Streifzüge durch den Ideologiepark
Besprechung von »Der Geschmack von Wien. Kultur und Habitus einer Stadt« von Lutz MusnerSofort wird evident, dass hier der Versuch einer sprachlichen Operation vorliegt, die von der Form der sozialhistorischen Analyse Abstand nimmt. Eher werden Bedeutungsformationen und Dispositive des Mentalen entfaltet wie eine Grammatik des urbanen Lebens. Zwar stellt Lutz Musner in seinem historischen Streifzug Der Geschmack von Wien Rückbindungen zu den Koordinaten der Moderne sowie zur Ereignis- und Kulturgeschichte Wiens im späten 19. und im 20. Jahrhundert her. Seine Arbeit jedoch fokussiert weniger die politisch manifeste Ideologieproduktion in Wien als Hauptstadt und geistigem Zentrum mehrerer Systeme sowie Gaustadt in der Zeit des Nationalsozialismus, sondern sie zeichnet das Netz jener Zuschreibungen nach, die sich sukzessive als Wien-Images verdichten und „mittels medialer Verfahren artikuliert und in immer neuen Medienformaten und Medienkonstellationen von Text, Foto, Film und Fernsehen bis hin zum Internet in Umlauf gebracht werden“.
Musner liest die Stadt als Textur einer Synthese von Repräsentationen, die so massiv ausgeprägt sind, „dass sie eine scheinbar unhintergehbare symbolische Stadtgestalt bilden, die von ihrer realen kaum unterscheidbar ist.“ Diese Interpretation des mit der Marke Wien übertitelten Konstrukts als Kulturgeographie, in der Zeichen und Bezeichnetes mittlerweile konvergieren, mag überpointiert wirken und schlichtweg aussehen wie die Kapitulation vor dem Versuch, die ökonomischen und politischen Motivketten und Kausalzusammenhänge spezifischer Wienbild-Produktionen offen zu legen. Offen scheint auch die Frage, wie konzise die Wien-Ideologeme, die unter Begriffen wie Kultur, Musik und Gemütlichkeit sowie neuerdings Kunststadt vor der Folie von Jugendstil, Klimt und Schiele subsumiert werden, auch die Neubaugebiete jenseits der Donau, deren Dimension längst jene anderer österreichischer Städte überschritten hat, erfasst haben. Andererseits bezieht Musner neben dem stets mit Zynismus unterfütterten Gemütlichkeits-Idiom auch Stadt-Events auf der Donauinsel und das gedoubelte Wien im hypermodernen Themenpark vor dem Prater ein. Die massive Präsenz offenbar kaum auflösbarer Vorstellungen von einem angeblich genuinen Wesen Wiens bestärkt die These von der Verschneidung von Imageproduktion und Stadtleben selbst. Das eine scheint das andere zu präfigurieren, zumindest aber nachhaltig zu beeinflussen.
Freilich ganz neu ist die Beobachtung nicht. Denn, wie die Signifikanten sich vom Realen entkoppeln, beschrieb Jean Baudrillard spätestens 1976 in Der symbolische Tausch und der Tod (L’Échange symbolique et la mort). Aber es stellte sich heraus, dass nicht nur die Simulakren auf das sogenannte Reale zurückwirken, sondern dass auch das aus den klassischen social fabrics heraus entstehende Urbane im Zuge seines Umbaus zum Marketingfaktor zunehmend verkünstlicht bzw. eben ortsspezifisch disneyfiziert wurde. Vor diesem Hintergrund sondiert Der Geschmack von Wien Eigenschaften und Sprechweisen, welche die „sinnliche Signatur“ Wiens ausmachen. Theoretisch bewegt sich Musners Buch, das dieser als Konzentrat seiner an der Humboldt Universität zu Berlin eingereichten Habilitationsschrift veröffentlicht, auf Basis der Lektüre Pierre Bourdieus, aber auch Rolf Lindners, mit dem Musner punktuell zusammenarbeitet und der 2003 den Text Der Habitus der Stadt – ein kulturgeographischer Versuch veröffentlichte. Weiters existieren Bezugnahmen auf den 1997 erschienen Text von Martyn Lee Relocating Location: Cultural Geography, the Specifity of Place and the City Habitus. Unübersehbar liegt im Versuch, die komplexe Dynamik der Bildung von Geschmackslandschaften sprachlich zu repräsentieren, eine der Hauptleistungen und –qualitäten dieses Bandes. Auf seinen detailanalytischen Streifzügen fokussiert Musner etwa den Kampf um prominente Sichtachsen – wie um den Canaletto-Blick vom Belvedere auf die Innenstadt – oder die zahlreichen Motive für die fortwährende Aktivierung des Topos von Wien als Musikstadt, der unter dem Regime des Austrofaschismus als patriotisches Narrativ zugespitzt wurde.
Im zentralen Kapitel Die Stadt und ihr Double werden Wien-Bilder im Film, in Image-Broschüren, Reiseführern und anderen populär aufbereiteten Medien untersucht. Hier verdichten sich die Verweise auf alternative und sozialhistorisch realitätsnähere Wien-Darstellungen wie etwa Wien wirklich (1983) von Renate Banik-Schweitzer, die auf die frühe multikulturelle Identität Wiens verweist oder die Geschichte des Roten Wien darstellt. Allerdings konstituieren sich genau durch jene essayistische, sich in Spiralen verdichtende Form, welche die Darstellung des „Gewebes bedeutungsstiftender Verschaltungen“ interessant macht, aus der Vogelperspektive betrachtet stellenweise Unschärfen und Redundanzen. Letztere ergeben sich aus allzu plötzlichen Zeitsprüngen. Sprachliche und inhaltliche Unschärfen werden gerade im Kontrast zu dem über lange Passagen konzentriert durchformulierten Text besonders bemerkbar. Denn der Austrofaschismus kam eben nicht auf, sondern wurde im Zuge von militärischen Interventionen und der Ausschaltung des Parlaments etabliert. Sprachlich beinahe ein Bruch entsteht durch das tendenziell sozialwissenschaftlich orientierte Kapitel Spätmoderne Transformationen einer Kulturstadt, das bereits an anderer Stelle veröffentlicht worden ist. Hochinteressant wäre die Durchführung mehrerer zeitraumbezogener, quantitativer Analysen zur Verortung von Begriffs-Häufigkeiten gewesen. In seiner Argumentation greift Musner eher auf Literaturstellen bei Hermann Broch oder Eva Menasse wie auch – neben den obligaten theoretischen Argumentarien – auf Wochenmagazine oder Werbebroschüren zurück, ohne aber im Literaturverzeichnis eine Kategorisierung vorzunehmen, was dessen Lesbarkeit erleichtert hätte. Bedauerlich sind der fehlende Index sowie die höchst sparsame Verwendung von Bildmaterial in fragwürdiger Qualität. Das ist zumeist Entscheidung des Verlags. Dass dieser damit nicht punkten wollte, ist schade.
Trotz dieser eindeutigen Unlustmomente und der sich aus dem Fehlen chronologischer Abfolgen zwangsläufig ergebenden Sprünge liefert Lutz Musner einen über weite Strecken spannenden Beitrag zur Verschneidung von Identitäts- und Machtpolitik auf urbaner Ebene im Zeitalter ikonografischer Konkurrenz der Städte untereinander.
Roland Schöny