»The Inventory of the Street is Inexhaustible«
Christiane Mennicke im InterviewDie Kuratorin Christiane Mennicke spricht im Interview über das Konzept und Programm von City-Info-Boogie-Woogie (CIBW) im Info Offspring Kiosk, Dresden, seine Imagepolitik und den Kiosk als »demokratische Architektur«, die ersten Reaktionen und vieles mehr.
Das Zitat stammt von Walter Benjamin und wird vom englischen KünstlerInnenkollektiv Inventory als eine Art Motto verwendet. Inventory ist eine der zahlreichen Gruppen, die bei der Veranstaltung »City-Info-Boogie-Woogie« (CIBW) im »Info Offspring Kiosk« in Dresden dieses Jahr beteiligt sind. »CIBW« im Info Offspring Kiosk setzt damit die Auseinandersetzungen zu Kunst, Stadtraum, Kommerz und Architektur mit Projektvorstellungen und einem Stadt-Hand-Apparat mit künstlerischem, populärem und theoretischem Material und einer fortlaufenden offenen Recherche fort. Die Kuratorin Christiane Mennicke spricht im Interview über das Konzept und Programm von »CIBW«, Dresden, seine Imagepolitik und den Kiosk als »demokratische Architektur«, die ersten Reaktionen und vieles mehr. Die Fragen stellte Christoph Laimer.
dérive: In Dresden hat es in den vergangen Jahren schon öfter ähnliche Projekte wie City-Info-Boogie-Woogie (CIBW) gegeben: »Zwischenstation« (1995/96), »Street level« (1998) und »City-Index« (2000). Entwickelt sich in Dresden langsam eine Tradition künstlerischer Auseinandersetzung mit dem Thema Stadt und öffentlicher Raum, oder sind die Veranstaltungen unabhängig voneinander zu sehen? Der Info Offspring Kiosk ist ein Projekt der KünstlerInnen Eva Hertzsch und Adam Page, das ja bereits im Rahmen von City-Index entstanden ist. Gab es von Anfang an die Idee, den Kiosk weiterzuverwenden? Ist das Konzept das selbe geblieben?
Christiane Mennicke: In der Tat gibt es diese Auseinandersetzung, die sich in einer Reihe von Projekten und Veranstaltungen in Dresden niederschlägt und nicht nur im Kunstbereich stattfindet. In diesem Sommer allein waren es eine Tagung »Kunst im öffentlichen Raum«, veranstaltet u a. von der Kunstkommission Dresden, die Konferenz »Raum-Stadt-Utopie«, zu der vom Institut für Soziologie der TU Dresden eingeladen wurde, und »Citybrache«, ein Workshop zum Thema Leerstand und Brache. Eine Initiative gegen Kameraüberwachung im Stadtraum hat sich gegründet, »Spot Off«, mit der wir wiederum für ein Videoscreening im Stadtraum kooperieren. Das Irritierende an den meisten dieser Veranstaltungen ist jedoch tatsächlich, dass sie relativ unabhängig voneinander operieren und untereinander wenige bis keine Beziehungen herstellen. Es scheint schwierig zu sein, die Leute an einen Tisch zu bringen. Da ich im Dresdner Kontext Neuankömmling bin, fällt es mir schwer, die Gründe hierfür zu benennen. Dies scheint jedoch wie auch andernorts jenseits des Ökonomisierungsdrucks eine der grundlegenden Ursachen dafür zu sein, dass Diskursergebnisse versanden. In Bezug auf von KünstlerInnen initiierte Projekte glaube ich, dass die »Zwischenstation« von Adam Page und Eva Hertzsch 1995/96 tatsächlich einen gewissen Einfluss ausgeübt und andere nachfolgende, so z.B. »Street Level« oder die »Reinigungsgesellschaft«, mit stimuliert hat. »City Index« ist dagegen eher im Rahmen der Stadt-Kunst-Veranstaltungen in anderen Städten zu sehen, der Versuch groß angelegt, aber ohne langfristigen Ansatz, ein Thema in eine Eventstruktur zu binden; »Dream City« und »Außendienst« sind nur zwei andere Beispiele.
