»Spiegelgrund«
Spiegelgrund ist eine Filmdokumentation über Menschen, die während des Nationalsozialismus vom Erziehungs- und/oder Euthanasieprogramm an der Wiener Jugendfürsorgeanstalt und Kinderfachabteilung Am Spiegelgrund als Opfer und Angehörige betroffen waren und es bis heute sind. Der Bogen ihrer Erzählungen spannt sich von der Zeit zwischen 1940 und 1945 bis in die Gegenwart. Das Interview mit den RegisseurInnen Angelika Schuster und Tristan Sindelgruber führte Christoph Laimer.
Spiegelgrund ist eine Filmdokumentation über Menschen, die während des Nationalsozialismus vom Erziehungs- und/oder Euthanasieprogramm an der Wiener Jugendfürsorgeanstalt und Kinderfachabteilung Am Spiegelgrund als Opfer und Angehörige betroffen waren und es bis heute sind. Der Bogen ihrer Erzählungen spannt sich von der Zeit zwischen 1940 und 1945 bis in die Gegenwart. Das Interview mit den RegisseurInnen Angelika Schuster und Tristan Sindelgruber führte Christoph Laimer.
dérive: Was hat euch veranlasst, einen Film zu machen und warum habt ihr »Spiegelgrund« als Thema gewählt?
Sindelgruber: Das eine ist der persönliche Zugang zum Thema, den wir haben, der ist zwar teils unterschiedlich, aber über weite Strecken doch deckungsgleich. Wir waren vorher beide lohnabhängig in Arbeit mit Jugendlichen, die Angelika hat mobile Jugendarbeit gemacht, ich habe als Hauptschullehrer für Deutsch und Geschichte gearbeitet. Wir haben gemerkt, dass es Interesse für zeitgeschichtliche Themen, z.B. NS-Zeit, gibt. Mir hat sich dann immer wieder die Frage gestellt, wie man dieser Generation diese Thema vermitteln kann. Die Sachen, die uns in der LehrerInnenfortbildung vorgekaut worden sind, greifen nicht mehr, weil die davon ausgehen, dass man die Großeltern bzw. die Elterngeneration mit einbezieht und selbst wenn die darüber reden würden, was ich in Österreich eh stark bezweifle, gilt das für Jugendliche nicht mehr. Ich bin im Geschichteunterricht dann darauf gestoßen, dass bei den Jugendlichen der Schalter umkippt, wenn über die Betroffenheit ihrer Altersstufe gesprochen wird. Wir haben einmal einen kurzen Film über Hartheim gezeigt. Ab diesem Zeitpunkt war ein Einstieg mit den Jugendlichen in dieses Thema möglich, weil sie aus gutem Grund davon ausgegangen sind, dass Jugendliche ihres Alters nicht strafbar sein können und schon gar nicht durch eine politische Macht zum Tode verurteilt werden dürfen. Das war der erste Punkt für mich, wo ich mir gedacht habe, das sind Themen, die im Zeitgeschichteunterricht für die SchülerInnen sehr spannend sind. In unserem Film steht dann ja auch die Kindereuthanasie am Spiegelgrund im Mittelpunkt. Der zweite Punkt war dann, dass wir durch einen gemeinsamen Bekannten ZeitzeugInnen kennengelernt haben, den Herren Roggenthien und die Frau Kosemunds. Deren Biografie kennengelernt zu haben und gleichzeitig immer mit dem Symbol Gross bzw. der Nichtaufarbeitung dieser Geschichte konfrontiert zu sein, waren dann die ausschlaggebenden Punkte, was den Inhalt des Films anbelangt.
Schuster: Wir werden oft gefragt, warum wir kein Buch oder einen Artikel geschrieben haben. Wir glauben, dass gute Filme einfach mehr Leute erreichen als gute Bücher. Es ist doch etwas anderes, wenn man die Leute persönlich sieht, das ist eine andere Betroffenheit, man glaubt es eher.
