Schwellen zur Stadt
Die Bidonvilles im Frankreich des 20. und 21. JahrhundertsDas Wort Bidonville bezeichnet im Französischen eine informelle, prekäre Wohnsiedlung am Rande der konsolidierten Stadt. Ein kürzlich erschienenes Buch ruft in Erinnerung, dass Mitte der 1960er Jahre teilweise über 75.000 Menschen – hauptsächlich EinwanderInnen – in den französischen Bidonvilles lebten, bevor die Siedlungen Mitte der 1970er Jahre verschwanden (Blanc-Chaléard 2016). Seit Beginn der 2000er Jahre steigt allerdings die Zahl neuer Bidonvilles auf französischem Boden wieder. Laut DIHAL leben in Kontinentalfrankreich derzeit 16.000 Menschen in »illegalen Siedlungen, Bidonvilles und besetzten Häusern«. Trotz gewisser Kontinuitäten ist die aktuelle Problematik aber eine andere. Auf der einen Seite hat sich der sozioökonomische Kontext geändert, denn aus einer Industriegesellschaft in Vollbeschäftigung ist eine von zunehmender sozialer Ungleichheit geprägte Dienstleistungsgesellschaft geworden. Auf der anderen Seite sind große Teile der urbanen Peripherien seit den 1960er Jahren verstädtert und es gibt heute kaum noch freie, unbebaute Flächen. Und schließlich sind die BewohnerInnen der Bidonvilles im Unterschied zu früher in den Augen der Staatsgewalt und eines Großteils der Öffentlichkeit schlicht ungesetzlich. Wenngleich weiter das Ziel besteht, die Bidonvilles in Frankreich zu beseitigen, ist mittlerweile die Herangehensweise der Behörden eine ganz andere geworden. Im ersten Teil dieses Beitrags beschreiben wir die Entwicklung der Bidonvilles, die seit den 1950er Jahren de facto weitgehend von Immigranten bewohnt wurden. Deren Lage ist derzeit weitaus prekärer als damals. Im zweiten Teil thematisieren wir den staatlichen bzw. behördlichen Umgang mit den Bidonvilles.
Muriel Cohen ist Zeithistorikerin.
Marie-Claude Blanc-Chaléard ist emeritierte Professorin für Zeitgeschichte an der Université de Paris Nanterre.