Das Konzept von Adam und Eva für den Info-Offspring unterscheidet sich hiervon. Baupläne und Anliegen bestanden innerhalb ihres »Better Living Programms« bereits vor der Planung für die Ausstellung. »City-Index« bot einen günstigen politischen Hebel und Anlass für die Antragsstellung, die Planung war jedoch langfristig auf »Nachhaltigkeit« angelegt. Der Grundgedanke bestand darin, eine strukturelle Veränderung und einen dauernden Störfaktor im Stadtbildstreamlining zu produzieren. Das Konzept für den Kiosk wurde bei der für Kunst im öffentlichen Raum zuständigen Kunstkommission eingereicht und produziert seitdem eine fortlaufende Auseinandersetzung zwischen Kulturamt und Stadtplanungsamt, derer sich das Kulturamt zuvor wohl kaum bewusst war. Dies macht einen auf den ersten Blick nicht sichtbaren, aber wesentlichen Teil des Projektes aus: die Beeinflussung der alltäglichen Auseinandersetzung in diesen beiden Ämtern. Adam Page und Eva Hertzsch haben auf diese Weise eine Strategie in zwei Richtungen entworfen, zwischen der alltäglichen, seit spätestens 1997 auf der Abschussliste stehenden Kioskkultur und der offiziell abgesegneten Repräsentationskultur und anderen Projekten, regional und überregional, eine Allianz zu schaffen, Informationen zu bündeln und sich zugleich widerspenstig zu verhalten. Der Kiosk steht für eine im wesentlichen und alltäglichen Sinne demokratische Architektur. Er kann und will sich in Standort und Funktion an die wechselnden Bedürfnisse und Gegebenheiten anpassen, ist auf Veränderung programmiert und ein Ort, an dem soziale Grenzziehungen anders verlaufen, wo die ManagerIn neben der RentnerIn oder SozialhilfeempfängerIn stehen könnte und unverbindliche, anonyme, flüchtige, aber auch persönliche Begegnungen möglich sind. Eine Architektur, die den Lebensraum Straße erfahrbar macht, erschließt, eine Anlaufstelle darstellt und eine Differenzerfahrung einführt, um die herum sich Erfahrungen und Begegnungen kristallisieren können, ohne jedoch einer fixierten Territorialisierung zu verfallen und Zielgruppen zu definieren.
Das Konzept hat sich dann nicht verändert, sondern vielmehr erweitert: andere KünstlerInnen über kuratorische Konzepte einzuladen, die Situation und das »Werkzeug Kiosk« zu nutzen und zu interpretieren. Für »City-Info-Boogie-Woogie« haben wir jedoch eine thematische Fokussierung vorgenommen, den Propaganda-, Unterhaltungs- und Informationsaspekt in der Auseinandersetzung um die Frage nach der »Öffentlichkeit« zu verstärken und gezielte Anschläge gegen eine angenommene Neutralität oder Homogenität des »öffentlichen« Raumes, sowohl auf der Ebene der künstlerischen Beiträge als auch der Information, zu dokumentieren und zu stimulieren.
dérive: Nach welchen Kriterien wurden die KünstlerInnen und Gruppen ausgewählt, die den Kiosk »bespielen« und zu KünstlerInnengesprächen eingeladen wurden?
Christiane Mennicke: An dieser Stelle lässt sich vielleicht am besten deine Frage nach Kontinuität beantworten. Die erste Pressemitteilung zu CIBW »als Fortsetzung begonnener Auseinandersetzungen« bezieht sich zu einem Teil auf Dresden, zum anderen aber auf politische und künstlerische Diskurse und Praktiken, die Mitte der Neunziger insbesondere im deutschsprachigen Raum u. a. im Umfeld der Innenstadtaktionen umgesetzt wurden. Bezogen auf das Themenfeld Kunst/Stadt/Öffentlichkeit kann man einfach nicht behaupten, man habe das Rad neu erfunden, das ist eine Frage der Seriosität und der Glaubwürdigkeit; ich habe unter anderem massiv von den Auseinandersetzungen und Praktiken dieser Zeit gelernt, von Sensibilitäten und Ansätzen, die in diesem Zusammenhang entwickelt wurden – A-Clip, Park Fiction, Messe2ok, Die Krumme Pranke, um nur einige Beispiele zu nennen. Es scheint mir wichtig, diesen Einfluss und die Sensibilisierung für ein Thema nicht auszublenden, wie mir das in vielen der Großprojekte der Fall zu sein scheint, sondern das hier entwickelte Erfahrungs- und Wissenskapital weiter zu geben und zu bewahren. Andererseits kann ein so