Selbstorganisation als neue Kultur des zivilgesellschaftlichen Engagements in der Ukraine
Der vorliegende Text basiert auf den Schlussfolgerungen meines demnächst erscheinenden Buchs Without the State: Selbstorganisation und politischer Aktivismus in der Ukraine. Darin verfolge ich im weitesten Sinn linke, studentische und feministische Aktivist*innen vor und während der Euromaidan-Proteste 2013–2014 in Kyjiw. Meine Schlussfolgerung fokussiert darauf, wie Selbstorganisation, ein Konzept, das ich auf linkes politisches Denken zurückführe, nach dem Ende der Proteste neues Leben gewann und das politische Engagement seit 2014 weiter prägt. In seiner grundlegendsten Definition ist Selbstorganisation die Idee, dass, wenn etwas getan werden muss und eine Person dazu in der Lage ist, sie es einfach tun sollte. In diesem Beitrag werde ich untersuchen, wie dieses Konzept das politische und zivilgesellschaftliche Engagement nach dem Maidan geprägt und die Ukrainer*innen auf eine robuste Reaktion auf Putins Invasion im Februar 2022 vorbereitet hat.
2020 hatte ich ein langes Gespräch mit Andriy, einem Linken und ehemaligen Studentenaktivisten, über die Ereignisse in den Jahren seit dem Ende des Maidan. In den Jahren 2013 und 2014 war Andriy jemand, der es für wichtig hielt, an den Protesten teilzunehmen, auch wenn er nicht sicher war, was am Ende herauskommen würde. Trotz der unübersehbaren Präsenz rechtsextremer Gruppen und Aktivist*innen waren die Tausenden von Demonstrant*innen während der Mobilisierungen vielstimmig. Auch wenn ihre Stimmen nie dominierten, waren viele Linke motiviert, sich zu beteiligen, vor allem unter den Student*innen- und Frauengruppen. Trotz ihrer geringen Zahl sorgte die Beteiligung der Linken dafür, dass ihre Perspektive anerkannt wurde, insbesondere durch die Bereitschaft zur Selbstorganisation durch die Protestbewegung.
Mit einigen Jahren Abstand konnten Andriy und ich gemeinsam darüber nachdenken, was auf dem Maidan geschehen war. Seiner Ansicht nach ist die Linke als politische Kraft noch schwächer geworden und die Zuständigkeiten des Staates sowie das Gefühl der Verpflichtung des Staates gegenüber seinen Bürger*innen sind weiter geschrumpft. Auf meine Frage, warum linke Politik seiner Meinung nach keinen Aufschwung genommen hat, obwohl die Menschen immer noch von den staatlichen Akteur*innen enttäuscht werden, antwortete er:
»Es ist eine Kombination aus der Tatsache, dass von politisch eher aktiven Menschen alles Linke mit der Sowjetunion assoziiert wird, so wie es schon immer geschah. Diese Verknüpfung ist nie wirklich verschwunden. Wenn überhaupt, hat der Maidan eine Welle des Antikommunismus ausgelöst. Die Tatsache, dass die Ukraine eine Gesellschaft ist, in der die Menschen anderen Menschen nicht vertrauen, ist der Grund, warum kaum eine Bewegung Unterstützung in der Bevölkerung hat. Menschen tun so etwas nicht: du vertraust der Regierung nicht, du vertraust politischen Organisationen nicht und du vertraust ihnen nicht, dass sie dich vertreten. Die Menschen sind keine Mitglieder von irgendetwas. Du vertraust deinem engen Familien- und Freundeskreis. Ich denke, es ist für jede Bewegung schwierig, nicht nur für die Linke, die keine breite Basis und Unterstützung hat. Ich meine, alle NGOs in der Ukraine sind auf Zuschüsse angewiesen und wenn man ihnen die wegnimmt, bleibt nichts mehr übrig«.
