausgabe dérive 40/41. Der damalige Beitrag ist im Rahmen des selben Forschungsprojekts entstanden, in dem die verdienstvolle metroZones Reihe unter dem Titel Urban Prayers — Neue religiöse Bewegungen in der globalen Stadt nun ihren zehnten Band veröffentlicht hat.
Wenn Religion als Thema für die Stadtforschung in Europa keine große Rolle spielt, hat das wohl einen Grund darin, dass in vielen (westlichen) Städten die dominierenden Religionsgemeinschaften in den letzten Jahren und Jahrzehnten stark an Mitgliedern verloren haben. Religion spielt in unserem persönlichen Alltag kaum eine Rolle, sie existiert in einer Parallelwelt und hat für viele mit ihrem Fühlen und Denken nichts zu tun, sie ist antiquiert. Wenn (christliche) Religion innerhalb unseres Horizonts auftaucht, dann liegt die Ursache zumeist in irgendwelchen Skandalen oder völlig unhaltbaren gesellschaftspolitischen Positionen. Positiv fällt die (christliche) Kirche im Normalfall nur dann auf, wenn sie sich um sozialpolitische Missstände kümmert, die Folgen staatlichen Versagens oder Unwillens sind: In Städten ist das zumeist Armutsbekämpfung z. B. durch die Betreuung von Flüchtlingen und Obdachlosen.
Genau an diesem Punkt scheint es eine Parallele zur weitaus bedeutsameren Rolle von Religion in anderen Weltgegenden bzw. Bevölkerungsgruppen zu geben.
Der erfolg und die Popularität vor allem von Pfingstkirchen und ähnlichen neuen religiösen Bewegungen — aber (in manchen Regionen) auch traditionellen Religionen — hat häufig mit staatlichen Defiziten zu tun. »Neue, oft fundamentalistische, religiöse Gruppen (...) können sich als mächtige urbane Akteure konstituieren, wenn sie auf spezifische gesellschaftliche Strukturen mit religiös grundierten Angeboten reagieren, die in der Lage sind, Sinn zu stiften, effiziente soziale Unterstützung zu leisten oder neue Formen von Citizenship und Community zu ermöglichen. Dies hat vor allem dann Aussicht auf erfolg, wenn in einer Stadt aus dem Kolonialismus stammende Macht und Ausbeutungsstrukturen oder institutionalisierte Formen der Ausgrenzung dominieren, wenn arrogante säkulare oder traditionellreligioöse Eliten regieren, die sich nicht um die Belange de Armen oder der Einwanderer kümmern, wenn drastische Modernisierungsprozesse überkommene soziale Strukturen sprengen oder wenn globale Wanderungs- und Vernetzungsprozesse spezifische Diaspora-Gemeinschaften entstehen lassen.«
Die Unterschiede zwischen den einzelnen Regionen und Religionen sind trotz der oben erwähnten gemeinsamen Konstellationen jedoch durchaus beträchtlich. Während das Verhältnis der Gläubigen zu den Pfingstkirchen in Südamerika sehr eng und emotional zu sein scheint, ist die Beziehung von Armen z. B. zu den Moslembrüdern in Kairo, wie Asef Bayat in seinem Artikel Der Mythos der »islamistischen Armen« schreibt, eher von taktischer Natur geprägt. Man erwartet sich einfach Vorteile – wird die Erwartungshaltung enttäuscht, hält man nach anderen Gruppen und deren Angeboten Ausschau. (Im Hinblick auf das aktuelle Wahlergebnis in Ägypten – zwei islamistische Parteien sind die, wie es im Moment aussieht, mit Abstand stärksten – hoffe ich sehr, dass die These von Asef Bayat auch tatsächlich stimmt.)
Überraschend ist auch, wie unter schiedlich die Charakterisierung der Pfingstkirchen in Südamerika bzw. Nigeria ausfällt. Während in Südamerika die Armen und Marginalisierten im Zentrum stehen, sind es in Lagos/Nigeria eher die Aufsteiger und Reichen. Die Selbstdarstellung der eigenen Macht und die Demonstration des Reichtums scheint hier für die Kirchen weitaus wichtiger als Anlaufstelle für Hilfsbedürftige zu sein. Arme Gläubige können sich die z. B. medizinischen Angebote, die die Kirchen anbieten, gar nicht leisten. Umso verwunderlicher, dass der erfolg der Kirchen trotzdem (noch?) sehr groß ist.
Ziel aller Kirchen ist es, die oben erwähnten staatlichen Defizite nicht nur auszugleichen, sondern entweder gleichzeitig eigene Strukturen aufzubauen und/oder die politische Macht zu erobern. Yasmeen Arif stellt diesen Aspekt an den Beispielen Beirut und Delhi dar. Die Hisbollah ist ein gutes Beispiel, wenn es darum geht, zu zeigen, wie eine religiöse Bewegung versucht, in das durch die Schwäche des Staates entstandene Vakuum vorzustoßen und es mit eigenen Strukturen zu füllen. Yasmeen Arif berichtet, wie die Hisbollah durch rasche Hilfsangebote und ausgestattet mit ausreichenden finanziellen Mitteln den Wiederaufbau und die Reparatur der Kriegsschäden angehen konnte, bevor die staatlichen Organe sich auch nur einmal ein Bild von der Lage zu machen im Stande waren. Die Hisbollah baut(e) aber nicht nur eigene (auch militärische) Strukturen auf, sondern versucht gleichzeitig, die staatliche Macht an sich zu reißen. Am Beispiel Mumbai erläutert Julia Eckert im Interview Sie versprechen eine saubere Stadt, wie die 1966 gegründete Shiv Sena sowohl als sozialreligiöse Bewegung als auch als militante hindu-nationalistische Partei das Leben der Stadt bestimmt. Die Partei regiert Mumbai seit 1985 fast ohne Unterbrechung.
In Urban Prayers überwiegen die außereuropäischen Beispiele, sehr ausführlich wird jedoch auch die Islamisierung der Bangladeshi-Communities in London dargestellt. Neben den konkreten Beispielen bietet der Band auch theoretische Beiträge über die Aktualität der Befreiungstheologie und ein Gespräch über »Politik und Praktiken religiöser Gemeinschaften«, in dem es zwar vordergründig auch um ein konkretes Beispiel (Berlin), eigentlich aber allgemein um das stadtgesellschaftliche Engagement neuer religiöser Gruppen oder das Verhältnis zwischen dem Religiösen und dem Politischen geht. Die Forschungsgruppe, die für die Herausgabe von Urban Prayers verantwortlich ist, hat auch eine Ausstellung zusammengestellt (The Urban Cultures of Global Prayers) die noch bis 8. Jänner in der NGBK in Berlin gezeigt wird und dann von 27. Jänner bis 31. März in der Ausstellungsräumen von camera Austria in Graz zu sehen sein wird.
Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.