verhältnismäßig kleines Projekt wie CIBW die Vielzahl der Projekte der Mitt-Neunziger natürlich nicht in Gänze abbilden oder reanimieren – es soll hier ja auch nicht um das nachträgliche Fixieren oder Etablieren einer »geschlossenen Gesellschaft« gehen, in der diese Themen monopolistisch zugewiesen und bewacht werden. Dies wäre ein eklatanter Widerspruch zu einem Anliegen, bei dem es vielleicht eher darum geht, eine breite »Front« zu schaffen, etwas in Bewegung zu setzen und weitere notwendige Differenzierungen innerhalb des Feldes vorzunehmen. Ich versuche also eher Verbindungen herzustellen, eine Gruppe wie Inventory oder BergWerk und jüngere KünstlerInnen wie Jérôme Chazeix und Alisa Kotmair mit A-Clip, den vielfachen und veränderlichen Projekten z. B. aus Hamburg und nicht zuletzt Adam Pages und Eva Hertzsch‘ Projekten in Beziehung zu setzen und zugleich Einzelpositionen zu berücksichtigen. Klaus Weber zum Beispiel arbeitet sowohl im A-Clip-Zusammenhang als auch an eigenen Projekten; eine solche Gleichzeitigkeit und Differenzierung sollte darstellbar sein. Ein Teil dieser Bezüge wird über den Stadt-Hand-Apparat aufgebaut. Die KünstlerInnengespräche sind Teil des Stadt-Hand-Apparats. Wer diese hält, ergibt sich aus der jeweiligen Arbeit, die mehr oder weniger auf ein solches Format ausgelegt ist, und aus der Pragmatik, wen wir in diesem Zeitraum nach Dresden holen können. Ingo Vetter und Annette Weisser gemeinsam mit Jeroen Jongeleen verfolgen unterschiedliche Ansätze, die sich jedoch im Gespräch ergänzen und eine Diskussionsgrundlage zwischen Intervention und Werkbegriff herstellen. Für das gesamte Projekt gilt, dass mein Interesse für CIBW sich in erster Linie auf die Entwicklung und das Dokumentieren künstlerischer Handlungsformen richtet. Diese wirken, wenn man so will, emanzipativ, ermächtigend, polarisieren Räume und erschließen sie dadurch für Auseinandersetzungen und Projektionen oder entwickeln konstruktive Ansätze alternativ zum Planungsmonopol der Ämter. Das geschieht durch die unangemeldete Aufführung einer Oper in der Schalterhalle der Deutschen Bank (Till Heiseler/Michaela Caspar), die Durchführung einer Modenschau-Persiflage mit Männern in Second-Hand-Frauen-Bekleidung vor dem Kiosk (Jérôme Chazeix), Aufrufe und Aktionen zur »Verbesserung« der Einkaufsbedingungen in der Hamburger Innenstadt (CityKontrollKonsumGesellschaft) oder den eher pragmatischen Ansatz einer Gruppe wie BergWerk – und damit die angenommene Neutralität oder bewussten Verhaltensweisen und Identitätsnormierungen öffentlicher und halböffentlicher Räume durchbrechen.
Wenn ich es auf eine theoretische Referenzformel bringen sollte, könnte man grob vereinfacht sagen: Henri Lefebvres Ansatz des ideologisch abstrakten und zugleich materiell erfassbaren, geografisch festlegbaren Raumes, der jedoch in jedem Fall subjektiv erfahren, erlebt oder auch erlitten wird, in Kombination mit Chantal Mouffes Forderung nach einer auch durch Emotion und Leidenschaften geprägten widersprüchlichen und antagonistischen Öffentlichkeit. Der Titel des Projektes »City-Info-Boogie-Woogie« versucht das auf einer anderen Ebene nahezulegen: die Auflösung von Mondrians zuvor streng organisierten Bildflächen in ein fragmentiertes Szenario von Farbpartikeln, inspiriert von der Erfahrung New Yorks und des Boogie-Woogie. Das Aufgeben einer modernistischen, kontrollierenden Vision von Gestaltung, hin zu einer differenzierten Dynamik und Partikularisieung. Den Boogie-Woogie kann man hier auch doppelt lesen: Es geht nicht nur um das Aufgeben des Blickes von oben, sondern auch um Unterhaltung.
dérive: Die erste Station von »City-Info-Boogie-Woogie« ist das Dresdner Plattenbauviertel Prohlis. Wie lässt sich Prohlis charakterisieren? Wie reagieren die Leute auf den Kiosk? Wird er im Sinne des Konzepts genutzt? Die zweite Station ist dann ab August die Dresdner Innenstadt. Wie unterscheidet sich das Programm an diesen beiden unterschiedlichen Plätzen? Inwieweit nimmt es auf die unterschiedliche Umgebung Bezug?