In dem Maß, in dem neoliberale Entwicklungen dafür gesorgt haben, dass die staatlichen Organe schrumpfen und man sich nicht mehr auf staatliche Institutionen verlassen kann, wenn es darum geht, die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen, haben andere Menschen und Gruppen diese Verpflichtungen übernommen. In der Ukraine hat sich die Verbreitung der Idee der Selbstorganisationcwährend der Maidan-Proteste drastisch verändert. Am Ende der Proteste hat die Vorstellung, dass gewöhnliche Menschen ihren eigenen Interessen und denjenigen anderer besser dienen können als der Staat, jede echte Auseinandersetzung um staatliche und institutionelle Reformen zunichte gemacht. Stattdessen traten Freiwilligenorganisationen und Aktivist*innengruppen auf den Plan, die dort halfen, wo staatliche Stellen nicht helfen konnten, was zu einem bedeutenden Paradigmenwechsel in der Frage führte, wem man in der Ukraine vertrauen kann.
Der Begriff der Selbstorganisation, der ursprünglich auf einer linken Ideologie beruhte, wurde während und nach dem Maidan mit dem Begriff der Zivilgesellschaft verknüpft, wenn nicht gar gleichgesetzt. Diese diskursive Verschiebung hat es ermöglicht, die Verantwortung des Staates auf die Bürger*innen abzuwälzen, was sich während des Maidan als möglich und erfolgreich erwiesen hat und zwar mit der zusätzlichen legitimierenden Vorstellung, dass die Zivilgesellschaft selbst eine Erweiterung der Werte und Ziele des Maidan ist (siehe Shukan 2016). Diese Verschiebung hat zwei zusammenhängende Ergebnisse: Erstens leiden die Organe und Institutionen des Staates nicht unter dem mangelnden Vertrauen der Bürger*innen, weil sie die Verantwortung für bestimmte Bedürfnisse auf Gruppen übertragen haben, die nun als vertrauenswürdig wahrgenommen werden. Zweitens ist der Begriff der ›Zivilgesellschaft‹ selbst unscharf geworden. Viele Gruppen, die sich auf den Maidan berufen, handeln jetzt im Namen des ›Volkes‹, würden aber sicherlich nicht in die Kategorie einer NGO oder einer anderen offiziellen Institution fallen.
Um diesen Wandel aufzuzeigen, verfolge ich die Entwicklung des Konzepts der Selbstorganisation nach dem Ende des Maidan. Linke haben selbst regelmäßig über die möglichen Auswirkungen der Verbreitung der Prinzipien der Selbstorganisation nachgedacht; im Wesentlichen bedeutete dies die Wertschätzung der Ideen der Menschen und das Vertrauen in ihre Fähigkeit, ihre Ziele zu erreichen. Ich vermute, dass die Ausbreitung der Selbstorganisation auf dem Maidan in lokal begrenzter Form begann. Ab dem Zeitpunkt als die Proteste als erfolgreich und effektiv angesehen wurden, breitete sich die Selbstorganisation noch weiter aus und überlagerte sich zunächst mit der staatlichen Praxis und Politik, um sie dann zu überholen. Unter Linken führte dies zu einer völligen Neuplanung der Möglichkeiten für linke Formen des Regierens und für linke Formen des Aktivismus. Gleichzeitig hat dies auch zu einer breiteren gesellschaftlichen Neubewertung des ukrainischen Staates geführt. Entscheidend ist, dass der Krieg in der Ostukraine, der nur wenige Monate nach dem Ende der Euromaidan-Proteste begann, den Raum für die Entwicklung neuer Formen der Selbstorganisation und die Integration neuer Arten von Freiwilligenarbeit in den Staat nach dem Maidan eröffnete.
Der Krieg von 2014 hatte einen starken Einfluss auf die radikale Linke und führte zu großen Spaltungen in der Frage der Unterstützung durch Freiwillige und der Möglichkeit einer einheitlichen linken Antikriegsposition. Das linke Konzept der Selbstorganisation, das die überparteiliche politische Mobilisierung fördert, liegt diesen politischen Veränderungen nach dem Maidan auf entscheidende Weise zugrunde. In der Schlussfolgerung des Buchs untersuche ich drei Hauptwege der Expansion der Selbstorganisation seit dem Ende des Maidan. Hier werde ich nur auf einen eingehen: die Art und Weise, wie der Konflikt in der Ostukraine durch unzählige selbstorganisierte militärische und zivile Initiativen unterstützt wurde und wird. Ich sehe diese Initiativen als eine Erweiterung der Prinzipien des Maidan und als eine mögliche Kritik an den Grenzen der Möglichkeiten des Staates, auch wenn sie für die Ukraine kämpfen.
