Dario Azzellini

Ricardo Vaz


Ricardo Vaz: In deinem Buch schreibst du, dass es in Venezuela sowohl einen Top-down- als auch einen Bottom-up-Prozess gibt. Wie erklärst du diese zweigleisige Entwicklung?
Dario Azzellini:      Im Allgemeinen ist es so, dass manche Leute die Vorstellung haben, der Wandel käme von oben. Man müsse die Staatsmacht und die Regierung übernehmen, dann könne man alles Top-down ändern. Andere widersprechen und verfechten die Ansicht, dass eine Basisbewegung von unten agieren muss und auf diese Weise den Staat überwinden kann.
Ich denke, das Beispiel Venezuela zeigt, dass der Staat da ist, ob man es will oder nicht. Er verschwindet nicht einfach, indem man ihn ignoriert. Andererseits haben wir auch gesehen, dass, wenn man versucht, etwas von oben zu verändern, ohne selbstorganisierte Strukturen in der Gesellschaft zu haben, die sie stützen, sich das Bewusstsein der Menschen nicht wirklich verändert und alles wie ein Kartenhaus zusammenfallen kann, wenn die Staatsmacht plötzlich verloren geht.
Charakteristisch für einige der jüngsten Prozesse in Lateinamerika und insbesondere in Venezuela mit all seinen Schwierigkeiten und Widersprüchen ist die Kombination von Veränderungen und Reformen von oben mit einer starken Selbstorganisation auf lokaler Ebene. Wenn wir uns erfolgreiche Beispiele besonders in Venezuela ansehen, von den rückeroberten Betrieben unter ArbeiterInnenkontrolle (RBA)[1] bis hin zu den lokalen Selbstverwaltungen durch die kommunalen Räte und die Comunas, waren es Strukturen, die von der Bevölkerung vor Ort geschaffen und später von Hugo Chávez aufgegriffen und in Regierungspolitik umgesetzt wurden.
Der zweigleisige Ansatz bedeutet, dass es gleichzeitig Bemühungen um Veränderung von oben und von unten gibt. Es kann in staatlichen Institutionen eine ottom-up-Logik vorherrschen, ebenso wie es in einigen Basisbewegungen eine hierarchische Top-down-Konzeption gibt. Es ist also komplizierter, als es scheint.

RV: Welche Widersprüche treten bei dieser Konstellation auf?
DA:      Es gibt starke Widersprüche und immer noch ein beständiges Wechselspiel von Kooperation und Konflikt. Denn es handelt sich um zwei völlig widersprüchliche Logiken, auch wenn die Ziele übereinstimmen. Die Logik einer Institution äußerst sich stets darin, alles mit Statistiken zu bewerten. Die soziale Logik lässt sich jedoch oft nicht in Zahlen übertragen. Als ich in Venezuela mit kommunalen Räten arbeitete, konnte man zum Beispiel die Communities dazu bringen, sich einmal pro Woche zu treffen, um gemeinsam einen Film anzusehen und dann zu diskutieren, oder mit dem Kommunalen Rat einer anderen Community in einigen Fragen zusammenarbeiten, um beispielsweise einen Konflikt zu lösen.
Gleichzeitig muss sich aus institutioneller Sicht ein Regierungsorgan oder ein Ministerium, das für den Aufbau dieser Kommunalen Räte zuständig ist, auf der nächsten institutionellen Ebene bewähren, es muss etwas Messbares vorweisen. Das Ansehen eines Films oder die Zusammenarbeit mit der Nachbargemeinde lässt sich schwer in einer Statistik ausdrücken. Aber wenn dieselbe Gemeinde eine zwei Kilometer lange asphaltierte Straße baut, dann ist das eine tolle Sache! Sie können über die neue Straße, die verwendeten Kubikmeter Asphalt und das ausgegebene Geld berichten, um zu zeigen, dass sie etwas getan haben. Aus einer sozialen und politischen Logik heraus ist es jedoch viel wertvoller, einen Film anzusehen oder mit einer anderen Gemeinde zusammenzuarbeiten.
Die Logik der Institution ist immer eine Logik der Repräsentation und stellt jedes nicht repräsentative Organ in Frage, auch wenn es über eine formale Anerkennung verfügt. Für jemanden, der in einer Institution sitzt und seinem Chef und seiner Institution erklären muss, was er getan hat, ist es zwecklos, die Bevölkerung entscheiden zu lassen. Was ist, wenn sie falsch entscheidet? Deshalb kann er sich veranlasst fühlen, selbst zu entscheiden, was das Beste ist. Diese widersprüchliche Logik existiert immer. Hinzu kommt der Widerspruch einer Machtasymmetrie. Die Institutionen kontrollieren die Finanzen und haben privilegierten Zugang zu den Medien und anderen institutionellen Ebenen. Daher muss diese Machtasymmetrie stets im Auge behalten werden.
Zwischen der konstituierenden Macht (ArbeiterInnen, Basisbewegungen usw.) und der konstituierten Macht (staatliche Institutionen) herrscht eine ständige Logik des Konflikts und der Kooperation. Das ist der Motor der Geschichte. […]

