Stadt ohne Geruch?
Atmosphärische BemerkungenJede Stadt hat ihre eigene Atmosphäre. Gerüche spielen dabei eine entscheidende Rolle: Sie hüllen uns ein, sind unausweichlich, prägen unsere Eindrücke auf unmittelbarste und nachhaltige Weise. Schon seit längerem ist jedoch eine Vernachlässigung, ja Vertreibung dieses so wichtigen atmosphärischen Elements festzustellen, ein Prozess, der - wie Gernot Böhme vermutet - für die vielerorts empfundene Unwirtlichkeit der modernen Städte wesentlich mitverantwortlich sein dürfte, denn: »Eine Stadt ohne Geruch ist wie ein Mensch ohne Charakter.«
Jede Stadt hat ihre eigene Atmosphäre. Gerüche spielen dabei eine entscheidende Rolle: Sie hüllen uns ein, sind unausweichlich, prägen unsere Eindrücke auf unmittelbarste und nachhaltige Weise. Schon seit längerem ist jedoch eine Vernachlässigung, ja Vertreibung dieses so wichtigen atmosphärischen Elements festzustellen, ein Prozess, der - wie Gernot Böhme vermutet - für die vielerorts empfundene Unwirtlichkeit der modernen Städte wesentlich mitverantwortlich sein dürfte, denn: »Eine Stadt ohne Geruch ist wie ein Mensch ohne Charakter.«[1]
Der Umgang mit Gerüchen ist in der Stadt von vielfältigen Bemühungen charakterisiert, Riechendes zu kontrollieren und zu verbannen. Die dauernde Anwesenheit von vielen Menschen an einem nur beschränkt verfügbaren Raum erfordert sowohl im Städtebaulichen wie auch im Sozialen wirksame Maßnahmen der Regulierung und Disziplinierung. Die Beherrschung der urbanen Geruchsemanationen wurde in der europäischen Stadtgeschichte zu einem Brennpunkt des Kampfes der Zivilisation mit der Natur. Für die moderne Stadt kann die in den vergangenen zweihundert Jahren vorgenommene Desodorisierung als einer der nachhaltigsten Eingriffe in das urbane Gefüge bezeichnet werden. Nicht nur das Stadtbild, auch die Mentalität und olfaktorische Sensibilität der Bewohner wurden dadurch entscheidend geprägt.
Alain Corbin legte dies eindrucksvoll für die Pariser Verhältnisse dar[2], und auch in Wien lässt sich eine vergleichbare Entwicklung feststellen. Ein Blick in die Geschichte soll dies verdeutlichen: Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wies die Wissenschaft immer lauter darauf hin, dass die so genannten »Miasmen« für die überdurchschnittlich hohe Sterblichkeitsrate in der Stadt verantwortlich seien. Für die sich neu herausbildende Lehre der Stadthygiene war die Luft, wie der Wiener Arzt D.Z. Wertheim formulierte, ein giftiger »Brodem«, den zu »trinken« die Bevölkerung ständig genötigt sei.[3] Sein Kollege Nikolaus Theodor Mühlibach konkretisierte 1815 in einer Bestandsaufnahme die breit gefächerte Palette des bedrohlichen Gestanks: In der engen, von immer mehr Tieren und Menschen bevölkerten Stadt, rieche es allerorts nach den Ausdünstungen der verschmutzen Gewässer, nach den Dämpfen des mit fauligen Substanzen durchtränkten Bodens, nach Kot und Urin, Unrat und Verwesung, nach mehr oder weniger frischen Lebensmitteln, die auf den Märkten zum Verkauf bereitliegen oder von Straßenhändlern vertrieben werden, nach Staub und Rauch und den stickigen, von Gewerbe- und Industriebetrieben ausgestoßenen Gasen.[4]
Besonders störend war die anhaltende Geruchsbelästigung entlang der Flüsse, in die sämtliche Abfälle, Fäkalien und Abwässer der Stadt entsorgt wurden. Noch 1873 wies der Ingenieur Elim Henri d'Avigdor nicht ohne Empörung auf diesen unzumutbaren Übelstand im zu beiden Seiten des Wienflusses errichteten Stadtpark hin: » (...) todte Tiere, Schlamm und Kehricht aller Art erscheinen am Ufer und mengen ihre Dünste mit den Wohlgerüchen der Rosen vor dem Cursalon. Der von der Hitze ermattete Wiener, welcher dort etwas Erholung und frische Luft zu finden hofft, athmet mit jedem Zuge giftige Miasmen ein.«[5]
