Daniel Kalt

Daniel Kalt lebt als Kulturwissenschaftler, freiberuflicher Journalist und Übersetzer in Paris.


Die Stadt als Text, ein Getöse der Worte, weitläufiges Wortgeflecht oder Überlappung von Textfetzen allerorts – über die Angelegenheit lässt sich auf viele Weisen nachdenken. Text jedenfalls ist in der Stadt allgegenwärtig. Freilich muss der Begriff hier insoferne präzisiert werden, als es nicht ausschließlich um tatsächlich syntagmatisch geordnete, narrativ-beschreibende Wortreihen gehen kann. Jedes einzelne Wort, das im öffentlichen Raum steht, soll vielmehr als Partikel eines großen Ganzen verstanden werden, welches dann den Stadt-Text darstellt. Ich möchte versuchen, ein paar Aspekte des Phänomens anhand einiger konkreter, von mir als originell und repräsentativ angesehener Beispiele zu thematisieren: Diese sollen so weit als möglich dem Bereich der Kunst im öffentlichen Raum (KöR) zuzählbar sein, wobei diese – ob der etwas vagen Gestalt, welche Text-Körper gemeinhin einnehmen – sich ein wenig von der massiven Präsenz dekorativer Kunst-Körper wegbewegt, wie sie noch zuletzt Gegenstand dieser Serie waren. Textbausteine gereichen in diesem Zusammenhang mitnichten zur Hinterlassung monumentaler Drop Sculptures, so dass die Herausforderung vielmehr – ob der Omnipräsenz von (nicht notwendigerweise als solchem wahrgenommenem) Text nämlich – darin besteht, das kritische Wahrnehmungs-Vermögen der StadtnutzerInnen zu überprüfen oder zu stimulieren bzw., wie Roland Schöny über KöR allgemein schreibt, „geeignete Repräsentationsmöglichkeiten ausfindig zu machen und eine urbane Praxis zu entwickeln, welche auf eine dem Spektakel abgewandte kontrapunktische Codierung von Orten, Flächen oder Objekten mit adäquaten Mitteln […] zur Erweiterung des Möglichkeitssinns ausgerichtet ist.“[1]

© nidako
© nidako

Ich möchte vorschlagen, folgende grobe Typologie der Bezugnahme von Text auf Stadt und Stadt auf Text zu umreißen: in der Stadt platzierter Text bzw. die kreativ-kritische Auseinandersetzung mit ihm // Text, der aus der Stadt extrahiert und verbildlicht wird // Text, in dem Stadt und Stadtleben konvertiert werden. Bei Letzterem handelt es sich, doch darauf soll hier nicht näher eingegangen werden, in etwa um das literarische Subgenre des Stadt-Romans, in welchem der urbane Raum als allerlei Handlungsstränge bestimmende Komponente herhält. Literaturgeschichtlich betrachtet verändert sich die Schilderung der Stadt nachhaltig ab der Herausbildung industrialisierter Großstädte mit deren vielfältiger Bevölkerungsstruktur, wie sie sich aus einer massiven Landflucht sowie transnationalen Migrationsbewegungen ergibt. Charakteristisch ist in der frühen Massenliteratur das Auftauchen eines die Lebensläufe aller AkteurInnen unerbittlich vorgebenden Kosmos, welcher sich als omnipräsente Folie über die Handlung stülpt. Ein aktueller Ableger solcher Stadt-Texte – gemeinhin von geringerem literarischem Wert – ist das Konvolut mehr oder minder origineller Stadtgeschichten, die nahezu jedes Printmedium mit urbaner Zielgruppe auf die eigenen Seiten presst: Unmittelbarer lässt sich das Transformieren von Stadtleben in Text kaum mehr zelebrieren; mitunter hat die/der Lesende gar den Eindruck, auch die unspektakulärste Busfahrt werde sogleich ohne großes Reflektieren als mittelprächtig unterhaltsames Episödchen städtischen Lebens verwurstet.