Sindelgruber: Für mich ist Film eine Kulturtechnik, die mehr Menschen zugänglich ist. Es geht mir auch persönlich so. Ein Film kann mir kurze Zeit eine sehr intensive Betroffenheit und Emotion vermitteln, bei Texten passiert mir das nicht so. Deswegen finde ich dieses Medium für unser Thema sehr gut geeignet und deswegen haben wir uns auch dafür entschieden. Noch dazu kommen Menschen zu Wort, die aus biologischen Gründen nicht mehr sehr lange unter uns weilen werden, und ich mir denke, dass es auch darum geht, das im Gedächtnis zu behalten und aufzubewahren, weil der Idealfall, nämlich persönliche Kontakte herzustellen, ist bald nicht mehr möglich.
Schuster: Was für mich auch interessant ist, ist z.B. dass der Alois Kaufmann einen Wiener Dialekt hat. Ich kann mich erinnern, dass als ich noch eine Jugendliche war, Opfer für mich meist sehr abstrakt waren. Das waren WiderstandskämpferInnen oder Juden und Jüdinnen, mit denen ich mich nie so direkt identifiziert habe. Wenn man in Wien aufgewachsen ist und man jemanden im Wiener Dialekt reden hört, der noch dazu nicht gerade der höchsten Schicht angehört, dann spricht mich das viel mehr an. Ich erkenne mich ein bisschen wieder, speziell wenn ich die Stimme höre, was bei geschriebenen Texten wegfällt. Bei unserem Film finde ich es spannend, dass viele Leute und speziell auch Jugendlich ganz direkt auf den Alois Kaufmann reagieren, den sie als sehr menschlich empfinden.
dérive: Eure Fragen kommen im Film nie vor, man hört immer nur die Antworten, man weiß auch gar nicht, wer die Fragen gestellt hat. Warum habt ihr euch für diese Methode entschieden?
Schuster: Für mich hat das was mit Geschichten-Erzählen zu tun. Ich kann mich weit mehr auf eine Geschichte einlassen, wenn ich nur die Antworten höre und nicht immer die Fragen dazwischen. Vielleicht wäre es auch interessant gewesen, wenn man uns im Film kennengelernt hätte, aber ich finde es trotzdem nicht so wichtig.
Sindelgruber: Zu Beginn wollten wir es ja auch ganz ohne Off-Kommentar machen und nur die Leute, die im Film vorkommen, die Geschichte erzählen lassen. Das war aber aus mehreren Gründen nicht möglich: Die InterviewpartnerInnen haben natürlich nicht so stringent geantwortet, wie wir uns das vorgestellt haben. Die Realität schaut halt anders aus als das Treatment (Anm. »Drehbuch« eines Dokumentarfilms), das du schreibst. Trotzdem gibt es viel Raum für die InterviewpartnerInnen und keinen Kommentar von uns, auch um nicht in dieses Moralisieren mit dem Zeigefinger zu verfallen, wie es in vielen anderen Dokumentarfilmen passiert. Unsere Stellungnahme erfolgte durch die Auswahl der Personen und die inhaltliche Ausrichtung, die natürlich stark beim Schnitt passiert ist.
dérive: Das Publikum hätte aber vielleicht ein Interesse zu wissen, wer die Personen sind, die die Fragen stellen, um vielleicht auch einschätzen zu können, aus welcher Position heraus die Fragen gestellt wurden.
Schuster: Das ist aber ziemlich schwierig, weil nur wenn man uns von der Seite sieht, weiß man auch nicht viel mehr als wie ich aussehe. Ich habe einmal einen Dokumentarfilm über Sarajevo gesehen, wo sich der Regisseur am Anfang vorgestellt hat, was mir sehr gut gefallen hat, obwohl der natürlich sagen kann, was er will. Ich hätte aber nicht gewusst, wie wir das in dem Film hätten machen sollen.
dérive: Bei Artikeln oder Büchern habe ich das in den letzten Jahren sehr oft gesehen, dass sich die SchreiberInnen selbst vorstellen, eben um die LeserInnen nicht darüber im Unklaren zu lassen, aus welcher Position der Text geschrieben wurde.