RV: Mit Beginn der Bolivarischen Revolution und der Verfassung von 1999 startete ein neuer Schwerpunkt für Partizipation und eine protagonistische Demokratie[2]. In diesem Programm gab und gibt es mehrere Experimente, einige waren erfolgreich, andere nicht so sehr. Das änderte sich mit den so genannten Kommunalen Räten (consejos comunale). Warum waren die Kommunalen Räte die erste Institution, die wirklich Erfolge verzeichnen konnte?
DA:      Schon seit den frühen 2000er-Jahren hat die bolivarische Regierung Venezuelas über Mechanismen der Beteiligung der Bevölkerung an institutionellen Entscheidungen nachgedacht. Die ersten Beispiele spiegelten Experimente wider, die an anderen Orten schon existierten, wie beispielsweise partizipative Budgets. Dann begann die Regierung mit Experimenten zur Schaffung von Gremien, um VertreterInnen von Institutionen wie Stadtverwaltungen mit solchen von Basisorganisationen zusammenzubringen. Diese Versuche sind gescheitert, weil es sich immer noch vorrangig um repräsentative Gremien mit einer sehr deutlichen Machtungleichheit oder -asymmetrie handelte. Dieser Umstand machte es unmöglich, irgendeine Art von Basisautonomie oder Entscheidungsfindung zu etablieren.
Diese Schwierigkeiten existieren nicht nur in Gemeinden mit oppositionellen BürgermeisterInnen, sondern auch in denen von Chavistas (RegierungsanhängerInnen). Die Kommunalen Räte waren der erste Versuch, diese Strukturen so weit wie möglich zu trennen. Kommunalen Räte sind für ein selbst gewähltes Territorium verantwortlich. In städtischen Gebieten umfassen sie 150–200 Familien oder Wohneinheiten, in ländlichen Gebieten 20–30 und in indigenen Gebieten, die noch weniger dicht besiedelt sind, 10–20. Sie entscheiden selbst, welches Gebiet zur Nachbarschaft gehört. Der Kommunale Rat ist die Versammlung der Menschen dieses Gebietes. Er entscheidet über alle Angelegenheiten.
Die Kommunalen Räte bilden je nach Bedarf Arbeitsgruppen zu verschiedenen Themen: Infrastruktur, Wasserversorgung, Sport, Kultur usw. Diese Arbeitsgruppen erarbeiten Vorschläge, über die dann in der Nachbarschaftsversammlung abgestimmt wird, um zu ermitteln, welche die wichtigsten sind. Die Projekte werden durch öffentliche Institutionen finanziert.
Die dafür geschaffene Finanzierungsstruktur ist nicht mehr an die repräsentativen Institutionen auf lokaler Ebene gebunden, was sie in einen direkten, ungleichen Wettbewerb gebracht hätte. Stattdessen sind sie auf nationaler oder zumindest regionaler Ebene angesiedelt. Das schafft die Möglichkeit nachbarschaftszentrierter und unabhängiger zu planen und zu entscheiden. Wie viele Kommunale Räte gibt es in Venezuela? Und wie kommt es in Folge zu den Comunas?

