Christoph Laimer

Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.


Reclaim the Streets (RTS) formierte sich 1991 in London und widmete sich in der ersten Phase ausschließlich dem Thema Auto: In einem der ersten Flugblätter hieß das »FOR walking, cycling and cheap or free public transport, and AGAINST cars, roads and the system that pushes them.« RTS unterschied sich so gesehen in den ersten Jahren ihres Bestehens der inhaltlichen Orientierung nach nicht sehr von einer einfachen BürgerInneninitiative. Was sie bereits damals zu etwas Besonderem machte, waren eher die Aktionsformen. Während der Nacht wurden Fahrradstreifen auf Straßen gemalt, Werbeplakate für Autoausstellungen wurden verfremdet etc. Die Kampagne gegen eine Verbindungsstraße für den Motorway 11 (M11) war für RTS der Beginn einer umfassenderen thematischen Ausrichtung: Aus der Ökogruppe RTS, die sich dem Kampf gegen das Auto verschrieben hatte, wurde eine allgemeinpolitisch orientierte Gruppe, für die das Auto als Symbol für die Zerstörung der Lebensqualität in den Städten und einer Gesellschaft, die sich der kapitalistischen Logik, alles zur Ware zu machen, unterworfen hat, steht. Die M11-Kampagne führte auch zu einer Professionalisierung der Arbeit von RTS, sowohl was die direct action skills, die unvermeidliche Konfrontation mit der Polizei, PR und Fund-Raising anbelangt. Ende 1994 erließ die damalige Regierung unter Premierministerin Thatcher ein Gesetz, das zwar die Arbeit von RTS und vielen anderen von einem Tag auf den anderen kriminalisierte, aber auf längere Sicht gesehen vielleicht sogar ein Schuss ins Knie der Regierung war. Der Criminal Justice und Public Order Act machte aus zivilem Protest eine kriminelle Handlung. Der Criminal Justice Act war nicht zuletzt konzipiert worden, um die Raveszene zu zerschlagen, die in England äußerst populär war. In leerstehenden Lagerhallen oder auf Wiesen wurden sog. Raves oder Warehouseparties veranstaltet. Die Veranstaltungsorte wurden kurzfristig bekanntgegeben und die Polizei war oft genug alleine auf Grund der großen TeilnehmerInnenzahlen nicht in der Lage, Raves aufzulösen oder bekam erst gar nichts davon mit. Neben OrganisatorInnen und TeilnehmerInnen von Raves wurden auch Traveller, Obdachlose und HausbesetzerInnen kriminalisiert. Der Criminal Justice Act hatte jedoch die für die Thatcherregierung unbeabsichtigte Folge, dass sich ein Teil der Ravebewegung politisierte und fortan bei RTS mitmachte.

Neugründung

Die Neuorientierung und der Zusammenschluss mit anderen Gruppen während der M11-Kampagne führte zu einer Neugründung von RTS im Jahre 1995. RTS organisierte die ersten großen Streetpartys, die jeweils mehrere tausend Leute anzogen. Zu dieser Zeit beteiligte sich RTS auch an den Kampagnen gegen Shell. Im Juli 1996 besetzte RTS für neun Stunden die M41 in West-London und feierte mit 8000 Menschen ein Fest. Einige nutzten die Zeit, rissen die Asphaltdecke der Autobahn auf und pflanzten Bäume. In den Flugblättern, die bei der M41 Streetparty von RTS verteilt wurden, wird die Abkehr von der reinen Anti-Auto-Gruppe zu einer allgemein politischen Gruppe deutlich: »Our streets are as full of capitalism as of cars and the pollution of capitalism is much more insidious.« Streetpartys werden in England als direct action gesehen, einer Form politischen Handelns, die sich von »klassischen« Protestformen wie z.B. der Demonstration dadurch unterscheidet, dass sie nicht an politisch verantwortliche Entscheidungsträger appelliert und sich damit vorgegebenen hierarchischen Strukturen verweigert und in anarchistischer Tradition ignoriert. (siehe auch den Artikel Karneval und Konfrontation) In einem Artikel über RTS in der Zeitschrift Do or Die ist über direct action zu lesen: »Direct action is not just tactic: it is an end in itself. It is about enabling people to unite as individuals with a common aim, to change things directly by their own actions.« Mit Streetpartys machte RTS ihrem Namen alle Ehre und eignete sich die Straße wenigstens für ein paar Stunden an, um eine Party zu feiern. Die Straße wird dem motorisierten Individualverkehr entzogen und zu einem Ort der Kommunikation. Es überrascht nicht, dass in Texten von RTS immer wieder die Situationistische Internationale auftaucht, die das Konstruieren von Situationen (Konstruierte Situation: Durch die kollektive Organisation einer einheitlichen Umgebung und des Spiels von Ereignissen konkret und mit voller Absicht konstruiertes Moment des Lebens. Situationistische Internationale 1957-1972. Katalog zur Ausstellung. Museum des Zwanzigsten Jahrhunderts. Wien 1998.) propagierte, oder Hakim Beys Konzept der Temporären Autonomen Zone Erwähnung findet. Auch der Sturm auf die Bastille, die Pariser Kommune oder der Mai 1968 sind beliebte Verweise, wenn es darum geht, die eigene Bewegung zu charakterisieren oder politisch und historisch einzuordnen.
Der zunehmende Erfolg von RTS hat zu einer verstärkten Überwachung durch die Polizei geführt. Telefonabhörung, Überwachen von AktivistInnen, Durchsuchungen von Büros etc. sind nur einige der Methoden, die die Polizei anwendet, um RTS-Aktionen zu unterbinden. Auch der Verdacht, dass Spitzel in die Gruppe eingeschleust wurden, taucht immer wieder auf. Trotz dieser Repressionsmaßnahmen gibt es nach wie vor wöchentlich ein öffentliches Treffen. Mittlerweile gibt es RTS nicht nur in London und anderen englischen Städten, sondern auch in den USA und vielen europäischen Staaten. Die einzelnen Gruppen agieren zwar unabhängig voneinander, gemeinsame Aktionstage, die gleichzeitig in vielen Städten stattfinden, erfreuen sich unter den AktivistInnen jedoch größter Beliebtheit (Siehe den Artikel zu J18 von Sonja Brünzels).
Die Neuorientierung von RTS weg von einer Single-Issue-Gruppe zeigt vielleicht am besten die Unterstützung von Arbeitskämpfen. War die Solidarisierung mit den streikenden U-Bahn-ArbeiterInnen noch nahe liegend, so verspürte RTS offensichtlich Erklärungsbedarf, als es gemeinsame Aktionen mit den streikenden Liverpooler Dockarbeitern gab. Die Frage nach dem Warum ließ sich allerdings relativ leicht mit dem Hinweis auf den gemeinsamen Feind, das Kapital, beantworten. In den Worten von RTS: »The power that produces cars by 4 million a year is the same power that decides to attack workers through the disempowerment of the unions, reducing work to slavery.« (Do or Die #6)