Post-Maidan-Verschiebungen: Staaten, Bürger*innen, Zivilgesellschaft
Der Maidan führte zu einer Neuverhandlung des Verhältnisses zwischen Bürger*in und Staat, insbesondere im Hinblick darauf, was von den Akteur*innen, die die jeweilige Sphäre repräsentieren, erwartet werden kann und erwartet werden sollte. Ohne die symbolische Rolle des Konzepts der Zivilgesellschaft zu vergessen, zeigen die sich wandelnden Maßstäbe der Zivilgesellschaft in der Ukraine nach dem Maidan, dass sich die gesellschaftliche Teilhabe verändert hat, weil die Selbstorganisation während der Mobilisierungen so effektiv war (Krasynska & Martin 2017; Udovyk 2017; Way 2014). In der Umfrage einer ukrainischen Wochenzeitung aus dem Jahr 2014, in der die Menschen gefragt wurden, wem sie ihr Vertrauen schenken, rangierte der ›Freiwilligensektor‹ – zu dem Ehrenamtliche, freiwillige Militärbataillone, die Zivilgesellschaft und die Kirche gehören – höher als der Staat (Puglisi 2015b). Diese Verschiebung bedeutet nicht, dass die ukrainische Zivilgesellschaft robuster ist oder dass die Ukraine eine stärkere Demokratisierung erfährt. Vielmehr vermute ich, dass sich die Ansichten der Menschen über die Zivilgesellschaft als Konzept nach dem Maidan selbst verändert haben.
Während dieser dokumentierte Einstellungswandel eine neue Diskussion über die Zivilgesellschaft in der Region verdient, ist es wichtig anzuerkennen, dass die ukrainischen Bürger*innen Freiwillige als verantwortungsvoller, effektiver und wertvoller als den Staat ansehen. Im Jahr 2014 bedeutete dies nicht, dass die Ukrainer*innen jemals ein besonderes Vertrauen in den Staat hatten; es zeigte vielmehr, dass sie glaubten, dass es Menschen gibt, denen man vertrauen kann, solange sie mit einer nichtstaatlichen Einrichtung oder Idee verbunden sind. Die neue Art von Vertrauen, die sich 2014 entwickelte, war für den sich zurückziehenden Staat von Vorteil: Die positive Bewertung von Freiwilligenarbeit und zivilgesellschaftlichen Programmen bedeutete, dass die Regierungsorgane sich aus der Verantwortung zurückziehen konnten, wenn NGOs und Freiwillige stattdessen die Bedürfnisse der Menschen erfüllen konnten. Dies ist eine praktische Maßnahme, wenn man bedenkt, dass die ukrainische Regierung im Rahmen des Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Union gezwungen war, ihre Sozialprogramme zu reduzieren. Auch wenn sich die Freiwilligeninitiativen aus Menschen zusammensetzen, die den Einschränkungen des Staates kritisch gegenüberstehen, können solche Programme letztlich dem Staat dienen. Der Einmarsch Russlands 2022 hat die ukrainischen Bürger*innen jedoch dazu veranlasst, ihre Haltung gegenüber staatlichen Akteur*innen neu zu verhandeln, insbesondere angesichts der Resonanz auf Wolodymyr Selenskyjs globale Appelle im Namen der Ukraine. Während die Ukrainer*innen die Bedeutung staatlicher Akteur*innen und Institutionen für die Ukraine anerkennen, setzen sie weiterhin auf selbstorganisierte Aktionsformen, um die Bedürfnisse derjenigen zu befriedigen, die an der Front kämpfen.