Bilduntertitel
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RV: Wie viele Kommunale Räte gibt es in Venezuela? Und wie kommt es in Folge zu den Comunas?
DA:      Heute gibt es offiziell 47.000. Das ist natürlich eine große Zahl und ich glaube nicht, dass sie alle als demokratische Nachbarschaftsversammlungen aktiv sind. Es wird viele geben, die derzeit vermutlich nicht wirklich funktionieren, besonders in der aktuellen Wirtschaftskrise. Andere werden von ein paar AktivistInnen betrieben, die über die Unterstützung, aber nicht über eine aktive Beteiligung der Community verfügen. Viele andere arbeiten jedoch tatsächlich als Nachbarschaftsversammlungen.
Der nächste Schritt war die Gründung von Comunas, die ebenfalls selbstbestimmt durch lokale Initiativen entstanden sind. Sie entsprechen nicht unbedingt den offiziellen territorialen Verwaltungseinheiten. Sie können sich über verschiedene Gemeinden oder sogar Länder erstrecken. In den Vororten von Caracas gibt es zum Beispiel Communities, die formal zum Bundesstaat Vargas, der an der Küste liegt, gehören, aber wegen der dazwischen liegenden Bergkette gibt es nicht einmal eine Straße, die sie mit Vargas verbindet. Ihre Infrastruktur und kulturellen Anbindungen verknüpfen sie mit der Stadt Caracas, so dass sie zusammen mit den Gemeinden, die offiziell Teil von Caracas sind, Comunas bilden.
Comunas in städtischen Gebieten bestehen in der Regel aus 25–40 Kommunalen Räten, in ländlichen Gebieten zwischen 6–10 oder 15. An ihnen nehmen nicht nur verschiedene Kommunale Räte teil, sondern auch anderer Organisationen, die auf dem Territorium tätig sind. Dabei kann es sich um Bauernverbände, ein Gemeinschaftsradio oder Organisationen wie die Corriente Revolucionaria Bolívar y Zamora (CRBZ) handeln. Alle auf dem Gebiet aktiven Organisationen nehmen an den Versammlungen der Comunas teil.

RV: Wie funktionieren Comunas?
DA:      Auch eine Comuna ist schlussendlich eine Versammlung, die Raum gibt, um Vorschläge zu koordinieren und weiterzuentwickeln. Die Grundsatzentscheidungen werden nach wie vor in den Kommunalen Räten getroffen. Der nächste Schritt darüber hinaus wäre eine kommunale Stadt, die nicht unbedingt als Stadt strukturiert ist, sondern aus verschiedenen Comunas besteht. Es gibt bereits einige kommunale Städte, auch wenn sie noch keine rechtliche Grundlage haben.
Das ist ein wiederkehrendes Muster. Die Kommunalen Räte haben ihren Ursprung an der Basis. Sie hatten unterschiedliche Namen, einige hatten sogar institutionelle Unterstützung. Es gab jedoch ursprünglich kein Gesetz, das einen rechtlichen Rahmen schuf. Dann sah Chávez diese Versammlungen und nannte sie Consejos Comunales (Kommunale Räte). Als 2006 ein Gesetz ausgearbeitet wurde, gab es bereits etwa 5.000 dieser Räte. Dasselbe geschah mit den Comunas. Sie wurden aufgebaut, weil die Communities eine größere Struktur brauchten, um über größere Projekte zu entscheiden, und als das Gesetz der Comunas verabschiedet wurde, gab es bereits Hunderte von ihnen.
Sie mussten die verantwortlichen Institutionen unter Druck setzen, damit diese sie anerkennen und offiziell als Comunas registrieren, denn in den ersten Jahren erklärten die Institutionen alle Comunas zu Comunas en construcción (Comunas im Aufbau). Aus einer institutionellen Logik heraus ist es vorteilhaft, so viele Comunas wie möglich als von Unterstützungen abhängig zu bezeichnen. Sobald eine Comuna offiziell als funktionsfähig eingestuft wurde, war das nicht mehr der Fall. Am Ende mussten die Comunas also die Institutionen zwingen, sie zu registrieren.