Sindelgruber: Ich will es den Leuten, die sich den Film ansehen, auch nicht so leicht machen. So auf die Art: Aha, daran bin ich jetzt, das sind die und die, und die denken sich das und das, und daran orientiere ich mich jetzt. Die Leute sollen und müssen sich in diese Geschichte reinfallen lassen. Ich brauche diese Art der Selbstdarstellung in einem Dokumentarfilm dieser Art nicht. Wir hatten genug Möglichkeiten in anderer Form Stellung zu nehmen. Beim Schnitt und beim dramaturgischen Aufbau.
dérive: Wie habt ihr eure InterviewpartnerInnen ausgewählt? Wieso habt ihr manche Interviews, die ihr geführt habt, im Film nicht verwendet und warum habt ihr das im Abspann erwähnt?
Schuster: Der Tristan hat den Herrn Roggenthien und die Antje Kosemunds, die zwei Hauptpersonen in unserem Film sind, schon einige Zeit bevor wir daran gedacht haben, den Film zu machen, persönlich kennengelernt. Dann gab es noch das Buch vom Alois Kaufmann, das damals das einzige Buch von einem Überlebenden des Spiegelgrund war. Mit dem Herren Kaufmann haben wir uns dann auch getroffen. Erst im Lauf der Zeit, als wir schon gedreht haben, hat sich herausgestellt, dass es noch mehr Leute gibt, die an die Öffentlichkeit gehen. Weil wir ja keinen Off-Kommentar verwenden wollten und es filmisch nichts zum Spiegelgrund gab, was einer breiten Öffentlichkeit bekannt wäre, haben wir uns entschlossen, die WissenschaftlerInnen und sogenannten Fachmenschen dazuzunehmen, die dann erzählen sollten, in was für einem Umfeld das passiert ist. Es war sehr schwierig, die dazu zu kriegen, nicht so bevormundend zu sein. Dann haben wir zusätzlich noch Interviews mit dem Gesundheitsstadtrat Sepp Rieder, mit dem Herrn Gabriel, dem Leiter der Baumgartner Höhe und Karl Öllinger von der Grünen gemacht.
Sindelgruber: Zur Auswahl der ZeitzeugInnen gibt es noch was zu sagen: Zu dem Zeitpunkt wo wir mit den Recherchen angefangen haben und auch schon am Treatment gefeilt haben, waren die Leute, die später an die Öffentlichkeit getreten sind, öffentlich noch nicht bekannt. Wir wollten im Zuge der Dreharbeiten aber nicht noch zusätzliche ZeitzeugInnen dazunehmen, weil es auch sehr schwer ist, mit diesen Leuten einfach ein Interview zu machen und sich dann wieder zu verabschieden. Man wird zu einer nahen Bezugsperson und das wäre eine zusätzliche Verantwortung gewesen, die wir nicht übernehmen konnten und wollten. Außerdem sind die drei Personen, die wir ausgewählt haben, Personen die eine ganz klar strukturierte Geschichte erzählen können. Sowohl die Geschichte bis 1945, die sie vor Ort erlebt haben und, sehr wichtig, auch die nach 1945 bis zum heutigen Tag, auf verschiedenen Ebenen und inhaltlichen Schwerpunkten. Es sind drei unterschiedliche Geschichten, die den Film sehr stark tragen. Die Fachleute, die im Film dann nicht vorkommen, Öllinger, Rieder und Gabriel, haben wir weggelassen, weil sie einer Fachsprache verfallen sind, die unser dramaturgisches Konzept völlig über den Haufen geworfen hätte. Das hätte den Stil des Films total durchbrochen. Politiker bedienen sich einer Phraseologie, die für mich in unserem Film nicht brauchbar war. Sie sprechen nie von sich, sondern immer nur von »wir« oder »unserer Partei«. Sie lassen keine Emotionalität aufkommen und bleiben in ihrer Position verhaftet. Ich werfe ihnen auch bis zu einem gewissen Grad Unehrlichkeit vor, und ich habe keine Lust, die Informationen, die sie sagen könnten, aber nicht sagen wollen, noch dazustoppeln zu müssen. Im Abspann kommen sie vor, weil wir das als eine Geste des Anstands empfinden. Sie haben schließlich Zeit für uns geopfert.
dérive: Wurdet ihr bei euren Recherchen auf irgend eine Art und Weise behindert?
