Schizophrenie und Alltag
Besprechung von »Transit Teheran. Pop, Kunst, Politik, Religion. Junges Leben im Iran« herausgegeben von Malu Halasa und Maziar BahariAchse des Bösen, Atomstreit, unverfrorener Antisemitismus inklusive gelebtem Israelhass, Terror und Wahlbetrug – die Nachrichten aus dem Iran, die unser Bild des Landes prägen, sind eindeutig. 2009 jährt sich die Islamische Revolution zum dreißigsten Mal und die Verhältnisse haben tiefe Spuren in der iranischen Gesellschaft hinterlassen: Die Kluft zwischen Innen und Außen, zwischen der Privatheit hinter verschlossenen Türen und dem offiziellen, nach außen gerichteten Leben wächst stetig.
Im visuellen Gedächtnis des Westens erscheint der Iran in erster Linie in Bildern der 14 Millionen Metropole Teheran, der brodelnden Hauptstadt des fundamentalistischen Gottesstaates. Genau ihr ist eine aktuelle Erscheinung des kleinen, engagierten Schweizer Salis Verlag gewidmet: Transit Teheran – Pop, Kunst, Politik, Religion. Junges Leben im Iran. versammelt eine Vielzahl von Beiträgen im Iran lebender und arbeitender KünstlerInnen, MusikerInnen, FotografInnen, FilmemacherInnen, AutorInnen, WissenschaftlerInnen und JournalistInnen, die ihr bis zur Schizophrenie widersprüchliches Dasein unter der Diktatur der religiösen Fundamentalisten abbilden. „Am besten lässt sich Teheran mit dem Begriff der Dichotomie beschreiben“, bemerken die HerausgeberInnen Maziar Bahari und Malu Halasa in ihrem einführenden Text, „das Konzept spiegelt sich in jedem Aspekt des Teheraner Alltags wider. So können iranische Rapper, Death-Metal-Rocker und Punks in Privathäusern vor einem Dutzend, ja selbst vor Hunderten von Zuhörern ihre Musik spielen, kommt aber ein Album auf den Markt, müssen Sie damit rechnen, wegen ,Verbreitung westlich-dekadenter Ideen, die das Bild des Gottestaates beschmutzen‘ vorgeladen zu werden.“
Transit Teheran liefert einen vielschichtigen Einblick in eine unbekannte Stadt und zeigt aufmüpfige Überlebensstrategien einer jungen Generation. Mit verzweifelten, satirischen, nostalgischen, realistischen und durchgängig ebenso spannenden wie berührenden Beiträgen eröffnen die AutorInnen unbekannte Blickwinkel auf ihr Teheran und ein Leben im Ausnahmezustand, geprägt von Mut, Gestaltungswillen und dem festen Glauben an die Freiheit des Geistes und eine selbstbestimmte Zukunft.
Wie vielschichtig und für Nicht-IranerInnen oft auch unbegreiflich sich der Teheraner Alltag darstellt, zeigen unter anderem eine Reihe von Beiträgen zum Leben der Frauen unter den Bedingungen der Sharia. Den Auftakt macht die Fotografin und Autorin Newsha Tavakolian mit ihrem Foto-Essay Girl Power – Wie die andere Hälfte lebt. Darin dokumentiert sie verschiedenste Lebensstadien junger Iranerinnen zwischen Verschleierungs-Ritualen, Mädchen-Fußball, Fitnessclub und Transsexualität – letztere darf im Übrigen seit den 1980er Jahren durch eine entsprechende Fatwa von Ayatollah Khomeini offiziell gelebt werden, was dem Iran nach Thailand die höchste Anzahl von Geschlechtsumwandlungen weltweit beschert. „Als Iranerin bin ich persönlich involviert, ich fotografiere gewissermaßen mein eigenes Leben“ schreibt die Künstlerin in der Erläuterung zu ihrem Beitrag. „Unsere Existenz im Iran ist paradox. (…) Auf der Straße müssen wir Kopftücher tragen und dürfen in der Öffentlichkeit keinem Mann die Hand geben, gleichzeitig wird von uns erwartet, dass wir auf Partys wie Popstars auftreten und unseren Männern Haute Cuisine servieren. (…) Nach ihren Gesetzen beträgt das Blutgeld für uns nur die Hälfte (…), aber all das hat uns zu Kämpferinnen gemacht.“
Asieh Aminis Essay Die Weißen Kopftücher. Freiheit ist ein Stadion, ein Symbol, ein politischer Akt, ein Traum berichtet vom symbolischen Kampf iranischer Feministinnen, sich den Zugang zum Teheraner Fußballstadion zu erstreiten. Aufschlussreich auch die Fotoreportage Dragnet Teheran. Diese Frauen sind das Gesetz von Abbas Kowsari und Samaneh Ghardarkhan, die über die Ausbildung und den Einsatz von Polizistinnen zur Sicherstellung der öffentlichen Ordnung sowie die Veränderungen ihrer Rolle seit der Islamischen Revolution berichten. Roya Karimi vermittelt ihre Erfahrungen in Islamschulen für Frauen. Innerhalb einer der 199 Schulen für weibliche Geistliche, während der bereits verstorbene Fotojournalist Kaveh Golestan sensible Portraits weiblicher Prostituierter aus Shar-e No zeigt, dem unter dem Schah 1975 offiziell eingerichteten Rotlichtviertel Teherans, dass 1979, dem Jahr der Islamischen Revolution, dem Erdboden gleich gemacht wurde.
Die Beiträge Bedrohtes Paradies – Aus Teherans Gartenvorstadt ist eine Baustelle geworden von Viveca Mellegard, Die Halde – An den Rändern der Stadt von Zoreh Khoshnamak und Vali Asr – Die längste Straße von Magnum-Fotograf Thomas Dworzak widmen sich den urbanen Transformationsprozessen in der stetig anwachsenden Großstadt und dem sich auch räumlich konstituierenden Gefälle in der iranischen Gesellschaft. Drogen, Kriminalität und Obdachlosigkeit prägen in den vernachlässigten Randzonen der Stadt den Alltag. Erst langsam reagieren die Machthaber mit Rehabilitierungsprogrammen und der Ausgabe von sauberen Spritzen in öffentlichen Parks auf die schätzungsweise zwei Millionen Drogenabhängigen in der Hochburg des Opium- und Heroinhandels. Verwandelte Landschaften von Abbas Kowsari und Soheila Beski widmet sich dem öffentlichen Raum und beschreibt „eine radikale Umbenennung von Monumenten, Plätzen und Straßen nach der Revolution, die einige Teheraner gefangen lässt in den sich verändernden Versionen der Vergangenheit.“
Transit Teheran verdichtet in wunderbarer Gestaltung brillante Kurzgeschichten, Reportagen, Essays und Fotostrecken junger iranischer Intellektueller zu einem reflektierten und in weiten Teilen völlig unbekannten Bild der jungen Hauptstadt, und zeichnet so eine kämpferische Generation in der Hoffnung auf Freiheit.
Für Maziar Bahari, kanadisch-iranischer Dokumentarfilmer und Mitherausgeber des beeindruckenden Bandes, hat diese im Juni 2009 ihr vorläufiges Ende gefunden: Er wurde in Teheran festgenommen und sitzt seither in Haft – ohne Anklage und ohne Lebenszeichen. Wer seine Freilassung unterstützen möchte, kann das mit einer einfachen Unterschrift tun: http://freemaziarbahari.org.
Elke Rauth ist Obfrau von dérive - Verein für Stadtforschung und Leiterin von urbanize! Int. Festival für urbane Erkundungen.