Christiane Mennicke: Ein wichtiges Anliegen für den Info Offspring und das diesjährige Programm CIBW ist die Verschränkung eines kritischen und eines konstruktiven Ansatzes, soweit dies in unseren Möglichkeiten liegt. Das heißt also nicht nur die Sogwirkung der Stadtzentren, Verschränkung von kulturellem Kapital und Grundstücksspekulation und Verdrängung zu kritisieren, sondern selbst den Schritt an die so genannte Peripherie zu tun. Also nicht nur über die Stadt zu sprechen, sondern auch aus ihr heraus, und das nicht nur aus den durch Markt und Imagepolitik definierten Toplagen. Prohlis ist eines von zwei großen Gebieten des so genannten komplexen Wohnungsbaus, landläufig Plattenbaugebiet, gebaut in den späten siebziger und frühen achtziger Jahren, ursprünglich für ca. 30.000 BewohnerInnen. Jetzt wohnen dort etwas über 20.000 Leute. Von Peripherie kann also gar nicht die Rede sein. Das kulturelle Angebot ist jedoch marginal; in die Mitte hat man ein großes Einkaufs- und Stadtteilzentrum gebaut (Fertigstellung Herbst 2001), das versucht, die Begegnungs- und natürlich Konsummöglichkeiten des dort weiterhin zweimal wöchentlich stattfindenden Marktes zu erweitern. Trotz aller Vorbehalte – Einkaufszentren und Baumärkte, meist an den großen Ausfallstraßen, und »hochwertige« Passagen in den Innenstadtlagen scheinen plakativ gesprochen neben dem Wiederaufbau der Frauenkirche und der »Gläsernen Fabrik« von VW in Dresden die einzige verfolgte Bauaufgabe zu sein, und dies kann einen wiederum zutiefst verstören – funktioniert dies in Prohlis doch einigermaßen und wird von den Leuten auch zu nicht konsumgebundenem Aufenthalt genutzt. Abgesehen davon gibt es noch ein Heimatmuseum, das sehr interessant, aber doch überschaubar ist und dessen Angebot zeitgenössische Kultur nur am Rande streift. Kein Kino, nichts.
Vor dem Einkaufszentrum haben wir den Kiosk positioniert. Unsere Präsenz dort hat etwas mit einem ernstgemeinten Angebot zu tun; das heißt für mich hier wie an dem anderen Standort unweit des Zwingers, die »Import-, Propaganda- und Unterhaltungsfunktion« des Kiosks ernst zu nehmen, über die ausgestellten Materialien und regelmäßig wechselnden Arbeiten und Inhalte Bezüge nach »außen« aufzumachen. Die Beschäftigung mit Dresden steht bei diesem Konzept bewusst nicht im Vordergrund. Sie liegt jedoch in der Präsenz des Kiosks vor Ort. Es geht bei dem Standort Prohlis jedoch weder um eine Mission noch um eine Romantisierung des komplexen Wohnungsbaus, wobei man sagen muss, dass sein schlechter Ruf wirklich nur zum Teil gerechtfertigt ist. Durch Sanierung und Bepflanzung wird das zugrundeliegende Konzept jetzt vielleicht wieder eher deutlich. Für Familien und ältere Leute ist es in vielerlei Hinsicht eine ziemlich ideale Wohnsituation, und man kann sich schlimmeres vorstellen, insbesondere wenn man einen Vergleich mit Londoner Wohnverhältnissen anstellt. Prohlis ist Teil des EU- Programms »Soziale Stadt« (womit wir allerdings nichts zu tun haben), und es gibt zuhauf erstaunlich gut ausgestattete Jugendclubs und Spielplätze.
Die einzelnen Arbeiten und Projekte stellen natürlich bisweilen Bezüge zum Ort her. Das jedoch, und das ist mir sehr wichtig, sehr klar auf einer Ebene der Projektion, des Hinzufügens, nicht jedoch in der Form einer soziologienahen Analyse, die wir dort in diesem Zeitraum gar nicht leisten könnten oder wollten und die eine Fixierung vornehmen würde, die ich als Ansatz ortsspezifischen Arbeitens grundsätzlich problematisch finde, wenn die eigene Position innerhalb eines solchen Ansatzes nicht klar erkennbar und zur Disposition gestellt wird.
