Krassimira Kruschkova


In Meg Stuarts Tanzperformance Appetite (in Zusammenarbeit mit der bildenden Künstlerin Ann Hamilton) ist die ganze Bühne mit einem dünnen weißen Tuch aus Fallschirmstoff bedeckt. Als hätte ein Fallschirmspringer sie gestisch durch seinen Sprung/Fall definiert. Wie beim Fall, beim Unfall Ikarus (er fällt bekanntlich, weil ihm sein Vater Dädalus Flügel, jedoch keinen Fallschirm entworfen hat). Denn was da auffällt, ist der Blick, der auf die Erde fällt und als Paradigma für den Kartographenblick gilt, der die Welt von oben, als ob auf einer Karte betrachtet. Ikarus und sein Blick fallen da federleicht zusammen. Als ob mit der Feder geschrieben, schreiben, graphieren, choreographieren da Körper und Blick einander und auch den Ort, auf den sie fallen: sie definieren ihn, schreiben ihn lesend, kartographieren ihn als Szene. Wie eine Karte ihr Territorium erst konstituiert, erst realisiert (in jedem Wortsinn). Oder anders: der Fall-Schirm als Bildschirm eines Falls hat sich auf Stuarts Bühne so weit ausgedehnt, als wäre er die berühmte Karte im Text von Jorge Luis Borges (»Universalgeschichte der Niedertracht«), die die Kartographen des Reichs so haargenau und ausführlich gezeichnet hatten, dass sie das ganze Reich bedeckte. Oder anders: der weiße Fallschirm, der Schirm der Szene - scene as screen - ist zugleich leer, nur reine Umrandung, als zitierte er das leere Viereck der bekannten leeren Seekarte von Lewis Carroll (»Die Jagd nach dem Snark«). Karten also, die entweder zu viele oder zu wenige Zeichen setzen, sie setzen vielleicht mehr als Zeichen oder keine Zeichen mehr. Sie setzen alles auf eine Karte, sie setzen es zugleich ins und aufs Spiel. Von diesem gewagten, entsetzenden Setzen soll hier die Rede sein.
So entsetzen, deterritorialisieren in Stuarts Choreographie Raum und Körper einander. Einer der Tänzer presst sich bald die ganze Bühne (d.h. ihre Stoffbedeckung) in die Hose hinein, da wird der Raum in den Körper eingelassen, da wird der Körper zur Szene, wie die Szene zum Körper, denn eine andere Karte, eine atmende, wie Haut, bedeckt nun die Bühne: Der Boden ist mit Ton, mit Erde eben bedeckt, die Flecken, Spuren auf der Kleidung der Tänzer hinterlässt, die wiederum mit jeder Bewegung den Tonboden markieren. Erst die Bewegung konstituiert, kartographiert da Szene und Körper, destabilisiert, stülpt Realität und Virtualität, Körper und Körperbildern um, immer neu.