Text aus der Stadt gewinnen und verbildlichen

Von solchem in der Folge absehend, möchte ich vielmehr einer Sichtweise anhängen, welche aufmerksam auf die Verbildlichung von Text in der Stadt bzw. Auseinandersetzungen mit textuellen Präsenzen ebenda abzielt. Michel Butor, illustrer Vertreter der Nouveau Roman-LiteratInnen und darob Wortführer eines nach neutraler Objektivität strebenden Experimentalismus in der französischen Literatur ab den 1950er Jahren, regt an, die Stadt überhaupt als eine Text-Sorte wahrzunehmen; als ein auf Texten basierendes Spektakel: „Die Stadt mag als ein literarisches Werk gesehen werden, das non-verbale Teile miteinschließt – wie ein Theaterstück – und seine eigenen Regeln und Kompositionsprinzipien hat; welches seinerseits einem außergewöhnlich umfangreichen Genre angehört, da ja, über den Umweg von Bibliotheken, Buchhandlungen, Schulen usw., die gesamte Literatur von mindestens einer Sprache als eines seiner Kapitel, seiner Akte, seiner Abschnitte gelten mag.“[2] Das Stichwort des Theaters lässt unweigerlich an das gesprochene PassantInnenwort denken: Vor der massenweisen Vervielfältigung verschriftlichter Texte zirkulierte bekanntermaßen eine orale Literatur im öffentlichen Raum, und wenn sich auch die Dinge nachgerade verändert haben, sind doch die Straßen weiterhin erfüllt vom ständigen Gemurmel und Geraune der sprechenden StadtnutzerInnen. Ein möglicher Ansatzpunkt für Kunst, die den Text des öffentlichen Raumes in einen rein musealen Innenraum transportieren mag.

**Andrea van der Straeten: Was ich gehört habe.** 5 Wandzeichnungen, Filzstift auf Dispersion, ca. 220 x 180 cm; Courtesy of O. K. Centrum für Gegenwartskunst; Andrea van der Straeten. © Otto Saxinger
**Andrea van der Straeten: Was ich gehört habe.** 5 Wandzeichnungen, Filzstift auf Dispersion, ca. 220 x 180 cm; Courtesy of O. K. Centrum für Gegenwartskunst; Andrea van der Straeten. © Otto Saxinger

Andrea van der Straeten, die ihre Arbeiten gemeinhin nicht ungern mit dem öffentlichen Raum korrelieren lässt, beschäftigt sich in einer Werkserie aus dem Jahr 2004 mit Gerüchten über stadtplanerische Projekte für vier neuralgische Punkte in der Linzer Innenstadt. Was ich gehört habe, so der Titel, zeigt den öffentlichen Raum als Gegenstand des Gerüchtes zum Einen und als Austragungs Ort (die Matrix? Den Ort des Heran- und Nachreifens?) des Gerüchtes zum Anderen. Fünf Wandzeichnungen im Linzer O. K. Centrum für Gegenwartskunst verarbeiteten eine Auswahl von im öffentlichen Raum – auf der Agora, gewissermaßen – gesammelten Gerüchten. Im Zentrum des künstlerischen Interesses stand bei diesen großflächigen Wandtafeln (im Übrigen verzichtete die Künstlerin darauf, die Arbeiten auf Papier zu übertragen – und so bleibt das Dynamische des öffentlichen Raums in der temporären Natur der Innenraumarbeiten gewahrt) die unverbindliche Rede der PassantInnen, welche eine breite Palette abdeckte: von profundem Hintergrundwissen genährt, von kühnen Mutmaßungen getragen, ziemlich wahllos vorgebracht oder einfach „Klatsch & Tratsch“.[3] Van der Straeten setzte die Visualisierung der gesprochenen Rede auf eine für sie charakteristische Weise um: Wandskizzen des Stadtraumes wurden mit Post-Its überklebt, auf denen die von Hand transkribierten Gerüchte zu lesen waren, welche sich auf den jeweils dargestellten Stadtteil bezogen. Eine derartige Aufbereitung der charakteristischen Rede-Substanz des öffentlichen Raumes ist eine jedenfalls spannende Strategie, welche darüber hinaus einer profunden und lange anhaltenden Auseinandersetzung der Künstlerin mit diesem „Material“ entspringt. In einem Aufsatz aus dem Jahr 2001[4] präsentiert van der Straeten die Ergebnisse einer in Chicago angestellten Untersuchung zur Einrichtung so genannter Rumor Clinics, in welchen die ordnungshütende Obrigkeit versuchte, Massenaufständen durch das Entkräften (Entschärfen) von kursierenden Gerüchten entgegen zu treten. Stellten sich die Rumor Clinics circa 25 Jahre nach ihrem Verschwinden ihrerseits als gerüchtähnlich ungreifbare Institution dar, über die Informationen einzuholen sich als über die Maßen schwierig gestaltete, verdeutlicht die Wortwahl (die Klinik – also die Heilanstalt) einmal mehr, dass im öffentlichen Raum Kursierendes mitunter als von pathologisch-viraler Bedrohlichkeit wahrgenommen wird.