Die Anti-Terrorist Operation Zone (ATO) und eine linke Antikriegsbewegung
Das Auftreten der Separatist*innen in den östlichen Regionen löste im April 2014 eine lange Diskussion unter Linken aus, von denen einige zunächst in Erwägung zogen, diese Gruppen als staatsfeindliche Organisationen zu unterstützen. Als jedoch klar wurde, dass die Separatist*innen in den Regionen Donets’k und Luhans’k ihre Prinzipien auf militärische Männlichkeit, orthodoxe Familienstrukturen und pro-russische Gefühle stützten, distanzierten sich Linke schnell von der Kritik der Separatist*innen am ukrainischen Zentralstaat. Die Linken waren jedoch nicht in der Lage, eine einheitliche Antikriegsplattform zu präsentieren; die Einstellung zum Krieg wurde zur wichtigsten Trennlinie zwischen linken Aktivist*innen. Dies lässt sich zum Teil durch die weit verbreitete freiwillige Unterstützung der Kriegsanstrengungen erklären, die für Linke eine Herausforderung darstellte, eine einheitliche Position in ihrer Haltung zum Konflikt zu entwickeln.
Vitaly (ein Pseudonym) war einer von mehreren linksradikalen Aktivist*innen, die sich freiwillig meldeten, um im Konflikt zwischen den ukrainischen und den von Russland unterstützten separatistischen Kräften auf der Seite der ukrainischen Armee zu kämpfen. Er meldete sich als Freiwilliger für eine medizinische Spezialeinheit[1], die in der Anti-Terrorist-Operation Zone (ATO) in der Ostukraine eingesetzt wurde. Als Vitaly diese Arbeit in einem Facebook-Posting öffentlich machte, schrieb er, dass es sich um eine Abteilung medizinischer Freiwilliger handelt, die im Gebiet der ATO medizinische Nothilfe und die Evakuierung von Verwundeten geleistet hat. Der ausgebildete Ingenieur für medizinische Ausrüstung, der in Krankenhäusern in fast allen Regionen der Ukraine gearbeitet hat, meldete sich freiwillig für die Schulung von Ausbilder*innen für die Versorgung von Gefechtsopfern in der ATO und für Soldat*innen. Er schrieb ausdrücklich, dass er ›nicht‹ in der Armee diene oder für andere staatliche oder private Sicherheitskräfte arbeite. Stattdessen sei er durch seine früheren Erfahrungen als Aktivist und den Ereignissen der letzten zwei Jahre in der Ukraine motiviert, wobei er auf die Massenmobilisierungen von
2013–2014 verwies. Er bedankte sich bei allen, die seine Entscheidung unterstützt hatten und bat die Menschen, seine Entscheidung zu respektieren: »Wenn ihr das völlig inakzeptabel findet«, schrieb er, »seid anständig und entfernt mich aus eurem Freundeskreis.«
Seit 2014 besteht die ›Seite der ukrainischen Armee‹ aus staatlich finanzierten Militäreinheiten sowie umfangreicher Unterstützung durch unter Vertrag stehende freiwillige Militärbrigaden, von denen viele auf dem Maidan entstanden sind. Die ukrainischen Sicherheitskräfte wurden sowohl durch die Auflösung der einheimischen Spezialeinheiten (einschließlich der Berkut, einer Spezialeinheit der ukrainischen Polizei, auf dem Maidan gegen die Demonstrant*innen eingesetzt wurde) als auch durch den Übertritt von Polizist*innen und anderen Sicherheitskräften auf die Seite der Separatist*innen im Osten stark beeinträchtigt (Puglisi 2015a). Im März 2015 zählte Rosaria Puglisi 40–50 Freiwilligenbataillone unterschiedlicher Größe, die die ukrainische Armee unterstützen; im April 2016 zählte Mykhailo Minakov 30 Bataillone mit 13.500 Mitgliedern (2016, S. 4).[2] Sowohl die freiwilligen als auch die Armeesoldat*innen werden »dank der Großzügigkeit von Freund*innen und Familien sowie des unermüdlichen Aktivismus des breiten Netzwerks zivilgesellschaftlicher Organisationen, das zu Beginn der Feindseligkeiten im Donbass entstanden ist, eingekleidet, ausgerüstet und verpflegt« (Puglisi 2015a, S. 15). Während ein Großteil der Arbeit an der Front, wie Vitalys taktische Versorgung von Gefechtsopfern, von Männern gemacht wird, hat Natalia Stepaniuk (2018) dokumentiert, dass die Nachkriegsbetreuung – einschließlich der psychologischen Betreuung – in die Hände von Frauen fällt.