RV: Wie viele Comunas gibt es heute?
DA:      Heute gibt es rund 1.600 registrierte Comunas. Wie bei den Kommunalen Räten würde ich sagen, dass sie sich in drei Gruppen teilen. Einige funktionieren nicht mehr wirklich, nachdem die staatliche Unterstützung wegen der Krise ausbleibt. Andere funktionieren aufgrund von einigen gut organisierten AktivistInnen, die mit Unterstützung der Communities agieren, die sich allerdings nicht mehr regelmäßig versammelt, und wieder andere funktionieren nach wir vor gut.
Eine Sache, die ich definitiv sagen kann, ist, dass funktionierende Comunas über Strukturen verfügen, die die Probleme, mit denen die Menschen konfrontiert sind, erfolgreich angehen. Es gibt interessante Experimente mit riesigen von Comunas kontrollierten Produktionsanlagen oder stillgelegten Arbeitsstätten, die von der Comuna und den ArbeiterInnen übernommen wurden, um alle Arten von Produktion aufzubauen. In dieser sehr schwierigen Krise, die die sozialen Netzwerke belastet, indem sie Menschen zu mehr Individualismus drängt, sind diese Dinge sehr relevant.

RV: Welche Rolle spielen Frauen in den partizipativen Gremien?
DA:      Frauen sind die treibenden Kräfte in den Kommunalen Räten. Vor allem in städtischen Gebieten sind meiner Einschätzung nach rund 70 Prozent derjenigen, die Verantwortung übernehmen und den Kampf vorantreiben, Frauen. Dafür gibt es zahlreiche Gründe. Einerseits hat die Rentenökonomie in Venezuela viele spekulative und informelle Aktivitäten hervorgebracht, die nicht immer mit regulärer Arbeit verknüpft sind, und die Situation verschlimmert sich in Zeiten wirtschaftlicher Schwierigkeiten natürlich noch weiter. Aber während diese Entwicklung vor allem Männer betrifft, bleibt Frauen die Erfahrung regelmäßiger Arbeit wegen all der anderen Verantwortlichkeiten (Kinder, Hausarbeit, etc.) erhalten. Deshalb sind Frauen das Zentrum des Haushalts und das Zentrum des Nachbarschaftslebens. Das hat auch historische Wurzeln. Liest man anthropologische Literatur, erfährt man, dass der transatlantische Sklavenhandel in einer karibischen Gesellschaft wie Venezuela zur Folge hatte, dass Männer häufiger verkauft wurden und damit Frauen der stabilere Teil der Sklavengesellschaft waren. Die heutige Situation ist eine Art Spätfolge davon, verstärkt durch das (oben erwähnte) langjährige Wirtschaftsmodell. […]