Die Leute nehmen das Projekt sehr unterschiedlich, aber mit großer Direktheit und Deutlichkeit auf. Nach der ersten Überraschung darüber, dass es sich hier nicht um eine Eisbude oder eine andere Einrichtung mit klarer funktionaler Aufgabenstellung handelt, kommen Stellungnahmen, die von Kopfschütteln über längere Gespräche bis zu einem vorsichtigen Abtasten einer politischen Einstellung oder direktem und sehr positivem Zuspruch reichen. Eine überraschende Erfahrung für mich liegt darin, dass eine nicht eindeutig auf eine Funktion ausgerichtete Präsenz im »öffentlichen« Raum dazu führt, dass man Aufgaben quasi zugeschrieben bekommt. So sind wir unter anderem zu einer Art alternativen Nachmittagsvergnügen für Kinder und Teenager geworden; aber auch damit geht man gerne um.
dérive: Die englische KünstlerInnengruppe Inventory hat ein Projekt namens »SonicSchnellpressenfabrik« für »City-Info-Boogie-Woogie« verwirklicht. Laut Ankündigung war das Ziel eine »Kritik einer vermeintlich demokratischen Populärkultur und der Reduktion des städtischen Raumes auf das Display von Warenangeboten«. Mit direkten Parolen auf Plakaten, die sowohl in der Ästhetik als auch im Inhalt stark an Punk erinnern (z. B. »Make your own fucking culture!«), versuchen Inventory eine dirkete Ansprache der BetrachterInnen. Ist dieses Ansinnen gelungen? Können Parolen, wie sie Inventory verwenden, in Zeiten, in denen multinationale Konzerne bereits ähnliche Slogans benutzen, um ihren Markenprodukten »Street credibility« zu verschaffen, kritische Reflexion auslösen?
Christiane Mennicke: Ja, ich denke schon. Ihre Poster und Sticker sind in der erster Linie viel komplexer und negativer, als eine Marketingabteilung oder Werbeagentur je wagen würde, ihren Zielgruppen zuzumuten. Für die Schwarzweiß-Poster haben sie Vorlagen aus den deutschen Jugend- und Popmusikmagazinen Popcorn und Bravo weiterverarbeitet. Es sind Poster von Britney Spears, Bro´Sys, No Angels, B3, Eminem und einer Girlband mit Namen Play. Darüber gelegt fanden sich Sätze wie »Die Möglichkeit, Deine eigene Identität zu schaffen, ist eine Lüge des Kapitalismus« oder »Die kapitalistische Demokratie verbreitet die Illusion individueller Entscheidungsmöglichkeiten« oder einfacher »Mode = Sklaverei« und »Konsumgesellschaft = Sklaverei«. Diese waren wiederum mit längeren Texten auf Stickern zum Begriff der Nationalität und des Fremden, der Resignation und der Ausschlachtung multikultureller Identitäten durch Marketingstrategien kombiniert – Slogans wie »Nicht Homo Sapiens, sondern Homo Ludens«, »Das Leben allein ist nicht genug« oder »Vernichte Deine Innere Zensur« und »Lehre Dich selbst das Exil«. Diese Slogans haben durchaus auch in sich ein widersprüchliches diskursives Feld aufgemacht. Der Negativität einiger Aussagen standen die Dokumentation der »Coagulum«-Performances (das sind physische Interventionen, Anm. C. L.)in der Mall in Kingston und der Oxford Street in London und die Durchführung der Performance in einem der Prohlis nahen Grüne-Wiese-Einkaufszentren gegenüber, vor allem aber der temporäre Sender »Inventory FM« mit komplexen Live-Mixes elektronischer Musik, Klavierkompositionen mit eingeschnittenen Audiofragmenten vom Tag (Kinderstimmen, Gesprächsfragmente) und Audiomaterial, das eingereicht wurde (u. a. eine sehr schöne Satire über den Arbeitsalltag eines Fliesenlegers und Ausschnitte der CD von Ingo Vetter und Annette Weisser für die niederländische Stadt Zeewolde).
dérive: Ein weiterer wichtiger Teil von City-Info-Boogie-Woogie ist der Stadt-Hand-Apparat. Was dürfen sich BesucherInnen davon erwarten?
