» Texte / Soziale Desintegrationsprozesse und ethnisch-kulturelle Konfliktkonstellationen

Alexander Hamedinger


Wilhelm Heitmeyer und seine MitarbeiterInnen haben im vorliegenden Buch wohl die seit langem weitreichendste und theoretisch fruchtbarste wissenschaftliche Arbeit zum Thema »Soziale Desintegrationsprozesse und ethnisch-kulturelle Konfliktkonstellationen« vorgelegt. Diese umfangreiche Forschungsanstrengung erforderte das ganze Potential und die Energie des in Bielefeld angesiedelten Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung und anderer Universitäten sowie WissenschaftlerInnen unterschiedlicher Disziplinen. Die Ergebnisse des Unterfangens, welches 1995 startete und 1999 beendet wurde, lassen sich aus mehreren Gründen sehen:

  1. es wird ein Problemzusammenhang erforscht, welcher in der Stadtforschung bisher nur unzureichend verfolgt wurde,
  2. es wird ein Thema bearbeitet, welches äußerst aktuelle städtische Phänomene betrifft,
  3. aus theoretischer Sicht wird ein Theorierahmen geboten, der es erlaubt, die Komplexität des Problemzusammenhangs mittels eines breiten Methodenangebotes sehr genau zu erfassen,
  4. schließlich werden mit den detaillierten empirischen Ergebnissen der Politik Erkenntnisse in die Hand gegeben, die auf die Dringlichkeit des Problems der sozialen Integration in Städten und auf mögliche Handlungsstrategien im Sinne einer politischen Steuerbarkeit hinweisen.
    Soziale Integration von ZuwanderInnen ist heute sicherlich eine der dringlichsten Aufgaben von Aufnahmengesellschaften und erfordert subtile politische Interventionsanstrengungen. Ausgehend von momentan zu beobachtenden Problemverschärfungen auf Seiten der Aufnahmen- und Mehrheitsgesellschaft, welche mit den Phänomenen wie »steigende Armut und Einkommensungleichheit, Verschärfung sozialer Verteilungskonflikte und Entsolidarisierung« umschrieben werden können, wird in der vorliegenden Arbeit zum einen der Frage nachgegangen, ob denn aufgrund dieser sozialer Polarisierungen die gesellschaftliche Solidarität mit ethnischen Minderheiten nicht weiterhin erodiert. Zum anderen wird versucht, die Verräumlichung sozialer Ungleichheit theoretisch zu erfassen, indem die weitere Frage thematisiert wird, wie »Milieus der Benachteiligung« (S.29) entstehen können und welche Zusammenhänge zwischen Raum und konflikthaftem Verhalten bestehen.
    Der verwendete Theorierahmen ist dabei sehr komplex sowie innovativ und deshalb sollte ihm im Folgenden etwas mehr Beachtung geschenkt werden. Zunächst wird zur Erklärung von Xenophobie auf die Relevanz eines deprivationstheoretischen Ansatzes verwiesen, welcher relative Deprivation als »subjektiven Grad von Benachteiligung« betrachtet. Demnach gelten diejenigen Personen als besonders konfliktanfällig, welche im Vergleich zu anderen Personen subjektive Benachteiligungen empfinden (wie etwa so genannte »Modernisierungsverlierer«, die mit ZuwanderInnen wesentlich direkter in Konkurrenz um Arbeitsplätze, Wohnungen etc. stehen) und diese gleichzeitig als unfair oder unrecht artikulieren. Kombiniert wird dieser Ansatz mit verunsicherungstheoretischen Erklärungen von Fremdenfeindlichkeit, welche davon ausgehen, dass vor allem in ökonomischen Krisenzeiten Verunsicherungen in Teilen der Bevölkerung zunehmen und Ethnisierungen sozialer Probleme als Strategien zur Stabilisierung der Persönlichkeit und der sozialen Position verstärkt Resonanz finden. Erweitert wird der Ansatz um konflikttheoretische Annahmen, die auf die unterschiedliche Relevanz von Rangordnungs- Verteilungs- und Regelkonflikten im Problemzusammenhang verweisen.
    Eine der Stärken des Theorierahmens ergibt sich aus der wechselseitigen Betrachtung von Desintegrations- und Ethnisierungsprozessen sowohl auf der Seite der Mehrheit als auch auf der Seite der ethnischen Minderheit in einer Gesellschaft. Bei dieser Betrachtung wird vor allem auf das Machtgefälle zulasten der Minderheit verwiesen, welche strukturell bedingt wesentlich geringere Möglichkeiten hat, sich zu artikulieren. Als Folge der Verarbeitung und Bekämpfungen von Fremdenfeindlichkeit, die von Teilen der Mehrheitsgesellschaft der Minderheit entgegengebracht wird, können die stärkere Verwendung nationaler und ethnischer Symbole sowie der Rückzug in die eigene ethnische Gruppe als mögliche Strategien zur Sicherung der sozialen Situation äußerst attraktiv erscheinen.
    Ein nächstes Element im breit angelegten Theorierahmen stellt die Betrachtung sozialräumlicher Aspekte des erwähnten Problemzusammenhangs dar. Hierbei wird auf aktuelle Diskussionen in der Segregationsforschung eingegangen mit dem Hinweis darauf, dass residentielle Segregation nicht unbedingt und vorbehaltlos zu ethnischen Konflikten führen muss, und dass die vielfach verwendete Kontakt-Hypothese (die Annahme, dass stärkere Kontakte zischen den Angehörigen verschiedener Ethnien und zwischen Einheimischen und ZuwanderInnen sich unter bestimmten Bedingungen positiv auf interethnische Beziehungen auswirken) zu relativieren ist. Richtigerweise verweisen Heitmeyer und Anhut im einleitenden Theoriekapitel auf die Tatsache, dass »die Problemakkumulation in sozial benachteiligten Stadtteilen unter den Bedingungen von Konkurrenz zur Vergrößerung von Spannungspotentialen beiträgt« (S. 44/45).