Angesichts des immer häufigeren Ausbruchs von Krankheiten und Seuchen bildete sich eine geschärfte Sensibilität gegenüber dem Gestank heraus - getragen und verbreitet vor allem vom Bürgertum, das mit seinen Vorstellungen von Ästhetik, Sauberkeit und Moral das urbane Leben entscheidend beeinflusste. Strategien zur geruchlichen Reinigung des Stadtraumes wurden entwickelt und sukzessive verwirklicht: Es entstand ein dichtes und weit verzweigtes Kanalnetz, das den bedrohlichen Gestank der Kloaken in den Untergrund verbannte; die Flüsse, allen voran Wienfluss und Donaukanal, wurden kanalisiert und zum Teil überwölbt, die Straßen durch Pflasterung abgedichtet und regelmäßig gereinigt. Man errichtete öffentliche Bedürfnisanstalten, führte eine regelmäßige Müllabfuhr ein und verbesserte die Luftzufuhr durch den Abbruch der Stadtmauern und die Anlage von geraden Straßen und großen Plätzen. Besonders stinkende Gewerbebetriebe wurden verboten, die Fabriken mit immer höheren Schloten ausgestattet und zunehmend an die Peripherie verlagert, ebenso wie die Mülldeponien und Friedhöfe. Innerstädtische Parks und Grünanlagen sowie ein großzügiger Wald- und Wiesengürtel wurden zur Erholung für die leidgeprüfte Nase des Großstädters angelegt.[6]
Hand in Hand damit ging die soziale Säuberung der Stadt. Auch wenn die moderne Bakteriologie mittlerweile zur Erkenntnis gekommen war, dass nicht alles krank macht, was stinkt, so blieb der Geruch doch ein Mittel der sozialen Identifikation. Georg Simmel notierte über diesen zentralen soziologischen Aspekt des Riechens: »Daß wir die Atmosphäre jemandes riechen, ist die intimste Wahrnehmung seiner, er dringt sozusagen in luftförmiger Gestalt in unser Innerstes ein, und es liegt auf der Hand, daß bei gesteigerter Reizbarkeit gegen Geruchseindrücke überhaupt dies zu einer Auswahl und einem Distanznehmen führen muß, das gewissermaßen eine der sinnlichen Grundlagen für die soziologische Reserve des modernen Individuums bildet.«[7] Die Nase fungierte als entscheidendes Distinktionsorgan, das auch sozialen Abstand von jenen Menschen forderte, deren räumliche Nähe man zu meiden trachtete. Sie wurden für stinkend erklärt und gesellschaftlich stigmatisiert. Dies traf auf Kranke, Gefangene, Bettler und Obdachlose ebenso zu wie auf Angehörige jener Berufsstände, die übel riechende Arbeiten verrichteten wie Lumpensammler oder Kanalräumer. Das Urteil der Nase über diese »Kumpanen des Gestanks« (Alain Corbin) wurde letztlich auf alle Angehörigen der sozialen Unterschicht ausgedehnt. Es trug mit bei zu einer deutlichen sozialräumlichen Gliederung des Wiener Stadtgebietes, deren Grundzüge noch heute existent sind.
Der Erfolg sprach für sich: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts konnte man wieder durch die inneren Bezirke Wiens flanieren, ohne sofort von üblen Ausdünstungen überwältigt zu werden. Paradoxerweise begann sich gerade in jener Zeit ein neuer Gestankserreger auszubreiten: das Automobil. Obwohl es vereinzelt heftige Kritik gegen die olfaktorischen Nebenwirkungen des neuen Verkehrsmittels gab[8], roch es doch zu sehr nach Fortschritt und Freiheit, als dass sich der Widerstand in diesem Fall durchsetzte. Die nach dem Zweiten Weltkrieg rasant zunehmende Motorisierung ließ die von den Kraftfahrzeugen emittierten Abgase schließlich zum markantesten Geruch in der Stadt werden.