Wien umgehen umgehen

Setzen wir also neu an, um die Grenzen eines Themas über das Grenzen-Ziehen wieder neu zu ziehen, neu zu setzen, um sie sogleich zu entsetzen, zu deterritorialisieren: Mein Versuch, das Thema des Projekts Wien umgehen zu umgehen, scheitert, so fürchte ich. Denn um Wien umgehen zu umgehen, zu umschreiben, bin ich doch beim Thema angekommen, beim Anagrammieren, das eben Umschreiben bedeutet (von gr. anagraphein). Das Anagramm ist bekanntlich die Umstellung der Buchstaben eines Wortes zu einem neuen.
Es lässt die Schrift sich selbst umgehen, es ist ihr lustvolles, ja ‚verlustvolles’ Fehlgehen. Denn Anagramme sind auch als Lapsi zu lesen, als sich selbst inszenierende Fehler, die den Schrift-Sinn wenden, ja entwenden, als ortlose Topoi, wo Orte und Worte einander entstellen. Denn der Topos, der Ort, der »Gemeinplatz« bedeutet ja auch eine feste Wendung, stehende Rede oder Formel. Da gilt es, Gemeinplätze platzen zu lassen, stehende Ort- und Redewendungen zu ent- und verstellen, zu anagrammieren eben. Um die Brüche der Ort- und Wortordnungen, um die Brüche des Realen offenzulegen. Es gilt, sich das Anagrammatische als Topographie des Fehlgehens, Fehllesens, Fehlschreibens vorzustellen, das Ursprungs(w)orte im (Ver)Fehlen zugleich buchstabiert und figuriert.
Es geht also – wie bei der Doppeldeutigkeit des Wortes ‚Umgehen’ eben - um die Mehrdeutigkeit, um die dekonstruktive Mehr-als-Deutlichkeit und keine Eindeutigkeit mehr der szenischen Schritte und Schriften, wo immer schon zugleich zuviel und zuwenig Bedeutung sich lesend schreibt, ja kartographiert, d.h. zwischen An- und Abwesenheit oszilliert. Denn wer Schritte setzt, als wollte er das Territorium vermessen, vermisst im doppelten Wortsinn: Beim Gehen notiert er ein Vergehen, ein Verschwinden, er notiert seine Spur, seine Abwesenheit, sein Fehlen: um dieses Mangels nicht zu ermangeln. Denn sagt jemand: »Das ist Wien«, indem er auf eine Karte zeigt, so ist seine Geste lediglich ein »Zeigen des Zeigens«, so könnte man Brechts Gestus (ent)wenden. Die Karte, die das Territorium ist und nicht ist, stellt stets die Frage nach der Darstellung, sie stellt diese Frage dar, die Frage nach dem Status des Virtuellen und des Realen, nach den unendlich kleinen Intervallen innerhalb beider und zwischen den beiden, im immer anderen Modus ihrer Sichtbarkeit. Sollte nicht besser auf der Wien-Karte stehen »Das ist nicht Wien«? (à la Magritte eben), als Referenz ohne Referenten wie in Magrittes Bild Der Verrat der Bilder, das Realität eben doppeldeutig verrät, indem es »ceci n’est pas une pipe« zu behaupten scheint. Reales und Virtuelles verunsichern, entstellen da stets einander.
Es geht – in diesem Ent- und Umgehen und in solchem Umgang – um inszenierte Umschriften, um ein stetes Vor- und Rückwärtsgehen, -schreiben, -lesen, um das Gehen selbst als Lesen, das selbst Schreiben ist, das also sich immer schon verfehlt. In der Tanz/Video-Performance der Choreographin Meg Stuart und des Videokünstlers Gary Hill Splayed Mind Out passiert das anagrammatische Schwindeln und Schwinden der Körpergrenzen im ,konkreten’ Theater ineinanderverschlungener Glieder und Projektionsflächen. Am Anfang liegt auf der Bühne ein oktopusartiges Gebilde aus mehreren Körpern, als hätten sie ihre Glieder untereinander vertauscht. Kaum nachvollziehbar entwirrt sich dann die monströse Gestalt ‚ohne Hand und Fuß’ (wörtlich und übertragen), indem Beine und Arme ihre Stellung und Darstellung fortdauernd anagrammatisch verstellen, um in vereinzelte Körper und Körperbilder zu zerfallen. Es folgen Szenen ihrer Übersetzung ineinander, die ab und zu als Aufgabe/Aufgeben auch verbal thematisiert wird. Die Hand einer Tänzerin schreibt vor- und rückwärts auf ihren entblößten Rücken »hand« und dies erscheint zugleich groß als Projektion. Vor- und rückwärts schreibt die Hand auch »on«/»no« auf die nackte Rücken-Haut (und auf die Projektions-,Haut' der Bühnenrückwand), und dieses Palindrom, dieser vor- und rückwärts lesbare Schriftzug, lässt den Körper, der bloß als Projektionsfläche, als »on« missbraucht, penetriert wird, schrei(b)en: »no«.
Der fallende Blick von Ikarus, der die Gravitation zu überwinden suchte, kartographiert die Szene seines Falls. Auch das Interesse des zeitgenössischen Tanzes gilt diesem doppeldeutigen Fall als Schriftzug, der die Gravitation der Bühnen-Blätter/der Bretter choreo-graphisch, »raumschreibend«, virtuos aufhebt, um sie jedoch mit fallenden Körpern und Blicken zu tätowieren: als eine variable Graphie ohne Raum, als stets neue anagrammatische Verräumlichung desselben szenischen Materials. Das Interesse gilt also einer Choreographie, die, wie das Anagramm in seiner buchstäblichen Materialität, die Endgültigkeit des Sinns buchstäblich verabschiedet, indem sie ihre Dispositive immer anders ortet, deplaziert und neu kombiniert, um daraus neue (W)Orte zu gravieren (gravieren bedeutet ja: »in Metall, Stein einschneiden«, aber auch »beschweren, belasten«; daher die Bedeutung von Gravierung als gravierte Schrift und Gravitation als Anziehungskraft). Der Fall des Körpers (der Fall in jedem Wortsinn) bringt die Szene erst hervor – mit seinen permanent neuen Irrgängen, in denen Raum und Bewegung eins werden, wie einst im labyrinthischen Tanz Ariadnes, entworfen vom Architekten und zugleich Choreographen Dädalos (wieder taucht hier Dädalos, Ikarus’ Vater auf). Michel Foucaults Der Ariadnefaden ist gerissen (der Titel eines Textes über Gilles Deleuze, der Foucault auch einen neuen Kartographen nennt) gilt es da immer wieder neu zu lesen, und gerissen wie er ist, kann dieser Faden die Geschichte, die schwindelnde Story wie die schwindende Historie erst buchstäblich scheiternd, als UnFall choreographieren.