Theorie

Theoretische Texte, die sich mit der politischen Auswirkung des eigenen Aktivismus auseinandersetzen, gibt es von RTS nur selten, was auch immer wieder zu Kritik an RTS führt. Die Faszination und Begeisterung, die durch die vielen TeilnehmerInnen bei Streetpartys ausgelöst werden, verdecken die Frage nach der strategischen Weiterentwicklung. Dass es nicht allein eine Frage der Quantität sein kann, weil sonst die Gefahr besteht, irgendwann zur eigenen Karikatur zu verkommen, ist in einem Text, der sich mit der Zukunft der Streetpartys beschäftigt zu lesen (The Future Street Party? in Do or Die Nr.6). Die AutorInnen sehen »street« im Idealfall als »living place of human movement and social intercourse, of freedom and spontaneity«. Street wird ganz klar von road, »a place to move through, not to be in«, unterschieden. Street steht für den öffentlichen Ort schlechthin und erinnert fast ein wenig an die griechische Polis: »A public arena where empowered individuals can join together to collectively manage social affairs.« Weiter heißt es: »To rescue what is left of the public arena, to enlarge and transform that arena from a selling and increasingly sold space to a common, free space - from controlled locality to local control - is fundamental to the vision of reclaiming the streets. The logic of this vision implies, not only ending the rule of the car and recreating community, but also the liberation of the streets from the wider rule of hierarchy and domination.« Auch Adornos Minima Moralia wird bemüht, um die Gefahr des motorisierten Individualverkehrs zu beweisen.
So sehr man sich darüber freut, dass eine ökologische Gruppe nicht gleichzeitig stadtfeindlich ist, und die Straße ,statt z.B. die »unberührte Natur«, als den zu verteidigenden Ort sieht, zuckt man doch jedes Mal ein wenig zusammen, wenn RTS die »desire for community« in den Vordergrund stellen. Wozu die »Sehnsucht nach Gemeinschaft« (auch) führen kann, ist hierzulande noch allzu präsent, als dass man es vergessen könnte. Auch die Vorstellung, dass es rundwegs zu begrüßen ist, wenn Menschen sich von staatlicher Herrschaft emanzipieren und selber aktiv werden, lässt einen erschrecken, wenn man dabei an rechtsextreme Übergriffe und Hetzjagden denkt (Erinnert sei auch an die Staatsfeindschaft von z.B. US-amerikanischen Rechtsextremisten, die auch nichts lieber tun würden als den Staat durch ihre community zu ersetzen), auch wenn die oft nichts anderes sind als die Umsetzung der staatlichen Politik mit anderen Mitteln. Hier ist es dann doch unvermeidlich, sich etwas genauer mit der Problematik auseinander zu setzen anstatt in unreflektierten Aktionismus zu flüchten.


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