Christoph Laimer

Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.


So könnte ein vorschnelles Urteil lauten, verfolgt man die Berichterstattung in der Tages- und Wochenpresse. Kein Monat vergeht, ohne dass es Serien über Landstriche gibt, in denen das letzte Gasthaus, der letzte Bäcker, der letzte Greißler (Tante-Emma-Laden) etc. schon lange geschlossen hat, weil die jungen Leute aufgrund mangelnder beruflicher Perspektiven wegziehen. Gleichzeitig werden ländliche Initiativen vorgestellt, die händeringend versuchen, ihre zum Studieren in die Stadt gezogene Jugend zurückzuholen. Das bleibt freilich oft erfolglos, weil Dörfer und kleine Städte keine zeitgemäßen, attraktiven Arbeitsplätze zu bieten haben und es zumeist auch an der Infrastruktur mangelt, die das moderne (Arbeits-)Leben erst möglich macht. Dass die Grundstücke und das Wohnen viel billiger als in der Stadt sind, hilft vorläufig wenig. Vorschnell ist das Urteil deswegen, weil nur eine bestimmte Sorte von Städten von der Entwicklung, die unter dem Schlagwort Reurbanisierung läuft, profitiert. Welche Städte das sind und warum deren Attraktivität vor allem in jüngster Vergangenheit so gestiegen ist, ist im Band Reurbanisierung – Materialität und Diskurs in Deutschland, herausgegeben von Klaus Brake und Günter Herfert, zu lesen.
Die Transformation von der (fordistischen) Industrie- in die Dienstleistungsgesellschaft ist seit einigen Jahrzehnten im Gange und hat zahlreiche Städte in den USA und Europa über längere Phasen in Krisen gestürzt, die aus manch blühender Stadt eine verwahrloste Brache gemacht haben. In den 1990er Jahre überzeugten die Möglichkeiten des aufkommenden Informationszeitalters und der Digitalisierung so manche WissenschaftlerInnen davon, dass räumliche Verankerung, Entfernung und somit auch Städte in naher Zukunft keine Rolle mehr spielen werden. Es war die Rede vom Zerfall, der Krise, dem Verschwinden und dem Tod der Städte. Heute gilt jedoch wieder: space matters. Die Lektüre von Reurbanisierung zeigt jedoch, dass es nicht möglich ist, Trends zu verallgemeinern, und einfache Rezepte für den ökonomischen Erfolg der Städte gibt es auch nicht. Ganz abgesehen von der Frage, wer von einem etwaigen Erfolg tatsächlich profitiert.
Das in vier Teile – Zugänge, Motoren, Auswirkungen und Fallbeispiele – eingeteilte Buch vertritt seine Thesen zurückhaltend und selbstkritisch. Mit einem Satz zusammengefasst, lautet die Ausgangsposition: »Mit Reurbanisierung soll ein Entwicklungsprozess gemeint sein, der mit dauerhafter Wirkung zu einer Bedeutungszunahme von Städten durch eine belebende Nutzung ihrer zentralen Gebiete beiträgt.« Der Band bietet Fallbeispiele (Berlin, Dortmund, Hamburg, Leipzig, München sowie als nichtdeutsche Städte Barcelona, London und Chicago) und Analysen aus unterschiedlichen Blickwinkeln (Diskursanalyse, Global City bzw. soziodemographische Perspektive) und pendelt stets zwischen vorsichtigem Optimismus und leiser Kritik, wobei die Überzeugung, dass Städte einer gewissen Größenordnung wohl kaum andere Perspektiven haben als bei diesem Spiel mitzuspielen, doch mehr oder weniger alle Texte durchzieht. Günter Herfert und Frank Osterhage setzen in ihrem Artikel die »diskursive Wende« zwischen Stadtflucht/Suburbanisierung und Reurbanisierung Mitte der 2000er Jahre fest. Suburbanisierung, die in den 1990er Jahren noch das »dominante Muster der Raumentwicklung« war, ist »nahezu vollständig zum Erliegen gekommen« (Ausnahmen sind einzelne Städte wie Lübeck und Reutlingen) und wurde von der Reurbanisierung abgelöst. Die »Flucht in die suburbanen Stadtlandschaften [wird] nicht mehr als gesellschaftlicher Aufstieg betrachtet« (Klaus R. Kunzmann). »Zentrale Einflussfaktoren der Reurbanisierung« sind die »Strukturveränderungen privater Haushalte« (Sigrun Kabisch, Annett Steinführer, Annegret Haase), die »Entgrenzung von Arbeits- und Wohnwelten« sowie »Unternehmensstrukturen und Arbeitsorganisation« (Martin Gornig, Marco Mundelius), die »Realisierung lebenswerter Quartiere in der Mitte der heutigen Großstädte und deren generelle Attraktivität für bestimmte Lebenslagen« (Uwe Altrock). Herfert und Osterhage geben allerdings auch zu bedenken, dass »unzureichende Angebotsausweitungen steigende Miet- und Kaufpreise bewirken [könnten], die zwangsweise wieder zu verstärkten Ausweichbewegungen in das Umland führen.