Christiane Mennicke: Der Stadt-Hand-Apparat ist eine Zusammenstellung von künstlerischem, theoretischem und »populärem« Material: Videos, Filme, Zeitschriften, Zeitungen und Bücher, auch (bisher noch wenige) Comics und CDs zu Kunst, Stadtraum und Öffentlichkeit. Er ist durchaus subjektiv geprägt und speist sich durch die Recherche aller Beteiligten an dem Projekt. Er soll sich kontinuierlich entwickeln, und auch wenn das derzeit unsexy erscheinen mag, steckt dahinter der Gedanke einer gewissen Kollektivität. Dies ist natürlich kein neuer Gedanke, sondern einer, der erfreulicherweise in anderen Konstellationen verfolgt worden ist und wird. Innerhalb der Stadt-Hand-Apparat-Phasen werden immer wieder einzelne künstlerische Positionen gesondert hervorgehoben. Ausgekoppelt gibt es auch noch eine kleine Filmreihe, die sich auf das Thema Shoppingmalls konzentriert. Für den Stadt-Hand-Apparat gibt es in der Tat verschiedene Zielgruppen. Ich hoffe, aber erwarte nicht unbedingt, dass jeder Besucher sich sofort in die Lektüre von Henri Lefebvres »Production of Space« stürzt oder eine intensive de-Certeau-Lektüre beginnt. Das Blättern in Büchern oder Zeitschriften, das Lesen von Buchrücken halte ich auch für einen unter Umständen ernstzunehmenden Vorgang. Als Angebot steht das jedenfalls im Raum, und ich hoffe, dass vielleicht auch Studenten der Kunsthochschule das als Anregung mitnehmen. Außerdem spielt beim Stadt-Hand-Apparat auch eine kleine Wunschvorstellung von mir eine Rolle, die sich hier realisieren ließ – das öffentliche umsonst und draußen Zeitunglesen, das sich mit einem Gespräch oder auch nicht verbinden lässt. Die Zeitungen werden wiederum zu obengenannten Themen ausgewertet und die Ausschnitte auf der frei zugänglichen Pinnfläche weiterverbreitet.
dérive: In der Ankündigung zu City-Info-Boogie-Woogie ist zu lesen, dass die »Kioskkultur« aus Dresden langsam verdrängt wird. Du hast vorher schon über das Kiosk-Konzept von Adam Page und Eva Hertzsch gesprochen. Welche Funktionen erfüllt(e) der Kiosk für die DresdnerInnen? Wie sieht die aktuelle Imagepolitik Dresdens aus?
Christiane Mennicke: Am »Stadtbildpflegeprogramm« oder der Arbeit an der Tourismus- und Konsum-kompatiblen »Image-City«, wie Christoph Schäfer das einmal im Zusammenhang mit Park Fiction genannt hat, hat sich wenig geändert – nur dass sich das Stadtplanungsamt Jahr für Jahr mit der Platzierung des Info Offspring und Adams und Evas Hartnäckigkeit in der Durchsetzung von Standorten auseinandersetzen muss. Die Innenstadtkioske sind mittlerweile zu militärisch aufgereihten pseudo-rustikalen Marktbuden homogenisiert worden, je nach Saison mit mehr oder weniger Präsenz. Asiatische Imbissbuden oder alles, was anders aussieht als die nach dem Standardmuster entworfenen zentral organisierten Folklore-Imitate, wurde aus dem Innenstadtbereich verbannt. Gott sei Dank reichen jedoch die finanziellen Mittel der Stadt nicht aus und ist die Präsenz von Nachkriegsarchitektur innerhalb der barocken Ensembles viel zu stark, als dass alle Widersprüche aus dem Stadtbild entfernt werden könnten. Dennoch wird der Streit um den von CDU-Seite ungeliebten Kulturpalast fortgeführt. Der sogenannte »Fresswürfel« am Postplatz, eine zu DDR-Zeiten beliebte und frequentierte Volkskantine und seither längst vernachlässigt, steht schon lange leer und wurde bereits zur Hälfte abgerissen, um einem Büro- und Gastronomieneubau unweit des Zwingers Platz zu machen. Der Postplatz wird der zweite Standort des Kiosk in diesem Sommer sein.
Wer CIBW besuchen will, hat damit noch bis Mitte Oktober Zeit; Informationen zum Programm etc. können auf der Website http://www.infooffspring.de eingeholt werden.
Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.