Alle im Winter und Frühjahr 2014 gebildeten Brigaden wurden schließlich offiziell in die Struktur des Verteidigungsministeriums integriert, sodass ihre Teilnehmer*innen Mitglieder des ukrainischen Militärs wurden (Lebedew 2016; Minakow 2016). Zwei weitere Entwicklungen stellten jedoch den Erfolg dieser Taktik der Integration ›selbstorganisierter‹ Bataillone in offizielle Strukturen in Frage. Erstens schufen mehrere Bataillone zivile politische Strukturen in Form von Parteien oder wurden zu solchen; dazu gehört zum Beispiel das Asow-Bataillon, eine rechtsextreme Gruppe, deren zivile Plattform dieselbe Ideologie vertritt wie ihr militärisches Korps.[3] Vor und nach den Maidan-Protesten sahen sich Linke häufig mit Gewalt durch rechtsextreme Gruppen konfrontiert, was es für linke Positionen aufgrund der Gefahr, die mit ihrer Unterstützung verbunden war, schwierig machte, an Verbreitung zu gewinnen. Dabei handelte es sich manchmal um einzelne, gezielte Angriffe auf linke Aktivist*innen, aber auch um Angriffe auf Demonstrationen (wie feministische oder Pro-LGBT+-Proteste) und linke Räume.
Zweitens hatten oligarchische Gruppen ein starkes Interesse daran, Einfluss auf freiwillige Militärbrigaden zu gewinnen, insbesondere in den östlichen Regionen nahe der Front. Mykhailo Minakov beschreibt, wie die »organisatorische Flexibilität« dieser oligarchischen Gruppen (2016, S. 18) es ihren Führern ermöglichte, ihre Positionen je nach dem politischen Klima des Landes zu wechseln. Während des Maidan sprachen sich wichtige Oligarchen wie Ihor Kolomois’kyi für die Demonstrant*innen aus, um sich und seine Nutznießer vom Janukovyč-Regime zu distanzieren; in den Jahren nach dem Maidan setzten Kolomois’kyi und andere diesen Legitimationsanspruch fort, indem sie Geld für die Truppen sammelten und sie auch anderweitig unterstützten (Minakov 2016, S. 19). Genauso wie selbstorganisierte Selbstjustizgruppen ihre eigene Legitimität beanspruchten, indem sie für die »Werte des Maidan« warben, tun oligarchische Gruppen weiterhin dasselbe und erlangen auf diese Weise die Kontrolle oder zumindest den Einfluss auf die Freiwilligenbrigaden, selbst nachdem diese offiziell in das Verteidigungsministerium integriert wurden.
Während die Freiwilligenbataillone vor allem in den von Puglisi sogenannten »Funktionen für Recht und Ordnung« tätig waren, unter anderem an Kontrollpunkten und in befreiten Gebieten, haben diese Bataillone sowohl an Bekanntheit als auch an »Vertrauen in der Bevölkerung« gewonnen – sie »rangieren nach den Organisationen der Zivilgesellschaft und vor der Kirche und der Armee an zweiter Stelle der Institutionen, denen die Ukrainer*innen am meisten vertrauen« (Puglisi 2015a, S. 13). Puglisi argumentiert, dass ihre Popularität zum einen darauf zurückzuführen ist, dass diese Bataillone den Geist des Maidan zu verkörpern scheinen, zu dem auch das Bekenntnis zur Selbstorganisation gehört, und zum anderen darauf, dass diese Gruppen ein Maß an Transparenz versprechen, das die ukrainische Regierung und damit auch das Militär nicht bieten können. Darüber hinaus haben die Beiträge der Bürger*innen zum Militär dazu geführt, dass diese und verwandte Institutionen – insbesondere diejenigen, die sich mit der Beschaffung von Waffen und Nachschub für die Streitkräfte befassen – ihnen gegenüber rechenschaftspflichtiger geworden sind (2015b, S. 14).