Schließlich wird die Vorstellung und das Modell von sozialer Integration wie folgt dimensioniert: Es geht in diesem Problemzusammenhang erstens um die individuell-funktionale Systemintegration, zweitens die kommunikativ-interaktive Sozialintegration und drittens die kulturell-expressive Sozialintegration. Die individuell-funktionale Systemintegration beinhaltet die »Teilhabe an den gesellschaftlich produzierten Gütern«, welche nach den Zugängen zu wichtigen Teilsystemen wie Arbeits- und Wohnungsmarkt (strukturell-objektive Ebene) und nach der Anerkennung (subjektiv) der sozialen Position beurteilt wird. Die kommunikativ-interaktive Sozialintegration umfasst den Aspekt des »Ausgleichs konfligierender Interessen« mit dem Verweis auf die Einhaltung gemeinsam geteilter Grundprinzipien wie etwa Gerechtigkeit, Fairness und Solidarität. Dieser Teil der sozialen Integration, der auf der institutionellen Ebene angesiedelt ist, wird nach den Teilnahmechancen am politischen Entscheidungsprozess (als objektive Dimension) und der Teilnahmebereitschaft der Menschen (subjektive Dimension) beurteilt. Die kulturell-expressive Sozialintegration als sozio-emotionale umfasst die »Herstellung emotionaler Beziehungen zwischen Personen zwecks Sinnstiftung und Selbstverwirklichung«, also den Aspekt der »expressiven Vergemeinschaftung« etwa über Familien, Vereine etc.. Beurteilt wird diese letzte Dimension der sozialen Integration über die Anerkennung der personalen Identität durch Gruppen und der kollektiven Identitäten durch andere Teilkollektive der Gesellschaft (etwa: Verwendung von Symbolen im öffentlichen Raum zur Identitätsstiftung).
Wenn ein Blick auf aktuelle ökonomische, soziale und politische Umstrukturierungen geworfen wird, dann kann über diesen Theorieansatz die Problemhaftigkeit einer inzwischen europaweit ausgeführten neoliberalen Politik im Hinblick auf die Frage der sozialen Integration schon erahnt werden. Die individuell-funktionale Systemintegration als strukturelle Dimension muss unter dem Aspekt der zunehmenden sozialen Polarisierung und damit der Verschärfung von Zugangschancen betrachtet werden (De-Regulierungsmaßnahmen auf Arbeits- und Wohnungsmärkten lassen hier keine Verbesserungen erhoffen). Weiterhin ist auf der institutionellen Ebene der Teilnahme zu hinterfragen, ob denn eine neoliberale Politik Entsolidarisierungstendenzen in Gesellschaften nicht eher förderlich sind und wie den demokratiepolitischen Defiziten auf supranationaler Ebene (EU) begegnet werden kann. Auf der sozio-emotionalen Ebene könnten die gerade umrissenen Problemkonstellationen zu Verunsicherungen und Instabilitäten in Beziehungen führen, die wiederum Desintegrationsprozesse und Konfliktverhalten verschärfen können. Auf allen Ebenen geht es um die Verweigerung von Anerkennung, die dazu führen kann, dass nach Ventilen der Entlastung gesucht wird. »Je größer deshalb die Desintegrationserfahrungen für Teilgruppen der Mehrheitsgesellschaft ausfallen, desto größer dürften die Integrationsprobleme der aufzunehmenden Minderheit