RV: Sind die Fortschritte dieser partizipativen Formen der Demokratie in einem globaleren Kontext zu sehen, der mit dem Scheitern der liberalen Demokratie verbunden ist?
DA:      In der Tat; der letzte große Aufstand des Räte-Sozialismus waren die Arbeiterräte zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Danach ergriff das Modell der Repräsentation auch die Linke und die kommunistischen Bewegungen. Es setzte sich als hegemoniales Modell auch für sozialistische Transformationen durch.
Deswegen gerieten die erwähnten Strömungen in den Hintergrund, während sich das fordistische Produktionsmodell auch in einer Vorstellung vom Sozialismus als repräsentativem Top-down Paradigma widerspiegelt. Jetzt, da der Fordismus als Produktionsmodell ausgedient hat, stößt auch die liberale Demokratie als das dem Fordismus dienende politische Modell an ihre Grenzen. Wir sollten nicht vergessen, dass die gewonnenen Rechte nicht auf die liberale Demokratie zurückzuführen sind. Sie wurden der liberalen Demokratie abgerungen, sie wurden im Kampf gewonnen. Eine Zeit lang war es möglich, progressive Kämpfe im Rahmen der liberalen Demokratie anzustoßen und voranzutreiben, aber jetzt ist es eindeutig nicht mehr der Fall.
Das ist der Grund, warum wir ein Wiederaufleben sozialistischer, kommunistischer, anarchistischer Ideen erleben, wie auch immer man sie nennen will: Modelle der Selbstverwaltung, der Rätedemokratie, des selbstorganisierten Sozialismus. Der erste international sichtbare Fall war der zapatistische Aufstand in Chiapas. Über die Entwicklungen in Venezuela haben wir gerade gesprochen. Aber es gibt auch Beispiele an Orten wie Argentinien, Bolivien oder sogar Kurdistan, sie tauchen in immer wieder unterschiedlichen Formen auf. Wir sehen diesen Prozess weltweit bei den rückeroberten Betrieben unter ArbeiterInnenkontrolle, bei Occupy Wall Street sowie den Platzbesetzungen bei 15M in Spanien oder Gezi in Istanbul und Tahrir in Kairo, sowie in vielen anderen Fällen, von denen wir kaum etwas gehört haben, zum Beispiel in Afrika.
Zusammenfassend würde ich sagen, dass es ein Wiederaufleben der Konzepte und Ideen des Sozialismus gibt, die auf direkter Demokratie, Rätedemokratie, auf Selbstverwaltung und Selbstorganisation – auf dieser langen Geschichte von Menschen, die ihr Leben selbst organisieren – basieren.

RV: Zurück zu den venezolanischen Comunas: Eine der Diskussionen im Spannungsverhältnis zwischen Konflikt und Kooperation mit dem Staat besteht darin, dass, wenn man einmal ein Ministerium für Comunas geschaffen hat, die Gefahr besteht, dass diese nur mehr als ein Teil der Gesellschaft gesehen werden und nicht als etwas, das den Staat auf lange Sicht ablösen soll.
Das ist genau eines der Probleme. Chávez war sich über die Idee der Rätedemokratie, die den institutionellen Rahmen ersetzt, im Klaren und prägte diesen Begriff des kommunalen Staates. Dabei handelt es sich allerdings eigentlich um ein Oxymoron, denn wenn er kommunal ist, ist er kein Staat mehr! Aber das ist eine seit Langem bestehende Verwirrung in der gesamten sozialistischen und kommunistischen Bewegung. Zum Beispiel bestand Marx darauf, dass die Pariser Kommune kein Staat sei, sondern eine Regierung,[3] während die Rätekommunisten des frühen 20. Jahrhunderts hauptsächlich argumentierten, dass die Rätedemokratie keine Regierung sei (einige von ihnen nannten sie später einen proletarischen Staat).
Chávez bestand und beharrte darauf, dass die Comunas den bürgerlichen Staat irgendwann überwinden sollten. Es ist jedoch nicht so klar, ob unter Regierungsbeamten und institutionellen Akteuren und Akteurinnen im restlichen Venezuela die gleiche Meinung vorherrscht. Es gibt viele, die die Comunas als eine Art permanente Parallelstruktur zu den Vertretungsorganen sehen.

RV: Und auf lokaler Ebene gibt es oft Konflikte mit den Comunas, die als Bedrohung angesehen werden können.
Ja, auf jeden Fall; lokale und regionale Verwaltungen stehen sehr oft im Konflikt mit den Comunas, weil sie sie als direkte Bedrohung sehen, und sie sind eine direkte Bedrohung! Das ist der Sinn der ganzen Sache! Sie repräsentieren Strukturen, die vom kommunalen System überwunden werden müssen. Natürlich sollen sie sie politisch unterstützen und nicht bekämpfen, aber die ganze Debatte geht auf den Konflikt zwischen der partizipativen/kommunalen und der repräsentativen Logik zurück.