Löschung des Stadt-Textes

Für den – auch geschriebenen, zumeist kommerziell interessierten – Text im öffentlichen Raum trifft eine Metaphorik der wuchernden Ausbreitung schon deshalb ebenfalls zu, weil dieser nicht nur kein Einhalt zu bieten ist, sondern der Text sich im Konkreten einer bewussten Erfassbarkeit entzogen zu haben scheint. Mit ihrem Projekt Delete!, das sich 2005 in der Wiener Neubaugasse niederließ (einer Einkaufsstraße eher geruhsamen Ausmaßes, einer Seitenstraße der Mariahilfer Straße, Wiens Shopping-Meile par excellence allerdings), unter-nahmen Rainer Dempf und Christoph Steinbrener den Versuch, den öffentliche-n Raum zu „entschriften“ und durch das Löschen jeglicher Schrift ein neues Bewusstsein für die kaum mehr wahrgenommene Omnipräsenz von Stadt-Text zu generieren. Und wohl auch für den Umstand, dass die unbeschriebene Fläche ein vergleichbar rares Brachland darstellt wie unbebaute innerstädtische Grundstücke. Von der harmlosesten Hinweistafel, die der Orientierung der PassantInnen dient, über das Geschäftsschild, die Auslagenbeschriftung und den Werbeslogan: Überall gibt es etwas zu lesen und Information zu verarbeiten. Die Redundanz eines Großteils von solchem Text wird erst offenbar, wenn die Information kurzzeitig verloren geht. Ob nämlich der Großstadtdschungel durch den Wegfall von (pseudo-)informativer Beschriftung tatsächlich an Unergründlichkeit gewinnt, ist zu bezweifeln. Vielmehr dürfte so in den Augen der Meisten der Stadt eines ihrer Charakteristika abhanden kommen. Immer-hin: Eine palimpsestische Abdeckung urbanen Texts durch monochrome Planen schafft neue Oberflächen für die kommunikative Verwirklichung der City-User. Bzw. (siehe oben) die Niederschrift von Gerüchten – vielleicht ist eine Stadt ganz ohne Schrift einfach nicht auszuhalten?

© Otto Saxinger
© Otto Saxinger

Ganz ohne – nicht kommerziellen – Text ginge es darüber hinaus ja wohl auch nicht. Abgesehen von Gebots- und Verbotstafeln, wie sie gerne einmal von findigen Kommunikationsguerilleros persifliert werden[5], gibt es jene Textfragmente, ohne die kein Auskommen wäre: Orientierungshilfen, Pläne, Richtungsweiser, Sraßenschilder. Die jeweils gewählte Schriftart bestimmt die Corporate Identity der Stadt, welche das Verortungsbdürfnis der BewohnerInnen bedient. Ein Blick auf den U-Bahn-Plan oder das nächste Straßeneck genügt, um festzustellen, dass man sich noch immer „daheim“ befindet. Wiewohl im Zeitalter globalen Wirtschaftstreibens einem solchen ortsspezifischen Schriftbild durch die Gegenwart weltweit gleich lautender, gleich anzuschauender Werbe-Texte die Vorrangstellung deutlich abgelaufen wird.