Alie/n a(c)tion – Nomaden im eigenen Körper

Auch die schnell auf- und niederfahrenden Schrifttafeln mit immer anderen Buchstabenkombinationen in William Forsythes Choreographie Of Any If And scheinen zu tanzen und anagrammatisch die Distanz zwischen den (W)Orten auszuprobieren:
Dis-Tanz als Suche nach möglichen Veränderungen des Bedeutungsraums. Als kinetisches Anagramm lassen sich oft auch die Bewegungsmuster seiner Choreographie lesen, die die tradierte Ballett-Syntax entstellen. Wenn die Körper sich im Tanz zu verlieren scheinen, so ‚schüttelt’ sie Forsythes Choreographie (wie der Anagrammatiker die Buchstaben schüttelt), so reimt und reiht sie Körper- und Raumfiguren immer anders. Oder Forsythes Choreographie Alie/n a(c)tion: selbst der vertrackte Titel lässt hier mehrere Bedeutungen offen (Alienation, Alien action, Alien nation). Auf der Rückwand der Bühne steht geschrieben: »ENT-WORLD-ET«, ein zweisprachiger Neologismus, deterritorialisierte Mehrsprachigkeit/Mehr-als-Sprachlichkeit.
Man könnte sagen: das deutsche Präfix ‚ent-’ ent-sinnt das englische Substantiv ‚world’ und partizipiert es unheimlich, außerirdisch (ET). Es ist das erste, was uns diese Bühne zu sehen/zu lesen gibt.
Und zugleich zurücknimmt: eine Welt, die sich als zurückgenommene gibt, die sich davonstiehlt, sich entwendet, von sich abwendet, die sich keinem Blick hingeben, stellen will, die sich dem Darstellen, dem Kartographieren entzieht. »ENT-WORLD-ET«: ein ver-rückter Ort ohne Welt, ein Wort für keinen Ort, ein buchstäblicher Tanz der Distanz. Am Ende der Inszenierung liest ein Tänzer den Neologismus vor, buchstabiert ihn vor- und rückwärts und dann auch jeden der drei Wortteile oder deren einzelne Buchstaben verstellend.
Diese anagrammatischen Versuche (ent)täuschen den Sinn, sprengen seine Endgültigkeit. Und indem der Tänzer die Buchstaben springen und einander sprengen lässt, fängt er selbst an, sich minimal zu bewegen, neue Stellungen jedes Glieds auszuprobieren, als sei sein eigener Körper ein verstellbarer Schriftzug. Erst das Lesen bringt ihn so zum Tanzen, und das Tanzen wird zum Schreiben.
Die Reflexion auf die Ballett-Tradition dehnt die Grenzen der Kunstform und des Körpers aufs Äußerste, um sie, wie ein Gummiband, springen zu lassen. Dabei reißt jedoch das referentielle Band und sprengt jede Suche nach einem verfertigten Sinn außerhalb der springenden Punkte und Linien. Ist das Anagramm ein gewagter Sprung über die abgründige Ursprungslosigkeit der Sprache, der vielen Sprachen, hin- und rückwärts im kleinsten Intervall, so ist es eben eine Ver-rücktheit. Wie der Tanz. Der Tanz ver-rückt die Vorstellung von Körper und Raum. Mentale und szenische Vorstellungen bringen einander hervor und differenzieren, deterritorialisieren einander. Die Choreographie »überträgt«, so Forsythe im Heft zu seiner CD-ROM Improvisation Technologies. A Tool for the Analytical Dance Eye, »bestimmte Verfahrensweisen des Einschreibens und lässt sie zu Stellen wandern, wo sie normalerweise nicht vorkommen: Normalerweise beschreibt man einen Kreis mit den Armen oder Beinen – und jetzt kann man vielleicht statt dessen die Schulter (oder jedes andere Teil) benutzen.« Diese verstellte Organik entzieht sich jeder definitiven DarStellung und AnWendung. Forsythes forcierte und furiose Choreographie führt angeblich beiläufige Abläufe in die Aporie der Komplexität – um, wie er schreibt, »die Grenzen des Koordinierbaren zu überschreiten«, um »Choreographie zu überwinden«. Neu-Topographieren also, um zu deterritorialisieren, um sich Inskriptionen zu entziehen, um Intensität freizusetzen. Das Markieren von Bewegungsspuren, von geometrischen Formen im Raum wird zum figurativen und narrativen Imperativ. Das Vokabular des klassischen Balletts wird über das Rekombinieren von Bewegungsabläufen anagrammiert. Ungewöhnliche Körperteile (beispielsweise die Schultern) setzen Impulse ein, die die Gravitation zu verlagern scheinen.