RV: Venezuela befindet sich aktuell in einer enormen Wirtschaftskrise, es gibt einen Wirtschaftskrieg. Was bleibt in dieser Situation vom Modell der Comunas und der Arbeiterkontrolle? Sind sie immer noch der richtige Weg?
Ich würde sagen: Ja. Bei all den Problemen und Widersprüchen, die es gibt, entwickelt sich das neue Venezuela der Bevölkerung, die neue Idee des Sozialismus, des Kollektivismus, in den Comunas,den Kommunalen Räten und den rückeroberten Betrieben unter ArbeiterInnenkontrolle weiter. Das ist nicht nur eine akademische Debatte. Wir sollten uns zum Beispiel daran erinnern, dass während der Ölsabotage oder der Aussperrung 2002–03 die Schwerindustrie und die Ölindustrie durch die ArbeiterInnen gerettet wurden, weil sie die Kontrolle übernahmen.[4] Die organisierten ArbeiterInnen und die Communities haben die Bolivarische Revolution immer am stärksten verteidigt.
Die aktuelle Lage, geprägt durch die Wirtschaftskrise und den Tod von Chávez, ist für die Comunas und die ArbeiterInnenkontrolle natürlich eher ungünstig. Vor einigen Jahren hätte man vielleicht erwartet, dass die Regierung alle Probleme lösen würde, aber heutzutage sind die meisten Basisorganisationen, Bewegungen und Comunas davon überzeugt, dass sie es sind, die den Sozialismus aufbauen müssen. Sie unterstützen die Regierung dabei, eine militärische Intervention abzuwehren, und kämpfen gegen die Finanzblockade und den Wirtschaftskrieg. Sie verstehen, dass sie sich zusammenschließen müssen, sonst verschwindet sogar die Möglichkeit, über weitere strukturelle Veränderungen zu diskutieren. Sie erwarten aber keine wesentlichen Schritte in Richtung Sozialismus von oben. Vielmehr hoffen sie, den Raum zu erhalten, um den Sozialismus von unten aufzubauen.

Dies ist die gekürzte Übersetzung der englischen Originalversion des Interviews, das im April 2018 hier: www.investigaction.net/en/communes-and-workers-control-in-venezuela-interview-with-dario-azzellini veröffentlicht wurde. Vielen Dank an Ricardo Vaz und Investig’action.

Fußnoten


  1. Der Begriff ist vom Spanischen Empresas Recuperadas por sus Trabajadores, ERT, abgeleitet, der  in Argentinien definiert wurde und von ForscherInnen aus Brasilien und Uruguay übernommen wurde. Als RBA werden Betriebe bezeichnet, die zuvor als kapitalistische Unternehmen existierten und deren Schließung oder Bankrott zu einem Kampf der ArbeiterInnen um eine Übernahme unter kollektiver ArbeiterInnenselbstverwaltung geführt hat. Neben einem Prozess der Wiederinbetriebnahme sind also die Anstrengungen von den ArbeiterInnen zugunsten einer von kollektiven Entscheidungsstrukturen geprägten Unternehmensform ausschlaggebend. Ein RBA ist ein sozialer und ökonomischer Prozess. ↩︎

  2. In der protagonistischen Demokratie steht das Handeln der ersten Person und nicht das Delegieren im Vordergrund. ↩︎

  3. Karl Marx beschrieb die Pariser Kommune in diesen Worten: »Sie war wesentlich eine Regierung der Arbeiterklasse, das Resultat des Kampfs der hervorbringenden gegen die aneignende Klasse, die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte.« (Bürgerkrieg in Frankreich, 1871, MEW 17, S. 342) ↩︎

  4. Regierungsfeindliche Organisationen versuchten Hugo Chávez mittels Streiks und Sabotage zum Rücktritt zu zwingen. ↩︎


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