Als der Konflikt ausbrach, so Natalia Stepaniuk, »suchte sich eine Gruppe von Freiwilligen oft ein Freiwilligenbataillon oder eine Armeeeinheit aus (aufgrund familiärer oder privater Bindungen usw.) und lieferte alles, was benötigt wurde (angefangen von Wasser, Socken und Lebensmitteln bis hin zu militärischer Ausrüstung, Fahrzeugen und Uniformen). Die Bandbreite der Unterstützung ist sehr groß!« (persönliche Mitteilung). Außerhalb der Ukraine gibt es viele Beispiele von amerikanischen und kanadischen Personen und Organisationen, die Geld, Ausrüstung und medizinische Hilfsgüter gesammelt haben, um sie sowohl dem ukrainischen Militär als auch den Freiwilligenbataillonen zukommen zu lassen. Die Historikerin Olesya Khromeychuk berichtete von den Bemühungen einer Freiwilligen, Maria (Masha) Berlinska, ukrainische Soldat*innen im Umgang mit Drohnen zu schulen, die von Diaspora-Organisationen aus aller Welt gespendet wurden (Khromeychuk 2020). Zur gleichen Zeit, als Berlinska für mehr staatlichen Schutz der an der ATO teilnehmenden Frauen eintrat, bildete sie Militärbrigaden im Einsatz von Drohnen für Aufklärungszwecke aus, damit sie keine Soldat*innen einsetzen mussten.
Khromeychuk schrieb:
»Ich bewunderte ihre Entschlossenheit. Aber mir wurde auch klar, dass der Staat umso mehr das Gefühl haben würde, nichts tun zu müssen, je mehr Mascha und Leute wie sie die Aufgabe der Staatsverteidigung übernahmen, die eigentlich vom professionellen Militär hätte erledigt werden müssen. Als ich ihr vorwarf, dem Staat eine passive Rolle zu ermöglichen, während die Freiwilligen die harte Arbeit erledigten, fragte sie mich, wie es den Menschen an der Front helfen würde, wenn sie aufhörte, Drohnen zu fliegen oder andere auszubilden«. (Khromeychuk 2020)
Khromeychuk und Berlinska heben genau das Dilemma der Freiwilligenarbeit in der ATO hervor: Wenn die Freiwilligenarbeit dazu beitragen kann, Leben zu retten, wie kann man es dann rechtfertigen, nicht zu helfen, selbst wenn dies zu einer Vertiefung des systemischen Rückzugs des Staates beiträgt?
Eine andere Art der Hilfe:
Die Kriegsreaktion der Ukraine
»Hallo. Schön, von dir zu hören. Bei mir ist alles in Ordnung. Ich bin der Territorialen Verteidigung beigetreten. Im Moment ist alles ruhig.«
Da ich Vitaly seit mehr als einem Jahrzehnt kenne, war ich nicht überrascht, als ich im März 2022 seine Nachricht erhielt, in der er bestätigte, was ich bereits vermutet hatte, nämlich dass er sich nach dem erneuten Einmarsch Russlands den Territorialen Verteidigungskräften angeschlossen hat. Die ukrainische Reaktion auf diesen Krieg hat in weiten Teilen der Welt Erstaunen hervorgerufen. Man hatte nicht erwartet, dass es der ukrainischen Armee gelingen würde, Kyjiw und andere Großstädte vor den russischen Streitkräften zu verteidigen, geschweige denn Städte und Dörfer von den russischen Streitkräften zurückzuerobern, wie es im April 2022 geschehen ist. Die Ukrainer*innen haben sich in Scharen freiwillig zum Militärdienst gemeldet, ebenso wie zu den Territorialen Verteidigungskräften, die im ganzen Land mobilisiert werden und von der Befreiung zuvor besetzter Städte bis zur humanitären Evakuierung alles leisten. Diejenigen, die sich entschieden haben, in der Ukraine zu bleiben, organisieren humanitäre Hilfsmaßnahmen, einschließlich der Lieferung notwendiger Güter und Medikamente an die belagerten Orte, und organisieren Mitfahrgelegenheiten, wenn Informationen über Fahrzeuge zur Beförderung von Menschen an sichere Orte verfügbar sind. Ukrainer*innen, die sich bereits im Ausland befinden, helfen bei der Organisation von Ressourcen, die den Geflüchteten zur Verfügung stehen, wie z. B. Informationen über Unterkünfte für Menschen, die sich neu ansiedeln müssen.