Sindelgruber: An inhaltlicher Recherche ist durch einen gemeinsamen Bekannten von uns schon sehr viel passiert. An Sachinformationen heranzukommen war nicht schwer. Auch die Interviewtermine mit den Fachleuten zu bekommen war nicht schwer. Das einzige was sich problematisch gestaltet hat, waren die Aufnahmen auf der Baumgartner Höhe. Wir haben kein Problem gehabt, eine Drehgenehmigung für das gesamte Gelände zu bekommen, die waren sogar sehr kulant. Wir konnten einen leeren Pavillon als Stützpunkt verwenden. Die einzige Auflage war, keine PatientInnen zu filmen, aber das hätten wir sowieso nicht gemacht. Das Problem, dass es dann sehr wohl gegeben hat, war die Teile zu filmen, die die Baumgartner Höhe mit ihrer Geschichte konfrontieren, nämlich mit der Geschichte, die bis heute andauert, sprich der »Gedenkraum«. Da wurden dann die Verantwortlichkeiten innerhalb der Hierarchie hin und hergeschoben, bis wir dann die formale Bewilligung bekommen haben, doch filmen zu dürfen. Da sind wir auf jenen Umgang des Apparats gestoßen, der wahrscheinlich Menschen mit österreichischem Pass begegnet, einem großen internationalen Fernsehteam jedoch nicht. Wenn die diesen Gedenkraum filmen wollten, gab es nie ein Problem. Wir wurden wochenlang im Kreis geschickt. Die Genehmigung haben wir erst bekommen, als wir gesagt haben, dass wir mit Hamburg und den Alstersdorfer Anstalten in Kontakt sind. Ab diesem Zeitpunkt ging es alles schneller. Als wir dann dort waren, gab es aber dann doch wieder Probleme, weil kein Schlüssel zu finden war und der Primar nicht da war, etc. Man muss sich wirklich mit jedem in der Hierarchie auseinandersetzen. Das erste Mal als wir dort waren, war dort eine Baustelle. Als wir dann die Sache auch mit dem Primar geklärt hatten und das nächste mal wieder kamen, war plötzlich alles wunderbar aufgeräumt.
Schuster: Interessant ist vielleicht noch, dass es sehr viele Fotos von der Baumgartner Höhe aus der Jugendstilzeit, also der Anfangszeit, gibt, aber gar keine Fotos aus der NS-Zeit. Da wurde zwar auch sehr viel fotografiert, die Fotos gibt es aber nicht mehr.
Sindelgruber: Weder auf der Baumgartner Höhe, noch im Dokumentationsarchiv, noch im Stadt- und Landesarchiv.
Schuster: Aber irgendwo werden sie schon sein.
dérive: Im Mittelpunkt des Interesses steht meist der Herr Gross. Was ist über die anderen Ärzte, das Pflegepersonal etc. bekannt. Gibt es da eine juristische Aufarbeitung oder anderes Material?
Schuster: Es hat verschiedene Anstaltsbereiche gegeben, z.B. gab es ein Lager für so genannte asoziale Frauen, da hat es, so viel ich weiß, später auch Prozesse gegeben, sehr viele Frauen wurden zwangssterilisiert, aber es gab angeblich keine Morde. Bezüglich Spiegelgrund: Der Gross ist verurteilt worden, später wurde das Urteil wieder aufgehoben. Marianne T. ist, glaube ich, zu sieben Jahren verurteilt worden, die war dort Ärztin. Ihr wurde auch ihr akademischer Titel aberkannt. Sie musste nicht die ganze Haftstrafe absitzen, bekam auch ihren Titel wieder zurück, wollte aber nie wieder als Ärztin arbeiten. Eine Krankenschwester ist verurteilt worden. Illing, der Leiter des Spiegelgrund, ist hingerichtet worden. Es gibt, nehme ich an, jede Menge andere, denen aber nie was nachgewiesen werden konnte oder wo man nicht konsequent genug war. 1946 wurden die bei den Volksgerichtsprozessen mit Unmengen an Beweismaterial und auch vielen ZeugInnenaussagen konfrontiert, das wurde aber nie weiterverfolgt. Da gibt es diesen B., angeblich war der auch langjähriges SPÖ-Mitglied und angeblich war er auch Leiter am Steinhof. Der ist nie verurteilt worden und konnte seine Karriere ungeniert fortsetzen, der hat nicht einmal wieder von unten beginnen müssen. Es gab auch ziemlich lang einen nach ihm benannten Preis und ein internationales Symposium.