Auflehnung und Verweigerung

Den zweifellos größten Anteil an Text im öffentlichen Raum macht wohl das Waren bewerbende Wort aus. An allen Ecken und Enden angebracht, auf fast jeder freien Fläche lesbar, ist es Teil eines ökonomisch interessierten Stadtapparates, der nicht darauf vergisst, jede mögliche Anbringungsstelle kommerziell nutzbar zu machen. Das Platzieren von Text im öffentlichen Raum gerät jedenfalls zum kostenintensiven Unterfangen. Dabei bleibt den StadtnutzerInnen kaum die Wahl, sich rezeptionsbereit oder – einverständig zu zeigen. Die Präsenz der Werbetexte ist ein nicht auszuschaltendes Faktum, dem gemeinhin mit dem Schutzmechanismus größtmöglicher Indifferenz begegnet wird – vielleicht auch, weil man ständig an die eigene Unzulänglichkeit erinnert werden soll, die es mit dem einen oder anderen „Gadget“ auszubessern gälte. Baudrillard äußert sich über den städtischen diskursiven Raum als einen kompetitiven Kontext wie folgt: „Die Dichte an Menschen [in der Stadt] ist faszinierend, aber vor allem ist der Diskurs der Stadt an sich ein Wetteifern: Motive, Wünsche, Treffen, Stimuli, unablässige Urteilsbildung durch die Anderen, kontinuierliche Erotisierung, Information, Beanspruchung durch die Werbung: Das alles ergibt eine Art abstrakten Schicksals kollektiver Partizipation vor dem realen Hintergrund eines allgemein gewordenen Wetteiferns.“[6]

© Déboulonneurs
© Déboulonneurs

Der Ansatzpunkt für engagierte BürgerInnen, ob antikapitalistisch motiviert oder um die neutrale Nutzbarkeit des öffentlichen Raumes bzw. sein Erscheinungsbild besorgt, besteht in einem Aufbegehren gegen die Verkaufbarkeit ihres visuellen Empfindens. Im Unterschied zu TV-Werbung oder den Einschaltungen in Printmedien, die sich auf eine bewusst getroffene Entscheidung potenzieller KonsumentInnen berufen können (umschalten, Seiten überblättern …), gibt es angesichts des immensen Ausmaßes plakatierter Flächen im öffentlichen Raum keine ernsthaft denkbare Alternative zum Hinschauen und Beglückt-Werden mit Text und Bild. Es sei denn, man wollte um jeden Preis dieser Text-Sorte und ihrer graphischen Aufbereitung auskommen und nähme also die Gefahr eines ständigen Anprallens gegen Hindernisse und PassantInnen in Kauf, weil man stets gesenkten Blickes die Straßen abschreiten müsste. Eine couragierte Organisation in Frankreich, die déboulonneurs[7], hat sich zum Ziel gesetzt, dieser Überfrachtung des öffentlichen Raumes Einhalt zu gebieten. Der klar formulierte Slogan: „objectif 50 x 70“. A1 somit als das maximal zulässige Plakatformat, und eine strikt durchgezogene proportionale Durchrechnung der höchstens beklebbaren Fläche eines besiedelten Raumes, abhängig von der Anzahl der EinwohnerInnen. Unablässig aktiv in zahlreichen großen Städten des Landes, berufen sich die déboulonneurs auf ihr Recht zivilen Ungehorsams, um medienwirksam tätig bleiben zu können und die gesetzgebende Instanz auf ihr Anliegen aufmerksam zu machen. In ihren Aktionen überschreiben sie existierende Plakate und nutzen die vorhandenen Flächen zum Affichieren ihres Anliegens. Damit erfolgt eine Brechung des üblicherweise clean an-gelegten grafischen Codes: Der gesprayte Text überlagert den auf kommerziellen Erfolg ausgerichteten Ursprungstext und erfüllt ob seiner Unbeholfenheit eine eigene Appellfunktion.