sein und desto mehr Spannungen zwischen den Angehörigen der unterschiedlichen Gruppen sind erwartbar« (S. 53). Gleich im Anschluss wird allerdings darauf verwiesen, dass Desintegrationserfahrungen nicht gleich zu fremdenfeindlichen Einstellungen führen müssen. Der im Theoriemodell enthaltene interaktionistische Zugang berücksichtigt bezugnehmend auf diese Fragestellung die Relevanz der sozialen Kompetenz der Akteure sowie den Einfluss der »sozialen Umwelt« (soziales Klima, etc.) auf entsprechendes Verhalten. Es geht hier um die Berücksichtigung von möglichen Einflussgrößen, welche die Zunahme von lokalen Problemen und Konflikten befördern oder moderieren können. Hier handelt es sich um so genannte »Moderatorvariablen« wie die politische Steuerung durch die Stadtpolitik, die politische Kultur einer Stadtgesellschaft, die Eingebundenheit in soziale Netzwerke und soziale Gruppen, die lokalen Inter-Gruppen-Beziehungen und das soziale Klima (etwa Angst und Unsicherheit im Stadtteil).
Schließlich wird dem Theoriemodell eine »Differenzierung nach Ebenen der sozialen Interaktion« beigefügt, die sich in einem Mikro-Meso-Makromodell ausdrücken lässt. Die Mikro-Ebene umfasst die »individuellen Dispositionen der Teile verschiedener sozialer und ethnischer Gruppierungen«, die Meso-Ebene bezieht sich auf die Rolle der angeführten Moderatorvariablen, die Makro-Ebene verweist auf den Einfluss von überregionalen Prozessen (wie etwa Globalisierung, EU- und nationale Politik) auf die lokalen Zusammenhänge. In diesem Mehrebenen-Modell zur Analyse von Desintegrationsprozessen wird auch dem »sozialen Raum« entsprechendes Gewicht beigemessen. Dieser kann als »knappes Gut, als Kategorie sozialer Ungleichheit sowie als Identitätsquelle« im Modell mehrfach platziert werden.
Nach der knappen Darstellung dieses umfassenden und komplexen Theorierahmens soll auf die im Buch enthaltenen detaillierten empirischen Erkenntnisse verwiesen werden, die zum genauen Nachlesen zu unterschiedlichen Teilaspekten der sozialen Integration (wie etwa Konfliktkonstellationen in der jungen Generation und im Freizeit- und Wohnbereich oder die Bedeutung von Identitätspolitiken in der Mehrheit wie in der Minderheit) einladen. Die empirischen Arbeiten basieren auf der Frage nach der wechselseitigen Interaktion der deutschen und türkischen Bevölkerungsgruppen in den nordrhein-westfälischen Städten Duisburg (als erodierende Stadt), Wuppertal (stagnierend) und Münster (prosperierend), wobei hier auf die vergleichende Analyse unterschiedlicher Stadtteile in den einzelnen Städten fokussiert wird. Damit ergab sich ein weiteres zentrales Erkenntnisinteresse: »Hintergrund dieser Auswahl war erneut die Frage, ob der Grad der Problemkonstellation eines Sozialraums in unmittelbarer Beziehung zum lokal vorhandenen Konfliktpotential steht...., oder sich beobachtbare Unterschiede in der Qualität der Moderatorvariablen (soziales Klima im Stadtteil etc.) und lokale Milieustrukturen stärker auf Konflikteinstellungen- und verhalten auswirken würden«(S. 72).