Heute stellt die Wiener Luft - wie in anderen Großstädten auch - ein international ähnliches Geruchseinerlei bestehend aus Autoabgasen, Industrieemissionen und Hausbrand dar. Das ehemals schillernde Geruchspanorama ist einem monotonen Dunst gewichen. Denn mit der Desodorisierung verschwanden nicht nur die vielfältigen Ausprägungen des Gestanks, sondern auch die angenehmen Düfte der Natur, denen man einst noch in vielen Gärten und unverbauten Bereichen begegnen konnte. Sie sind heute in der Innenstadt nur mehr in einigen Reservaten, gleichsam als solitäre Geruchsinseln erhalten. So kann man sich direkt von der Ringstraße in den Volksgarten oder von der Brigittenauer Lände in ein Rosarium begeben und hier für kurze Zeit in den Duft der Rosen eintauchen, ehe man wieder in die vertraute Geruchswelt der Autoabgase zurückkehrt.
An den typischen Stadtgeruch hat man sich als Einheimischer inzwischen gewöhnt, obwohl es doch so etwas wie eine Sehnsucht nach anderen Gerüchen zu geben scheint. Denn immerhin empfinden laut Statistik rund zwei Drittel der Wiener Bevölkerung die Luft in ihrer Stadt als unsauber.[9] Und auch die große Zahl an Menschen, die jedes Wochenende der Stadt entfliehen, verdeutlicht das dringende Bedürfnis nach - zumindest kurzfristiger - »Luftveränderung«.
In der urbanen Betriebsamkeit dominieren mittlerweile die visuellen und akustischen Reize eindeutig über die olfaktorischen. Nur mehr wenige Wiener Stadtviertel weisen einen für sie charakteristischen Geruch auf, wie etwa die Umgebung der Manner-Schokolade-Fabrik, der Ottakringer-Brauerei oder des Oberlaaer-Schwefelbades. Will man die aktuelle Qualität der Stadtluft in Erfahrung bringen, ist man auf seine Augen angewiesen. Von weitem sichtbare Anzeigetafeln informieren darüber, was die Nase nur schwer zu differenzieren imstande ist. Dass nun gerade das Ozon als geruchloses Gas in den letzten Jahren zu einem der bedrohlichsten Schadstoffe in der Luft geworden ist, bringt die weitgehende Überflüssigkeit des Gebrauchs der Nase in der Stadt auf den Punkt.
Als Städter vertraut man darauf, dass sich in der Luft keine wirklich gesundheitsbedrohlichen Substanzen befinden; es wird erwartet, dass die Stadtluft steril und somit unbedenklich zu genießen ist. Treten dennoch überraschende Gestanksattacken auf, ist die Irritation umso heftiger. Als sich 1996 eine besonders intensive Gestankswolke über weite Teile der Stadt ausbreitete, führte dies sogleich zu zahllosen besorgten Anrufen bei der Stadtverwaltung. (Der Gestank, der als nach Fäkalien riechend beschrieben wurde, stellte sich letztlich als ungefährlich und Folge der auf den Äckern in der Umgebung Wiens aufgebrachten Düngung heraus.)[10]
Bereits seit einiger Zeit lassen sich zaghafte Ansätze zur gezielten Reodorisierung des Stadtraumes feststellen. Im Zuge der Neugestaltung von Parkanlagen werden bei der Bepflanzung nicht nur optische Sinneseindrücke, sondern vereinzelt auch olfaktorische berücksichtigt. So geschehen vor einigen Jahren im Rochuspark, oder aktuell beim Urban-Loritz-Platz. Hier ist im angrenzenden Park ein kleines Geruchsbeet entstanden, das die Besucher mit dem Duft nach Lavendel und Salbei erfreuen soll. Es sind allerdings nur äußerst bescheidene, lokal eng begrenzte Versuche, die seitens einiger engagierter Landschaftsplaner gestartet werden. In der Wiener Stadtplanung spielen Gerüche ansonsten so gut wie keine Rolle. (Im Gegensatz zu Deutschland, wo in München bereits 1993 eine »Duftkarte« erstellt wurde, die den Stadtplanern seither als Entscheidungsgrundlage dient.[11]