Freilich schläft auch die Werbung nicht und reagiert auf solche unverblümten, ja krude anmutenden Adbusting-Strategien mit ihrer ureigensten Waffe: der Imitation und Adaptation für die eigenen Zwecke. Während man in Frankreich landesweit organisiert und anderswo etwas verstreuter einen Kampf gegen Windmühlen führt, zeigt zum Beispiel die Plakatkampagne eines österreichischen Mobilfunkunternehmes vom Herbst 2006, dass nicht einmal die Adbuster vor der Heimholung in den lauschigen Werbetümpel gefeit sind.[8]

Text, der die Stadt durquert – oder verschenkt

Im Grunde tragen freilich auch TrägerInnen von Markenware, die sich offenkundig selbst bewirbt, bzw. KonsumentInnen mit großzügig beschrifteten Einkaufstaschen zur Verstärkung der Gegenwart von Werbung im öffentlichen Raum bei. Paradoxerweise zahlen in diesem Fall die KonsumentInnen mitunter sogar einen Aufpreis, um als Werbefläche fungieren zu dürfen. Beschriftetes Textil mag freilich jenseits bloßer Markenschriftzüge oder Modetrends auch als Statement gelesen werden, wiewohl im Regelfall – also bei massenweise verbreiteter Ware – der Individualitätseffekt oder die tatsächliche Identifikation mit dem dekorativ-textilen Textteil ein wenig auf der Strecke bleiben. Erwähnenswert finde ich in diesem Zusammenhang ein Projekt an der Berliner Rütli-Schule, die nach Vorkomnissen im März 2006 als Austragungsort einer von den PädagogInnen nicht mehr bändigbaren Gewaltbereitschaft der SchülerInnen in die Schlagzeilen geraten war. Etwas später wurde im schulinternen Kunstunterricht das Projekt gestartet, dieser Verfemung durch selbstbewusst inszenierte Identifikation der Schulangehörigen mit ihrer Anstalt entgegen zu treten. Einfärbige T-Shirts wurden mit einem unübersehbaren RÜTLI-Schriftzug bedruckt und ließen keinen Zweifel darüber, dass die Text-TrägerInnen im öffentlichen Raum eine konkrete Aussage tätigen wollten.[9]

© Steinbrener/Dempf. www.steinbrener-dempf.com
© Steinbrener/Dempf. www.steinbrener-dempf.com

Zum Abschluss, und etwas weniger mobil den öffentlichen Raum durchquerend als eine Armada von T-Shirt-TrägerInnen, soll eine Initiative Erwähnung finden, die Weihnachten 2006 im Kleinraum des fünften Wiener Gemeindebezirkes fast unbemerkt stattfand: nidako verschenkt Margareten titelte die Aktion und bestand in der Anbringung von grellbunten Geschenksanhängern, bedacht mit Namen aus verschiedenen Sprachkontexten, an alltäglichen Objekten im Stadtraum[10]: Stoppschilder, Parkbänke, Kinderschaukeln … Hintergrund eines solchen Tuns, wie auch die Mitorganisatorin und nidako-Mitglied Nina Ober heraus streicht, ist der spielerische Umgang mit der leidigen Frage, wem der öffentliche Raum zu gehören habe. Wenn nämlich alle ein Anrecht darauf haben, die von nidako verschenkten Gegenstände zu nutzen, dann kann für kurze Zeit wohl der eine oder andere davon ins Eigentum einer/s konkreten Stadtnutzerin/s übergehen. Im Pressetext lautet dies: „Und so überlegt sich nidako, dass freilich alle ein Besitzrecht an den öffentlichen Raum stellen dürfen. Dass aber kaum eineR ihn jemals so richtig bewusst als potentiell eigenes Besitztum wahrnimmt. Eine generöse Weihnachtsaktion schafft diesem Umstand Abhilfe: nidako verschenkt die Stadt. Im mittelgroß gehaltenen und – wacker den Temperaturen trotzend – öffentlich angesiedelten Rahmen verteilt nidako vielerlei Öffentliches. Altbekannte Geschenksanhänger verurkunden temporäre Besitzansprüche. Wer will, wird beschenkt und muss zu diesem Zwecke nur bei der Weihnachtsaktion anwesend sein. nidakos Gaben sind großartig und übertreffen den kühnsten Wunschzettel.“