Sindelgruber: War der dann nicht Rektor in Graz?
Schuster: Das weiß ich jetzt nicht genau. Ich habe einmal die Zeitungen der ersten Jahre nach der NS-Zeit durchgesehen und da gab es sehr viele Anschuldigungen von ZeugInnen und Müttern, deren Kinder gestorben sind oder auch nicht gestorben sind. Die haben verschiedenste Ärzte beschuldigt, das wurde aber nie weiterverfolgt.
Sindelgruber: Man muss berücksichtigen, dass es bei der Euthanasie zwei Phasen gegeben hat. Zu Beginn wurden die Opfer zu zentralen Vernichtungsstellen, wie z.B. Hartheim gebracht, wo sie dann ermordet wurden. Auf Grund von Protesten, vor allem aus dem kirchlichen Bereich, wurde diese Phase beendet und die sogenannte wilde Euthanasie begann. Diese war aber wahrscheinlich noch effektiver und hat bedeutet, dass das Personal vor Ort selbst alle Tötungsschritte durchführte. Die waren mehr oder weniger alle involviert. Insofern ist es so erschreckend, dass es da nie Konsequenzen gegeben hat und viele dieser Leute mit diesem Dreck am Stecken und dieser Geisteshaltung nach 1945 bruchlos wieder übernommen wurden und sowas wie die Gesundheitspolitik der Zweiten Republik gemacht haben. Die anderen sind ja in die Emigration gezwungen worden und wurden auch nie wieder gebeten zurückzukommen. Auf dem Gelände von Steinhof hat es ja auch einen eigenen Pavillon gegeben, wo die Wiener Bevölkerung de facto katalogisiert worden ist, wessen Leben wert und wessen unwert ist. Die diesbezüglichen Definitionen wurden immer weiter - zum Schluss war, glaube ich, schon ein Drittel der Wiener Bevölkerung katalogisiert. Genau diese Menschen wollte man nach der NS-Zeit wieder im selben Pavillon anstellen, weil sie so eine schöne Handschrift gehabt hätten und sich mit Katalogisierung auskennen würden.
Schuster: Da wäre es um die Entnazifizierung gegangen.
Sindelgruber: Das hätten die übernehmen sollen. Wie sie selbst zur Vergangenheit gestanden sind, zeigt sich darin, dass nach 1945 eine Opferschale aufgestellt wurde, aber nicht etwa für die Euthanasieopfer, sondern für die Frontopfer unter der Belegschaft. Das erste äußere Zeichen des Gedenkens an die Opfer des Spiegelgrunds wurde erst 1988 gesetzt. Da haben sie eine Gedenktafel aufgehängt und einen Gedenkstein aufgestellt.
Schuster: Interessant ist auch, wenn man sich ansieht, wer nach 1945 aller mit dem Gross publiziert hat. Da sind sehr viele Leute dabei, die von den sterblichen Überresten der Opfer profitiert haben. Unter anderem ist da eine Frau dabei, die auf der Pathologie gearbeitet hat, als es den Spiegelgrund gab, das war eine Entlastungszeugin für den Gross. Der ist nie aufgefallen, dass die Kinder an einer unnatürlichen Todesart gestorben sind. Die hat dann sehr oft gemeinsam mit Gross publiziert und war auch weiter dort angestellt.
dérive: Habt ihr versucht, den Gross selber oder seinen Rechtsanwalt zu interviewen oder war von Anfang an für euch klar, dass ihr das nicht machen werdet?
Schuster: Das war für uns sehr schnell klar, dass wir das nicht machen wollen, weil der Schwerpunkt unseres Films bei den Opfern liegt und nicht bei den mutmaßlichen TäterInnen.
