Tourismus: zerstreut und camoufliert
Besprechung von »Tourism Dispersion Camouflage« von Luciano Basauri und Dafne BercZwischen höchster Ambivalenz, Kulturkritik und zweifelnder Faszination produziert, ja fast könnte man meinen, provoziert das Phänomen des Massentourismus die theoretische Auseinandersetzung und gleichzeitig nicht in die eigens aufgestellten Moralfallen zu tappen. Genau dieser Falle sind die AutorInnen von Tourism Dispersion Camouflage, die ArchitektInnen Luciano Basauri und Dafne Berc, die in Zagreb seit 2001 ein Büro führen und unter dem Namen Analog ein internationales Architekturnetzwerk initiierten, elegant entgangen.
Reflexionen des (Massen)Touristischen als conditio humana haben Tradition. Die kulturkritische und philosophische Auseinandersetzung mit dem Massentourismus neigt zu ethisch formatierten Existenzentwürfen und großen Lebensfragestellungen. Die spezifische und passgenaue räumliche Analyse der Auswirkungen des massentouristischen Paradigmas und die daraus zu folgernden architektonischen und raumplanerischen Konsequenzen sind ihre Sache nicht. Bereits die Anfänge des neuen Phänomens, nämlich der Demokratisierung touristischer Bewegungsströme, die wir heute als globale Bewegungskurven und ökonomische Interdependenzen erleben, führte zu theoriestarken Reaktionen mit poetisch-starker Begrifflichkeit. 1958 erschien Hans Magnus Enzensbergers Vergebliche Brandung der Ferne. Eine Theorie des Tourismus, die die zwingende Enttäuschung touristischer Sehnsüchte proklamierte und den Tourismus zu einer Ware unter anderen deklarierte. Prestige, Lifestyle, Flucht aus dem Alltag, das sind die Ingredienzien, aus denen für den Massentouristen der Urlaub gemacht wird. In Michel Foucaults Des espaces autres aus dem Jahr 1967 taucht beiläufig ein neuer Ort auf, den es seit dem Jahr 1950 gibt, nämlich die Feriendörfer des Club Méditerranée, die hier in die Reihe der Heterotopien eingebettet werden. Touristische Orte als heterotope Orte wären auch im Sinne des Raumparadigmas des Dispersen, des Zerstreuten, das Luciano Basauri und Dafne Berc als Analyseinstrumentarium entwickelten, weiter zu denken. Die vor allem im anglophonen Kontext weiter als in deutschsprachigen tourist studies verbreitete Authentizität, die auf den echten Erfahrungszugewinn durch die Fremde abzielt, und den ebenso spezifischen wie kollektiven tourist gaze erforschte der britische Soziologe John Urry. Es ist der Blick, wie er in seinem 1990 erschienenen The Tourist Gaze argumentiert, der Gegenden konsumiert und Regionen zu kompatiblen, aber auch authentisch erfahrbaren Waren des Massentourismus macht. Nicht zuletzt greift auch Urry in seinen Essays zu postmodernen Lebensformen unter dem Titel Flaneure, Spieler und Touristen die Bewegung als das Prägende zeitgenössischer, nachmoderner Existenzformationen auf. Doch die Dialektik hat noch immer ihre Finger im Spiel. Die Dauerbewegung, die transitorische Existenz im Unterwegs, braucht das Feste, das Vorhandene, das Gegebene, in dem es sich auf Zeiten niederlässt. Genau diese verfestigenden, territorialisierenden, ganze Regionen urbanisierenden und landschaftskonstituierenden Aspekte des Massentourismus sind es, die in einer Reihe von Case Studies in Tourism Dispersion Camouflage vorgestellt werden.
In einer über viele Jahre intensiv betriebenen Forschungstätigkeit setzte sich das Duo Basauri und Berc, das 2006/2007 durch einen Forschungsaufenthalt in der Akademie Schloss Solitude in Stuttgart unterstützt wurde, mit den visuellen und räumlichen Erscheinungsformen und Auswirkungen des Massentourismus auseinander. Sie entwickeln Kategorien und Bewertungsmodelle: Hyperurbia in Barcelona, Tectonics of ID im kroatischen Bale, Oia auf Santorini, Dubrovnik und Casares, Recreatopia in Marina Baie des Anges an der Côte d‘Azur, Benidorm, Lifestyle Simulacra in Port Grimaud, Empuriabrava und Mar Menor Golf Resort in Spanien, Diffuse Urbanity in Capri und Thematopia in Wente Vineyards, Kalifornien. Sie betrieben konsequent visuelle Empirie mittels Fotografie und räumliche Analysen, die auch durch Mappings vermittelt werden. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt im mediterranen Raum. War ihr Fokus zunächst primär der einer geschärften kulturellen Kritik, so wandelte er sich im Laufe der kategorisierenden Grundlagenforschung zu einem Weiterdenken aus dem Bestehenden und dessen Umformung zu einer homogeneren, weniger zerstückelten Landschaft. Basauri und Berc sehen in der Strategie der Camouflage einen Rettungsanker, der dem gegenwärtigen Trend des ökonomisch getriebenen Sprawl und der Zerstückelung der Landschaft entgegenwirken könnte. Massentourismus wird als „produktive Landschaft“ begriffen durch die Quantität des Gebauten, die auf Kosten der Natur geht und, folgt man der hier vorgeschlagenen Argumentation, weder larmoyant zu beklagen noch überheblich zu kritisieren ist, sondern als Faktum zu akzeptieren, von dem aus man neue Lösungsstrategien anzupeilen hat. Man könnte von hier aus, wie im urbanen Setting, Tourismus auch als produzierend, als landschaftsproduzierend begreifen. Das, was der Massentourismus hervorbringt, sind die massentouristischen Landschaften, die der Nachbesserung mittels zweiter Natur bedürfen, um sich als das zu behaupten, was sie sein sollen: anstrebenswerte Destinationen, die mit dem aufwarten können, was sie anziehend macht.
Der zweite Ausgangspunkt der argumentativen Betrachtung der touristischen Landschaft bei Basauri und Berc ist die „territoriale Performance“, die sie kritisieren, da es ihr nicht gelingt, ein zusammenhängendes Bild der Umwelt zu produzieren. Aus ihren Analysen folgern Basauri und Berc zum einen, dass das Gärtnerische eine unterentwickelte touristische Raumproduktionsressource ist, und zum anderen, einen für die Zukunft zu beachtenden, vor allem auch auf der Policy-Ebene angesiedelten Forderungskatalog den Sprawl in Istrien betreffend: Verdichtung innerhalb dafür vorgesehener Korridore, Einhaltung bestehender Gesetze und strategische Zusammenführung lokaler Erwerbschancen und räumlicher Konsequenzen im Marketing einer Region. Indem Gegenden mit typological upgrades versehen werden, können sie nicht nur Landschaft zurückgewinnen, sondern im ökonomisch überlebensnotwendigen Warencharakter auch noch einmal ihren authentizitätsstiftenden wahren Charakter ausspielen.
Elke Krasny ist Kuratorin, Stadtforscherin und Professorin für Kunst und Bildung an der Akademie der bildenden Künste Wien.