Auf diese Weise ist sicher gestellt, dass es ein verbrieftes Anrecht auf öffentlich Zugängliches gibt. Eine willkommene Abwechslung zum bis auf den letzten Quadratzentimeter durchbudgetierten Regelfall. Und auch dies, wie denn sonst, lässt sich am besten durch das Anbringen von Text verdeutlichen. Der, wie das unsichtbare Gerücht, dazu beiträgt, Kommunikationsmuster aufrecht zu erhalten und demokratisierende Ahnungen zu festigen.

Daniel Kalt ist Kulturwissenschaftler, freiberuflicher Journalist und Übersetzer.

Fußnoten


  1. Schöny, Roland (2005): Kunstprojekte im Spannungsfeld des Öffentlichen. In: dérive, 21/22. S. 5 – 7. ↩︎

  2. Butor, Michel (2006): La ville comme texte. In: Œuvres complètes de Michel Butor. Tome III. Paris, Éditions de la différence. S. 567 - 574. Hier S. 569. Übersetzung: Daniel Kalt. ↩︎

  3. Die Liste der eingeholten Gerüchte, dazumal ausstellungsbegleitend im O. K. ausgelegt, wurde mir von der Künstlerin freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Besonders heiß brodelt es in der Gerüchteküche, meine ich, wenn aus der kolportierten Rede ihre Entstehungsgeschichte ablesbar ist. Beispielhaft: „Ich hab gehört, dass man in der letzten Zeit die Frau vom Dobusch zusammen mit der Frau vom Gneidinger so oft zusammen einkaufen gesehen hat. Aus so was entsteht in Linz auch schnell einmal was. Angeblich hat der Dobusch vor, mit dem Urfahraner Markt ein Zeichen gegen den Trend zu setzen und alles zu lassen, wie es ist. Aber dann hätte die Politik ja verstanden, dass eine unbebaute Fläche in der Stadt, die von vielen genutzt wird, kein Schandfleck ist, sondern ein sinnvoller Luxus.“ ↩︎

  4. van der Straeten, Andrea (2001): Rumor Clinics. In: springerin, 4. Nachzulesen auch unter <www.springerin.at/dyn/heft_text.php?textid=739&lang=de> ↩︎

  5. Man erinnere sich an die, andernorts besprochenen, Designated Graffiti Areas by Royal Appointment, die der illustre Street Artist Banksy im Stadtraum per kommunikationsguerilleristischem Text markiert oder ähnliche Interventionen desselben Künstlers. Kommunikationsguerilla und Adbusting möchte ich in diesem Zusammenhang allerdings nicht konkret besprechen, weil die Diskurslage ein über die Grenzen dieses Artikels hinaus gehendes Ausmaß erfordern würde und mein Interesse an dieser Stelle anders gelagerten Projekten gilt. ↩︎

  6. Baudrillard, Jean (2001): La société de consommation. Paris: Denoël. S. 25. Übersetzung: Daniel Kalt. ↩︎

  7. Wörtlich: die HerunterreißerInnen. Vgl. <www.deboulonneurs.org> ↩︎

  8. Zunächst völlig unspektakuläre Plakate, die ein neues Tarifschema bewarben, änderten kurze Zeit nach ihrem ersten Auftauchen das Erscheinungsbild und wurden mit fetten, scheinbar gesprayten Protestschriftzügen überzogen, welche sich allerdings nur gegen die ungeheure Kostengünstigkeit richteten. Das Ganze war also relativ schnell durchschaubar. Aber es nötigte der/m FlaneurIn doch einen zweiten Blick ab. Und das ist ja schon fast mehr, als WerbekundInnen verlangen können... ↩︎

  9. Vgl. zum Beispiel: Kiffmeier, Jens (2006): Provokation in XXL. Süddeutsche Zeitung, 141/2006. S. 9. ↩︎

  10. Vgl. die Homepage <www.nidako.tv> für eine Dokumentation des Projekts. ↩︎


Heft kaufen