Sindelgruber: Als wir begonnen haben zu drehen, sind auch schon die jüngsten Erhebungen gegen Gross gelaufen und er hätte sicher aus einer Position heraus argumentiert, die mich nicht interessiert.
dérive: Seht ihr den Umgang mit Gross und dem Spiegelgrund als symptomatisch für die Zeit seit 1945 bzw. für die Geschichte der SPÖ?
Sindelgruber: Es ist ein Bereich der Gesellschaft und auch der Wissenschaft der symptomatisch und signifikant ist. Es hat auch in diesem Bereich eine kurze antifaschistische Periode bis Ende der 40er-Jahre gegeben, als man versucht hat, das zumindest juristisch aufzuarbeiten, und so was hätte in einer Gesellschaft Signalwirkung, wenn ich das als Verbrechen tituliere und die TäterInnen bestrafe. Das ist jedoch jäh abgebrochen. Für mich ist die gesellschaftliche Klammer seit Ende der 40er-Jahre einerseits die Opferrolle und andererseits der Antikommunismus - kalter Krieg. Alle die diesem Ziel gefolgt sind, waren so was wie Bundesgenossen und somit auch die Nazis. Wenn ich diese Erstes-Opfer-These ernst nehme und die Vergangenheit verdränge, muss ich auch die Opfer der NS-Herrschaft verdrängen, sonst würde ja ein anderes Bild erscheinen. Das hat dazu geführt, dass speziell die Opfer, die in unserem Film thematisiert werden, und die so genannten Asozialen verschwiegen wurden, und die Opfer, denen die Emigration bzw. Flucht gelungen ist, nicht zurückgeholt wurden. Gerade die, die frei gewordene Posten übernommen haben, haben sich hoch gedient und sind dann im Apparat geblieben. Die haben nach 1945 die geistige Grundlage an den Universitäten und anderen gesellschaftlichen Schaltstellen wie der Justiz gelegt. Das ist etwas, was dieser Gesellschaft bis heute wie ein Klotz am Bein hängt.
Schuster: Ich glaube jetzt nicht, dass es nur für die SPÖ symptomatisch ist, das kann in der ÖVP sicher genauso passiert sein, ist sicher auch passiert. In Wien gilt das halt für die SPÖ, weil sie viel stärker als die ÖVP ist. Zur Gegenwart ist zu sagen, dass es ja jetzt die Braune-Flecken-Diskussion in der SPÖ gibt. Ich weiß nicht, ob es wirklich eine Diskussion gibt, es dringt ja nicht soviel nach außen. Sie waren ja ganz ambitioniert, als der (nicht zu Stande gekommene) Gross-Prozess in den Medien präsent war. Einerseits muss man sich ja freuen, dass sie damit begonnen haben. Ich finde nur, dass es eine komische Optik ist, wenn die SPÖ sagt: Wir beschäftigen uns jetzt mit unserer Vergangenheit um die Regierungsparteien unter Druck zu setzen. Da ist es bei mir schon aus, weil ich mir denke, dass sie das aus einem anderen Grund machen sollten. Ich habe die Erklärung von Gusenbauer nur überflogen, ich weiß, dass das jetzt gemein ist, aber ich habe das Gefühl, dass die SPÖ nur genau das zugibt, was eh schon bekannt ist. Der Fall Gross ist jetzt im Rampenlicht gestanden, das war 1995 wahrscheinlich nicht so, als zig Prozesse nicht zustande gekommen sind, und sich die SPÖ schon längst hätte zu Wort melden können, auch wenn der Gross kein Parteimitglied mehr ist. In der Rede wird namentlich nur der Gross erwähnt. Ich würde es wesentlich ehrlicher finden, wenn sie wirklich die Karten auf den Tisch legen würden. Das wäre keine Selbstzerfleischung vor der sie Angst haben müssten, weil sie nur zugeben müssten, was schon alle wissen. Das stört mich ziemlich. Wir waren bei so einer SP-Diskussion.
dérive: Wie geht es mit eurem Film jetzt weiter? Ihr habt ihn englisch und französisch untertiteln lassen. Wo wird er gezeigt werden?