Diese Reaktion ist für viele von uns, die den Verlauf der Euromaidan-Proteste 2013–2014 beobachtet haben, keine Überraschung. Wenn Menschen die Fähigkeit oder die Ressourcen haben, etwas zu tun, und diese Sache getan werden muss, tun sie es einfach. Sie warten nicht darauf, dass die Regierung oder eine internationale Organisation kommt, um die Bedürfnisse der Menschen zu erfüllen, wenn sie es selbst tun können. Die Wurzeln der Euromaidan-Proteste lagen in der Selbstorganisation, und die weit verbreitete Selbstorganisation in den Jahren 2013 und 2014 hat das Engagement der Menschen für die politische Beteiligung in der Ukraine seit dem Ende der Proteste geprägt.
Als ich im Jahr 2021 mit neuen Forschungen in der Ukraine begann, die sich mit den langfristigen Auswirkungen der 2014 begonnenen Binnenvertreibung befassten, verwiesen viele der von mir befragten Personen, insbesondere Ukrainer*innen, die in internationalen Organisationen und NGOs für Binnenvertriebene arbeiteten, auf die Selbstorganisation. Eine Frau aus Dnjepr, einer Stadt in der Ostukraine, erzählte mir, wie die Stadt ihr erlaubte, ein ungenutztes Wohnheim umzuwidmen, um Binnenvertriebene aus Donets’k und Luhans’k unterzubringen, die in die Stadt strömten. Gewöhnliche Menschen machten sich daran, das Wohnheim zu säubern, Tapeten anzubringen, Schimmel zu entfernen und grundlegende Dinge wie Bettlaken und Handtücher mitzubringen, damit sich die Vertriebenen wohlfühlen konnten. Diese selbstorganisierte Initiative bestand bereits, bevor ukrainische Regierungsbeamte die Verteilung von Dienstleistungen an die Binnenvertriebenen übernahmen. Die Frau aus Dnjepr, die diese Geschichte erzählte, sagte mir, dass Vertreterinnen verschiedener Ministerien zu ihr kamen, um über die Initiative zu sprechen, und dass keiner von ihnen die Aufgabe übernehmen wollte, Binnenvertriebenen zu helfen. Die meisten Regierungsbeamtinnen zogen es vor, solche Aufgaben von selbstorganisierten Gruppen erledigen zu lassen.