« Andrej Holm weist darauf hin, dass die Reurbanisierung zu einer innerstädtischen Suburbanisierung an den Stadträndern führen könnte, und fordert, »ökonomischen, politischen und sozialen Dimensionen städtischer Neuordnungsprozessen« verstärkt nachzugehen und sie vor allem zu verknüpfen, um »Hinweise auf die Ursachen und Effekte der als Reurbanisierung beschriebenen Entwicklungstendenzen« zu erhalten. Die »soziale Neutralität« des Reurbanisierungsbegriffs stellt er in Frage.
Wichtige Motoren für Reurbanisierung und neue Zentralität sind die Wissensgesellschaft und die so genannte Creative Class. Wissen, speziell in Form von implizitem Wissen, sowie Kreativität gelten als Rohstoffe, die vorrangig in Städten abgebaut werden können, und zwar nur in solchen, die eine »elaborierte Komplexität auszeichnet« (Brake). Der suburbane Campus auf der gepflegten, grünen Wiese war gestern, heute braucht es, plakativ ausgedrückt, den urbanen Dschungel. Für implizites Wissen ist es wichtig, Kultur- und Bildungseinrichtungen unkompliziert nutzen zu können, sind face-to-face-Kontakte mit Menschen, die man zufällig z. B. bei einem Vortrag kennenlernt, und nicht nur solche, die am selben Forschungsprojekt beteiligt sind, relevant. Es ist eine Infrastruktur nötig, die nicht nur auf 9-to-5-Jobs ausgelegt ist.
Städte, die sich dem globalen Städtewettbewerb ausliefern, um Ziel von High Potentials, Investitionen und TouristInnen zu werden, müssen sich in die Auslage begeben und zeigen, was sie zu bieten haben. Für internationale Konzerne sind dabei ökonomische Aspekte wichtig und manchmal ausschlaggebend – Subventionen und niedrige Steuern schaden sicher nicht –, aber mindestens ebenso wichtig sind gut ausgebildete MitarbeiterInnen, ein internationales Umfeld und Forschungseinrichtungen. Wie sonst käme ein Unternehmen wie Google auf die Idee, ausgerechnet im teuren Zürich seine europäische Zentrale aufzuschlagen. Dass Unternehmen wie Apple ankündigen, bestimmte Sparten der Produktion in die USA zu verlagern, ist teils natürlich eine Marketingmaßnahme, zeigt aber doch, dass es nicht mehr nur um die niedrigsten Produktionskosten geht. Übrigens plant auch der taiwanesische Konzern Foxconn, in dessen chinesischen Werken neben Apple zahlreiche andere Hersteller produzieren lassen, in den USA zu investieren, und argumentiert diesen Schritt mit gut ausgebildeten Arbeitskräften. Durch die zu erwartenden, stark steigenden Transportkosten in Folge höherer Ölpreise wird sich dieser Trend eher verstärken denn als Marketinggag erweisen. Die notwendigen Arbeitskräfte für derartige Unternehmen sind ebenso heiß begehrt wie mobil, weswegen Städte immer mehr auf ein Image bedacht sind, das attraktive Lebensqualität, Internationalität, Bildung, Sicherheit, Kultur und Infrastruktur hervorhebt. In Wien kennen wir mittlerweile alle die Mercer-Studie, die genau diese Attraktivität misst und Wien seit ein paar Jahren regelmäßig auf Platz 1 hievt. Das Bild von Hamburg will seit etlichen Jahren das Hamburg Magazin, das auch in Österreich als Beilage einer Tageszeitung mit karrierebewussten Lesern und Leserinnen verbreitet wird, prägen.
Die angekündigte und teils vollzogene Ablöse der Suburbanisierung durch Reurbanisierung ist aus raumplanerischen und ökologischen Gründen sicher zu begrüßen; ebenso freuen wir uns darüber, in lebenswerteren Städten zu wohnen. Die negativen Aspekte wie die Verteuerung der Lebenshaltungskosten vor allem durch stark steigende Mieten und in Folge die Verdrängung derjenigen, die ökonomisch von der Reurbanisierung nicht profitieren, sind in zu vielen Städten allerdings bereits manifest. Ihnen muss mit aller politischer Kraft entgegengewirkt werden, damit das Ziel einer Stadt für alle realisierbar bleibt.


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