Schuster: Der Film ist sehr erfolgreich im Votiv-Kino gelaufen. Dass ihn der ORF bisher nicht kaufen wollte, kannst du auch schreiben, und dass wir deswegen der Meinung sind, dass wir es im Ausland versuchen sollten, was in so einem Fall wohl immer besser ist.
dérive: Könnt ihr über eure Gespräche mit dem ORF etwas erzählen?
Sindelgruber: Im ORF hatten wir mit vielen unterschiedlichen Redaktionen zu tun gehabt, die ihn eigentlich alle sehr gut gefunden und gelobt haben, aber trotzdem alle zum gleichen Schluss gekommen sind: Er passt nicht in ihre Sendeleiste und ist entweder zu wenig Kunst oder zuwenig Kultur oder er ist zu lang oder wie auch immer. Scheinbar gibt es dafür keinen Platz. Ich glaube gar nicht, dass das Spiegelgrund-Thema das Problem ist, weil es vielen österreichischen Dokumentarfilmen, die der ORF nicht mitproduziert hat, so geht. Das ist in dieser starren Schiene, die es gibt, nicht vorgesehen. In den Kunststücken, wo es eine Zeit lang ein Refugium gegeben hat, gibt es jetzt eine Redaktion, die mehr auf »Kunst« wert legt, was ihr unbenommen sei, führt aber dazu, dass es für den kritischen Dokumentarfilm, wie es aussieht, überhaupt keinen Platz mehr im österreichischen Fernsehen gibt, weil es ja nach wie vor ein Monopol gibt. Was weiter passieren wird: Der Film ist auf englisch und französisch untertitelt, und wir werden halt jetzt auch das beliebte Spiel, Österreich im Ausland zu vernadern, spielen. Da wird er vermutlich recht erfolgreich sein, und vielleicht bequemt sich ja dann doch eine entscheidende Persönlichkeit im ORF dazu, dass man ihn vielleicht doch auch einmal im Land zeigt, um ihn einer größeren Bevölkerungsgruppe zugänglich zu machen. Im Ausland ist das Interesse auf alle Fälle groß. Er wird sowohl auf Festivals gezeigt werden, da vertritt ihn die Austrian Film Comission und dann probieren wir es auch bei ausländischen Fernsehstationen.
dérive: Wollt ihr noch etwas sagen?
Sindelgruber: Zur Gusenbauer-Rede wäre noch zu sagen, dass wirklich nur eine Name vorkommt, und das ist der Gross. Die SPÖ hat ja das Glück, dass sie den Gross 1981, als der Prozess Gross-Vogt gelaufen ist, ausgeschlossen hat. Übrigens auf Grund des Antrags eines einzigen SPÖ-Abgeordneten, der selbst eine schreckliche persönliche Erfahrung aus der NS-Zeit hat. In dem Interview, das wir mit Stadtrat Rieder geführt haben, hat dieser gesagt, dass Gross weder der einzige »braune Fleck« in der SPÖ noch der schlimmste sei. Leider haben wir ihn damals nicht nach anderen Namen gefragt. Als wir ihn zu einem späteren Zeitpunkt, bei einer SPÖ-Diskussionsveranstaltung, noch einmal darauf angesprochen haben, hat er uns keine Antwort gegeben.
Schuster: Wir wollten da jetzt nicht sensationsgeil mehr Namen haben. Es wäre halt einfach ehrlicher gewesen. So kann ich das alles nicht ernst nehmen.
Sindelgruber: Beim Gross wäre es schon auch wichtig, sich seine Gutachten einmal anzuschauen, weil er ja nachweislich Gutachten geschrieben hat, um die Aufdeckung seiner persönlichen Geschichte zu verhindern. Der Fall des Herrn Zawrel ist ja bekannt, aber wieviel solcher Fälle mag es noch gegeben haben, wo er was zu vertuschen gehabt hat und Leute deswegen ins Unglück gestürzt hat.
Weitere Informationen: http://www.standbild.org/spiegelgrund
Angelika Schuster
Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.
Tristan Sindelgruber