Hervorgehoben seien abschließend nur vier Aspekte der vielschichtigen Ergebnisse: (S. 192-199)

  1. aufgrund von umfassenden Bevölkerungsbefragungen kann generell auf das Vorhandensein eines interethnischen Konfliktpotentials zwischen deutscher und türkischer Bevölkerung verwiesen werden;
  2. die Ethnisierung sozialer Probleme als Schuldzuschreibung von persönlichen schlechten Situationen an die Minderheit oder Mehrheit kann als Hinweis auf wechselseitige Nichtanerkennung verstanden werden, was zu Prozessen der Abgrenzung auf beiden Seiten führt;
  3. niedrige Zugangchancen (individuell-funktionale Ebene) sowie niedrige Teilnahmemöglichkeiten (kommunikativ-interaktive Ebene) führen in Kombination zu starkem Abwehr- und Abgrenzungsverhalten gegenüber anderen Ethnien. Es geht hier also um Integrationsaufgaben für Stadtgesellschaften und vor allem für die Stadtpolitik auf beiden Seiten;
  4. raumstrukturelle Ausgangsbedingungen wie hohe Arbeitslosigkeit oder hoher AusländerInnenanteil in einem Stadtteile haben keinen systematischen Effekt auf die Zunahme von interethnischen Konflikten in diesen Stadtteilen, aber die »Bewertung und Wahrnehmung« des lokalen Raumes (Rolle der Moderatorvariablen) sowie die »individuelle Chancenstruktur« haben relevante Auswirkungen auf Konfliktpotentiale.

Die Ergebnisse sprechen für die Notwendigkeit der politischen Intervention in diesem Bereich der Integration. Gefragt sind Ansätze der Integrationspolitik, die auf solchen Forschungsarbeiten aufbauen, denn es zeigt sich ebenso, dass es signifikante Zusammenhänge zwischen lokaler Politik und konfliktträchtigen Einstellungen auf beiden Seiten einer Gesellschaft gibt. Die Frage stellt sich, ob Stadtgesellschaften in der Lage sind, individuell-funktionale Systemintegration, kommunikativ-interaktive Sozialintegration sowie kulturell-expressive Sozialintegration zu bieten. Es geht darum, Konzepte für »integrierte Stadtgesellschaften« zu entwickeln, denn: »Dies ist dringend geboten, weil jede desintegrierte Stadtgesellschaft zu einer bedrohten wie bedrohenden Stadtgesellschaft werden kann. Wie sich die Verläufe entwickeln, wird davon abhängen, ob die Konfliktpotentiale und Konfliktkonstellationen wahrgenommen und so offen artikuliert werden, dass sie sich in einer produktiven Richtung entwickeln können. Nach allem, was in den vorliegenden Ergebnissen deutlich geworden ist, dominiert allerdings eher die Tendenz zu einer Konfliktverschiebung bzw. Umlenkungsversuchen oder gar zu Konfliktverleugnungen.« (S. 569) Der fruchtbare theoretische Rahmen sowie die vielschichtigen und differenzierten Erkenntnisse und empirischen Ergebnisse bezogen auf das Thema »Desintegrationsprozesse und ethnisch-kulturelle Konfliktkonstellationen« lassen das Buch zu einem »Muss« für alle an dieser Frage Interessierten erscheinen.


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Wilhelm Heitmeyer / Reimund Anhut (Hrsg.) 2000: Bedrohte Stadtgesellschaft. Weinheim und München: Juventa Verlag.