Weitaus größere olfaktorische Auswirkungen hat da schon die auch in Wien in den letzten Jahren zunehmende kommerzielle Nutzung des (halb)öffentlichen Raumes, die vor allem Essensdüfte zum immer häufigeren Begleiter durch die Stadt werden lässt. Einkaufsstraßen, Shopping- und Entertainment-Centers werden zu Konsum- und Erlebniszonen umgestaltet, Unterführungen und Umsteigeknotenpunkte immer dichter mit Fastfood-Läden bestückt (erinnert sei an den mittlerweile berühmten »Kangal-Duft« im Jonas-Reindl[12]). Selbst beim Kinobesuch wird man neuerdings nicht mehr nur vom vertrauten Popcorn-Duft umweht. Ob der Umstand, dass sich darunter auch zahlreiche »ausländische« Gerüche befinden, in Hinkunft mehr als Belästigung denn als Bereicherung des heimischen Duftspektrums empfunden wird, bleibt abzuwarten. Eine deutlichere Abgrenzung gegenüber sozial unerwünschten Gerüchen scheint sich jedenfalls abzuzeichnen. Bettler, Obdachlose und in verstärktem Maße auch Zuwanderer werden an weniger repräsentative Orte verdrängt. Der Geruch der Armut wird, wenn auch oft mehr Erinnerung als reale Wahrnehmung, mehr denn je als Sand im Getriebe der urbanen Konsum- und Freizeitgesellschaft empfunden.
Fußnoten
Gernot Böhme: Die Atmosphäre einer Stadt. In: Gerda Breuer (Hg.): Neue Stadträume. Zwischen Musealisierung, Medialisierung und Gestaltlosigkeit. Frankfurt/Main-Basel 1998, S. 151. ↩︎
Alain Corbin: Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs. Frankfurt/Main 1988. ↩︎
D.Z. Wertheim: Versuch einer medicinischen Topographie von Wien. Wien 1810, S. 51. ↩︎
Nikolaus Theodor Mühlibach: Wien von seiner übelsten Seite aus betrachtet. Wien 1815, S. 102-125. ↩︎
Elim Henri d'Avigdor: Der Wienfluß und die Wohnungsnot. Wien 1873, S. 14. ↩︎
Eine ausführliche Analyse der einzelnen Desodorisierungsmaßnahmen findet sich in Peter Payer: Der Gestank von Wien. Über Kanalgase, Totendünste und andere üble Geruchskulissen. Wien 1997, S. 61-166. ↩︎
Georg Simmel: Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. München-Leipzig ³1923, S. 490. ↩︎
Vgl. dazu u.a. Michael Freiherr von Pidoll: Der heutige Automobilismus. Ein Protest und Weckruf. Wien 1912. ↩︎
Der Standard. 13.5.1995, S. 7. ↩︎
Rathauskorrespondenz v. 24.4.1996. ↩︎
D. Reinsch: Ein Stadtplan der Gerüche. München hat die erste Duftkarte Deutschlands. In: Bauwelt, Heft 32/1993, S. 1688-1690. ↩︎
Florian Holzer: Der Duft des Jonas-Reindls. In: Der Standard. 2.3.1998. ↩︎
Peter Payer, ist Historiker und Stadtforscher sowie Kurator im Technischen Museum Wien.
Der Artikel stellt die erweiterte Fassung eines Radiobeitrags für »Diagonal« (Feb. 2000) dar.
Publikationen: u.a. Der Gestank von Wien.
Über Kanalgase, Totendünste und andere üble Geruchskulissen (1997); Unentbehrliche Requisiten der Großstadt. Eine Kulturgeschichte der öffentlichen Bedürfnisanstalten von Wien (erscheint November 2000).