Aber zurück zur Alie/n a(c)tion, zu dieser Kontamination von Aktion und Alienation, zum Akt der Distanz von sich selbst gegen die xenophobe Entfremdung vom Anderen.
Die Choreographie lässt die TänzerInnen zu Nomaden im eigenen Körper werden, »fremd im eigenen Körper«, wie es in Heiner Müllers Bildbeschreibung heißt. Da wird der Körper sich selber Bild und Beschreibung zugleich, Lagebeschreibung, Topographie. ‚Alienation’ heißt juristisch Eigentumsübertragung: in der Choreographie oszilliert der Körper zwischen seinem Eigen(tlich)en und seiner Übertragung. Jacques Derrida schreibt in Choreographien: »Nach dem Auftritt des Tanzes erkennt man die Orte nicht mehr wieder.« Es ist ein choreographisches Auswechseln jeder Örtlichkeit auch in Forsythes Hypothese »kinetischer Isometrien«, die den Körper von der Bewegung befreit, ihn in einer Hin- und Herbewegung zurücknimmt, und die choreographischen Variablen als buchstäbliche Versuchsanordnungen verändert. Da ‚verlernt’ der perfekt ausgebildete Ballettkörper das klassische Bewegungsalphabet, subversiert wird die Hypnose jeder strengen kinetischen Grammatik, unterstellt wird – gerade über höchste Exaktheit, schärfste Differenzierung – die Instanz des Unlesbaren oder des Analphabetischen: Schreibt wohl Forsythe, dass er an Ergebnissen interessiert ist, »die aufgrund ihrer Komplexität nicht reproduzierbar sind« (Improvisation Technologies. A Tool for the Analytical Dance Eye), so versucht er eben »Choreographie zu überwinden«. In einem Interview sagt Forsythe: »Das ist der Sinn: Die Verwirrung ist das Glück«, sofern Alie/n a(c)tion, auch davon handelt, dass es »überall Modelle der Xenophobie gibt. In der sogenannten populären Kultur findet sich ein irrsinniges Hass-Potential«. In Forsythes höchst präzisen choreographischen Konfusionen – »[d]ie Verwirrung ist das Glück« - ver-rückt der Tanz das Territorium.
In Walter Benjamins Berliner Kindheit um Neunzehnhundert heißt es: »Sich in einer Stadt nicht zurechtfinden heißt nicht viel. In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung [...] Diese Kunst habe ich spät erlernt; sie hat den Traum erfüllt, von dem die ersten Spuren Labyrinthe auf den Löschblättern meiner Hefte waren.« Stellen wir uns also die Tanzszene als Löschblatt vor, und die Choreographie als labyrinthische Notation einer Lust am Verlust der Orientierung, am drohenden Fall als (Ver)Fehlen, als Sehnsucht, als Versuchung, Verstoß, ja Vergehen, auf den Grund des Gehens und des Vergehens, des Transitorischen zu kommen. Stellen wir uns also die Choreographie als eine Kartographie vor, die die Brüche im Körper und im Raum, im Körper als Raum und im Raum als Körper sichtbar macht: Um jeder endgültigen zeichenhaften Besetzung ihres Territoriums zu entgehen. Denn wer Karten und Szenen liest, notiert immer schon ein Destabilisieren, ein Deterritorialisieren des Realen.

Dieser Text ist eine stark gekürzte Version des Vortrages im Rahmen von Wien umgehen.


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