Mit anderen Worten: Die Selbstorganisation ist in der Ukraine sehr lebendig und ein wichtiger Teil der Reaktion auf die russische Invasion. Die Ausbreitung der selbstorganisierten Initiativen auf dem Maidan hat die Menschen darauf vorbereitet, dass es viele Möglichkeiten gibt, sich zu engagieren. Iwan Schmatko, ein ukrainischer Kriminologe, der zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs in der Ukraine forschte, beschrieb die Bedeutung informeller Praktiken und lokaler Kenntnisse für die Wirksamkeit selbstorganisierter Mobilisierungen:
»Während die Streitkräfte weitgehend mit dem Krieg selbst beschäftigt waren, flohen Millionen von Ukrainer*innen aus ihrer Heimat. Gleichzeitig meldeten sich mehr als hunderttausend Menschen zu den Territorialen Verteidigungskräften (TDF), einem Netz lokaler Freiwilligeneinheiten, die die Armee beim Schutz von Städten und Dörfern unterstützen sollten. Diese Freiwilligen wurden oft nur mit automatischen Gewehren ausgestattet. Tausende von Ukrainer*innen organisierten sich, um Binnengeflüchtete mit Lebensmitteln, Transportmitteln und Unterkünften zu helfen. Außerdem versorgten sie die TDF mit kugelsicheren Westen, medizinischer Ausrüstung und Kleidung. Bei all dem stützten sich die Freiwilligen fast ausschließlich auf informelle Netzwerke und nicht auf staatliche Einrichtungen.« (Schmatko 2022)
Oder, wie die Anthropologin Maryna Nading meinte, als sie die Hunderttausenden von Menschen beschrieb, die sich organisiert haben, um einander zu helfen: »Ich habe nach einem besseren Wort als Selbsthilfe gesucht, um diese nichtlineare, chaotische Mobilisierung zu beschreiben. ›Selbst‹ hat sich ausgeweitet und einzelne Familien und Nachbarschaften zu einer viel größeren Einheit zusammengefasst, die Kontinente umspannt« (Nading 2022). In der Tat ist die Selbstorganisation in dieser Zeit des Krieges eine Überwindung der Individualität. Sie geht über die vielen ›Selbst‹ hinaus, die außerhalb staatlicher Instanzen agieren, wie es bei der Selbstorganisation des Euromaidan der Fall war. Die Selbstorganisation ist Teil des Impulses, die Existenz der Ukraine zu rechtfertigen.
Die Hauptfrage meines Textes, der eine Perspektive kombiniert, die von 2014 über die erste Invasionsperiode bis 2022 reicht, lautet: Wohin geht der Staat? Während ich zuvor
argumentiert habe, dass selbstorganisierte Reaktionen es Regierungen und Politiker*innen ermöglichen könnten, die Bereitschaft der Menschen, ihre Zeit und ihr Fachwissen freiwillig zur Verfügung zu stellen, auszunutzen, können wir nun die Reaktionen der Menschen im Dienst einer neuen Idee des Staates sehen. In dieser Sichtweise kämpft die Existenz der Ukraine gegen die imperiale russische Macht, die der Ukraine die Selbstbestimmung verweigert, sodass Selbstorganisation aller Art dem ukrainischen Staat dient.
Dieser Artikel basiert auf einem Vortrag, den Emily Channell-Justice bei einer Veranstaltung des IWM am 28. April 2022 in Wien gehalten hat.
Fußnoten
Auf Ukrainisch: okrema medychna bryhada shvydkoho pryznachennia. ↩︎
Da das ukrainische Militär keine Männer über 55 Jahren einberuft, handelt es sich bei den Wehrpflichtigen in der Regel um junge Männer (größtenteils zwischen 18 und 25 Jahren; die Einberufung gilt nicht für eingeschriebene Studenten). Für die Freiwilligenbrigaden galten diese Regeln jedoch nicht, sodass viele dieser Teilnehmer Mitte 50 und 60 Jahre alt waren, was die Statistiken über das Alter der Kämpfer verzerrt. ↩︎
Siehe Spil’ne 2016, Bericht über einen Angriff auf eine antifaschistische Demonstration durch das Asow- ›Zivilkorps‹ und eine Liste von weiteren rechtsextremen Überfällen. ↩︎
Emily Channell-Justice ist Direktorin des Temerty Contemporary Ukraine Program am Ukrainian Research Institute der Harvard University.
Khromeychuk, Olesya (2020): Am Rande eines europäischen Krieges, wer darf den Staat verteidigen? Open Democracy. Verfügbar unter: https://www.opendemocracy.net/en/odr/who-gets-defend-state-ukraine.
Krasynska, Svitlana, & Martin, Eric (2017): The Formality of Informal Civil Society: Ukraine’s EuroMaidan. In: Voluntas 28, S. 420—449.
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