» Texte / Torre David: Informelle vertikale Siedlung im Zentrum Caracas’

Elisabeth Haid


»It is impossible to live in Caracas and not to know Torre David.« (Brillembourg & Klumpner). Der Torre David – ein nach Plänen von Enrique Gómez gebautes, jedoch nie fertiggestelltes 45-stöckiges Hochhaus im venezolanischen Caracas – hat sich in die öffentliche Wahrnehmung, die Geschichte und das Bild der Stadt eingeschrieben. Bereits in den 1990er Jahren sorgten die Pläne des Bauträgers David Brillembourg für die Errichtung des Gebäudekomplexes im Geschäftszentrum der Stadt, der ursprünglich die Bezeichnung Centro Financiero Confinanzas trug, für Aufsehen. Der Bau kam 1994 infolge der venezolanischen Bankenkrise, ein Jahr nach dem Tod des Bauträgers, kurz vor der Fertigstellung zum Erliegen. Ursprünglich als exklusives Hotel- und Bürogebäude konzipiert, bietet die Bauruine heute nach der organisierten Besetzung des leer stehenden Gebäudes 2007 Lebensraum für 750 Familien.
Mit einfachsten Mitteln funktionierten die BewohnerInnen den unfertigen Bau in ein selbstverwaltetes Wohngebäude für 3.000 Menschen um. Neben Wohnraum wurden verschiedene Gemeinschaftsflächen, ein Sportplatz und ein Kirchenraum der Evangelical Pentecostal Church, der ein Großteil der BewohnerInnen angehört, aufgebaut. Auf Initiative Einzelner entstand eine Vielzahl kleiner Unternehmen: ein Friseursalon, eine Schneiderei, ein Fitnessstudio und kleine Läden, in denen neben Lebensmitteln verschiedenste Waren des täglichen Gebrauchs angeboten werden. Trotz nicht vorhandener Lifte und fehlender technischer Infrastruktur wird der Turm derzeit bis zum 28. Stock bewohnt. Ein Team von Technikern sorgt für die Wasser- und Stromversorgung, ein Wachdienst kontrolliert den Zugang zum Gebäude. Die BewohnerInnen teilen sich die Kosten dafür. Das 10-stöckige Parkhaus, neue Wanddurchbrüche und Verbindungsbrücken zwischen den einzelnen Gebäuden des Komplexes bilden ein alternatives Wegenetz. Ab dem 10. Stock erfolgt die vertikale Erschließung über ein einziges Treppenhaus, das als Treffpunkt und Kommunikationsraum fungiert.
In den letzten Jahren war der Torre David Thema zahlreicher Beiträge internationaler Medien. Nicht zuletzt der mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnete Beitrag des Urban-Think Tank zur 13. Architekturbiennale in Venedig rückte den besetzten Gebäudekomplex verstärkt in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Die Installation mit dem Titel Gran Horizonte löste intensive Diskussionen und heftige Kontroversen aus. Das Ende letzten Jahres erschienene Buch Torre David – Informal Vertical Communities präsentiert und reflektiert die Auseinandersetzung des Urban-Think Tank mit dem Torre David. Das in Caracas und Zürich angesiedelte Team um Alfredo Brillembourg und Hubert Klumpner beschäftigte sich über ein Jahr lang intensiv mit dem Torre David. Die Autoren des Buches unternehmen den Versuch, die physische wie soziale Organisationsstruktur der von Gegensätzen und Widersprüchen geprägten informellen Gemeinschaft zu beschreiben und zu fassen. Denn der Torre David entzieht sich jeglicher Kategorisierung: »The high-rise is an irony, an oxymoron, a contradiction in itself: a success of sorts within a failure; a barrio that is also a gated community; a hierarchical, authoritarian anarchy. Within its walls, individual initiatives and freedoms are in dynamic tension with communal needs and obligations. From the outside, it is either a blight on the neighborhood and emblematic of everything that is wrong and dangerous about Caracas; or it is a potential safe zone, a new and better way of living, however precarious and temporary.« (Brillembourg & Klumpner)
Wie auch der Architekturhistoriker und Kurator Andrés Lepik in seiner Einleitung zum Buch ausführt, greift die Bezeichnung des Torre David als vertikaler Slum zu kurz. Alfredo Brillembourg und Hubert Klumpner beleuchten in Textbeiträgen den Torre David aus verschiedenen Blickwinkeln. Neben Hintergrundinformationen zur sozio-politischen und wirtschaftlichen Situation Venezuelas, in deren Kontext auch die Errichtung und Besetzung des Gebäudes stehen, wird über das Aufzeigen der physischen Organisationsstrukturen und aus architektonischer Perspektive der Alltag der BewohnerInnen beschrieben. Wichtige Themen wie das soziale Gefüge der Bewohnerschaft des Turms und die bestimmende Rolle der Pfingstkirche, der auch im katholischen Caracas im Kontext informeller Siedlungen und organisierter Besetzungen wie in vielen anderen Städten Südamerikas wachsende Bedeutung zukommt, werden nur gestreift. Man erfährt, dass der Pastor des Turms zugleich Vorsteher der Kooperative ist, die die Entscheidung über alltägliche Maßnahmen und die Regeln des Zusammenlebens trifft.
Im Rahmen ihrer Untersuchungen zeigen die Autoren Möglichkeiten und Potenziale auf und greifen dabei auf ihre langjährige Forschungstätigkeit zur informellen Stadt und zu Caracas zurück. Mithilfe unterschiedlicher Formate versuchen sie die informelle vertikale Siedlung in ihrer Komplexität zu erfassen: Texten und analytischen grafischen Darstellungen, die sich klassisch architektonischer Mittel zur Beschreibung der Gebäudestruktur bedienen, stehen eine Graphic Novel des brasilianischen Illustrators und Architekten André Kitagawa und zahlreiche Fotografien von Iwan Baan gegenüber.
Wie bereits beim Beitrag zur Architekturbiennale 2012 bilden die Fotografien Iwan Baans dabei einen wesentlichen Bestandteil. Er nähert sich dem Gebäude und seinen BewohnerInnen langsam an. Die Bilder beschreiben den städtebaulichen Kontext und die Wahrnehmung des Komplexes im Stadtraum. Sie geben Einblick in gemeinschaftlich genutzte Bereiche und Privaträume, insbesondere aber in das Leben der BewohnerInnen und den Alltag im Torre David: Es sind bestechende Momentaufnahmen, bei denen die Menschen und ihre Interaktion mit ihrem physischen und sozialen Umfeld im Mittelpunkt stehen und die trotz präzise gewählter Blickpunkte ihre Unmittelbarkeit und ihren flüchtigen Charakter nicht verlieren.
Nicht zuletzt aufgrund dieser Fotografien wird das Buch zu einer differenzierten Dokumentation urbaner Raumaneignung, eines Experiments mit ungewissem Ausgang. Es präsentiert keine allgemeingültigen Lösungen, sondern nähert sich über eine ausgedehnte Analyse komplexen sozialen und urbanen Fragestellungen an. Die Autoren hinterfragen das Rollenverständnis von UrbanistInnen und ArchitektInnen und suchen nach neuen Wegen, drängenden gesellschaftlichen Themen zu begegnen.


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