Städte lassen sich am Gang erkennen wie Menschen
Besprechung von »Die Eigenlogik der Städte. Neue Wege für die Stadtforschung« herausgegeben von Helmut Berking und Martina Löw„Autos schossen aus schmalen, tiefen Straßen in die Seichtigkeit heller Plätze. Fußgängerdunkelheit bildete wolkige Schnüre. Wo kräftigere Striche der Geschwindigkeit quer durch ihre lockere Eile fuhren, verdickten sie sich, rieselten nachher rascher und hatten nach wenigen Schwingungen wieder ihren gleichmäßigen Puls. Hunderte Töne waren zu einem drahtigen Geräusch ineinander verwunden, aus dem einzelne Spitzen vorstanden, längs dessen schneidige Kanten liefen und sich wieder einebneten, von dem klare Töne absplitterten und verflogen. An diesem Geräusch, ohne daß sich seine Besonderheit beschreiben ließe, würde ein Mensch nach jahrelanger Abwesenheit mit geschlossenen Augen erkannt haben, daß er sich in der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien befinde. Städte lassen sich am Gang erkennen wie Menschen...“
Robert Musil,
Der Mann ohne Eigenschaften
Das eindrucksvolle Bild, das Musil in seinem epochalen Stadtroman Der Mann ohne Eigenschaften von Wien im Jahre 1913 zeichnet, stellt eine jeder Stadt sehr eigene Wirkungsmacht nicht in Frage. Geräusche und der Widerhall von Tönen, wie sie von den Kanten und Mauern der Stadt abprallen, verdichten sich im Ohr zu einem akustischen Gesamtbild, aus dem unverkennbar die Identität einer Stadt wahrnehmbar wird. Wenn also aus Grundformen des Raumes eine Geräuschlandschaft erzeugt werden kann, aus der, wie Musil es formuliert, selbst mit geschlossenen Augen die Stadt zu erkennen ist, so liegt der Schluss nahe, dass Städte durchaus auch „eigensinnig“ sein können.
Nicht ohne Grund also, wenn Helmut Berking den letzten Satz des obigen Zitats als Titel für seinen Beitrag in dem kürzlich erschienenen Buch Die Eigenlogik der Städte wählt. Mit der Idee, in der Stadtsoziologie die „Eigensinnigkeit“ von Städten zu beforschen und ihre „lokalen Besonderheiten“ und Differenzen zum Thema zu machen, möchten die HerausgeberInnen Martina Löw und Helmut Berking neue Wege in der Stadtsoziologie beschreiten. Dazu fand im Juni 2007 in Darmstadt ein Workshop statt, in dem zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter der Stadtsoziologie gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus benachbarten Disziplinen – von der Politikwissenschaft bis zur Ökonomie – diskutierten. Die zahlreichen spannenden Beiträge sind vergangenen Herbst 2008 in Buchform erschienen.
„Nicht länger und ausschließlich in den Städten forschen, sondern die Städte selbst erforschen, »diese« im Unterschied zu »jener« Stadt zum Gegenstand der Analyse zu machen“, so beschreiben die AutorInnen ihre Überlegungen zu einem Perspektivenwechsel in der Stadtforschung. Seit Georg Simmels Gründungsdokument der Stadtsoziologie Die Großstädte und das Geistes leben (1903) sowie ab/infolge der bedeutendsten Strömung der Stadtforschung – der Chicago School of Urban Sociology und Robert Parks The City (1925) – sei der Stadtsoziologie ein „Theorieprogramm“ verordnet, wonach die Stadt als „Laboratorium für Gesellschaftsprozesse jedweder Art“ zu begreifen sei. Dem lokalen Kontext und seinen Wirkungen bislang nur eine sekundäre Bedeutung beizumessen, greife aber zu kurz. Wichtige Fragen, Prozesse und Zusammenhänge würden dadurch ausgeklammert und die „Erforschung der konkreten Stadt weitgehend zugunsten von Gesellschaftsanalysen in der Stadt preisgegeben“.
Die elf Autorinnen und Autoren spannen einen breiten thematischen Bogen von Theorien und praktischen Betrachtungen. Helmut Berking lässt die Theorienbildung der „Stadtforschung ohne Stadt“ Revue passieren, um schließlich gewichtige Argumente für den Forschungsschwerpunkt, die Eigenlogik der Städte, „gleichermaßen als Erkenntnisobjekt wie als Hypothesenrahmen“ anzuführen. Martina Löw kommt bei ihren Erwägungen über „Differenzen zwischen Städten als konzeptuelle Herausforderung“ neben anderem zu dem Schluss, dass Städte durch ihre Materialität bestimmt werden: „Die Materialität einer Stadt – vom Pflaster bis zur Kleingartensiedlung, von den Strommasten bis zum Springbrunnen – sind Elemente einer sozialen Praxis, die in die Deutungen von Städten genauso einfließen wie Erinnerungen, politische Konfigurationen, ökonomische Verhältnisse.“
Den beiden HerausgeberInnen folgt ein Beitrag mit dem Titel Städtischer Habitus – Habitus der Stadt (Franz Bockrath). Rolf Lindner stellt drei Komponenten der Stadtanalyse vor – Textur, imaginaire, Habitus – mit denen man „der Individualität von Städten besser auf die Spur kommen kann“. Ulf Matthiesen befasst sich mit der Dynamik zwischen Stadt- und Wissenslandschaften. Die Frage, wie Stadt aus einer philosophischen Perspektive zu erforschen ist, wird von Petra Gehring thematisiert. Gerald Held fragt nach den „urbanen Voraussetzungen des Sozialen“ und betitelt seinen Beitrag programmatisch Der städtische Raum als Voraussetzung des Sozialen. Die Politikwissenschaft (Karsten Zimmermann) leitet das Thema zu der Frage, welche „Funktions- und Ordnungsmuster“ in Städten ausgeprägt werden und wie „Kommunen in den Staatsaufbau eingebettet sind“. Cedric Janowitz erweitert den europäischen Diskurs durch seine Betrachtungen über „Afrikas »gewöhnliche« Städte und ihre Eigenlogik“, bevor Marianne Rodenstein sich der sehr konkreten Frage stellt, wie sich die beiden Städte Frankfurt und Hamburg voneinander unterscheiden. Den Schlussbeitrag bilden Jürgen Hasses Überlegungen zum Begriff „Stadt“ und in welcher Beziehung dieser zur realen Stadt steht.
Ein Thema, das offenbar bisher nicht diskutiert wurde und für die Stadtforschung – sofern sie für sich den Anspruch erhebt, die „Eigensinnigkeiten“ einer Stadt zu beforschen – zentral ist, ist die Betrachtung von Genderaspekten. Aber was nicht ist, kann ja noch werden: Weitere Bände sollen folgen. Das Buch ist vorerst der erste Band in einer geplanten Reihe zum Schwerpunkt Interdisziplinäre Stadtforschung an der Technischen Universität Darmstadt. Es darf angemerkt werden, dass bei einem Gegenstand wie „Stadt“ neben Stadtsoziologinnen und -soziologen, Sportwissenschaftern, Ökonomen, Philosophinnen, Geographen, Sozialökologen und der Europäischen Ethnologie auch die mit der Materialität von Städten befassten Architektinnen und Architekten (gerne) ein gewichtiges Wort mitzureden hätten. Wir warten schon gespannt auf den nächsten Band!
Edeltraud Haselsteiner