(Un)Sicherheit findet Stadt
»Insecurities in European Cities«Wien ist zum einen anders, angeblich sogar die sicherste Stadt in Europa. Dennoch kann das Projekt, aus dem hier einige Ergebnisse berichtet werden, für sich beanspruchen, an einigen grundlegenden Kategorien soziologischer Reflexion und Zeitdiagnose anzusetzen, die auch für Wiener Zustände und Zukunftsperspektiven nicht ganz irrelevant sein dürften. Besonders seit Mitte der achtziger Jahre ist vermehrt von Unsicherheiten die Rede, die mit den Konzepten »Individualisierung«, »Risikogesellschaft« und »Globalisierung« assoziiert sind.
Wien ist zum einen anders, angeblich sogar die sicherste Stadt in Europa[1]. Dennoch kann das Projekt, aus dem hier einige Ergebnisse berichtet werden, für sich beanspruchen, an einigen grundlegenden Kategorien soziologischer Reflexion und Zeitdiagnose anzusetzen, die auch für Wiener Zustände und Zukunftsperspektiven nicht ganz irrelevant sein dürften.[2] Besonders seit Mitte der achtziger Jahre ist vermehrt von Unsicherheiten die Rede, die mit den Konzepten »Individualisierung«, »Risikogesellschaft« und »Globalisierung« assoziiert sind. Von renommierten AutorInnen ist nachdrücklich darauf hingewiesen worden, dass diese grundlegenden Tendenzen die Biografien und Lebensplanungen, aber auch den Alltag spätmoderner Gesellschaften massiv verändert haben. Das alles verbindet sich mit der »Krise der Städte«, mit der Diagnose also, dass die Stadt, oder jedenfalls viele Städte, ihre Funktion als »Integrationsmaschine«, die ihnen in der fordistischen Ära zugekommen ist, unter den Bedingungen der deregulierten (und deregulierenden) Politik nicht mehr erfüllen kann bzw. können. Von der Spaltung der Stadt, von sozial-räumlichen Polarisierungstendenzen, von »gated communities« auf der einen und »ungovernable spaces« auf der anderen Seite ist die Rede, in denen herkömmliche (moderne) Strategien sozialer Kontrolle nicht mehr funktionieren. Zunehmende »Insecurities in European Cities« sind sowohl angesichts deutlicher und beschleunigter Veränderungen regionaler wie internationaler Arbeitsmärkte und des parallel erfolgenden Umbaus/Rückbaus des Wohlfahrtsstaates absehbar; andererseits machen sie sich auch an steigenden Kriminalitätsraten und der angeblich zunehmenden Kriminalitätsfurcht fest, die in den vergangenen Jahrzehnten als eigenständiges soziales Problem entdeckt wurde.
Im Folgenden soll auszugsweise aus den in Wien erhobenen Daten berichtet werden, die auf dem Weg einer Repräsentativbefragung (mehr als 1000 Interviews, Erhebungszeitraum Herbst 2002) und einer qualitativen Studie (86 Interviews) in vier Wiener Stadtteilen (zwei Gründerzeitviertel der Leopoldstadt – Volkertviertel und Stuwerviertel; zwei transdanubische Stadtrandsiedlungen – Großfeldsiedlung und Rennbahnweg) erhoben wurden. Abschließend sollen diese Ergebnisse, die sich nicht so leicht in den soziologischen und kriminologischen Mainstream-Diskurs einordnen lassen und sich zum Teil recht gründlich von denen in vergleichbaren Stadtteilen anderer Städte (Amsterdam, Budapest, Hamburg, Krakau) erhobenen unterscheiden, kommentiert werden.
Ausgewählte Wiener Ergebnisse
Die Befragungsdaten aus den Wiener Untersuchungsgebieten verweisen zunächst auf ein hohes Maß an Zufriedenheit mit der Wohnumgebung und dem Stadtviertel insgesamt: Rund zwei Drittel der Befragten wohnen gern oder sehr gern in ihrem Stadtteil; der Anteil der (eher) Unzufriedenen beläuft sich auf kaum mehr als zehn Prozent. Bemerkenswert erscheint auch, dass sich zwischen den vier Untersuchungsgebieten trotz vielfacher Unterschiede etwa in städtebaulicher Hinsicht unter dem Gesichtspunkt lokaler Infrastrukturausstattung, Zusammensetzung der Bevölkerung etc. nur geringe Differenzen finden. Ganz ähnlich verhält es sich bei der Beurteilung der lokalen Sicherheitsverhältnisse: Mehrheitlich bewerten die Befragten ihren Stadtteil als (eher) sicher. Der Anteil derer, welche die Sicherheitsverhältnisse im Stadtteil (eher) unbefriedigend einschätzen, liegt zwischen 12 und 16 Prozent. Lokale Kriminalitätsrisiken werden von den Befragten moderat und weitgehend realistisch eingeschätzt. Generell zeigen die Daten, dass die befragten StadtteilbewohnerInnen eine relativ homogene oder auch undifferenzierte Wahrnehmung der Atmosphäre in ihrer Wohnumgebung artikulieren, dass also eine negative Beurteilung der Sicherheitsverhältnisse vielfach als Teil eines umfassenderen Unzufriedenheitssyndroms (und weniger als Reflex spezifischer Sicherheits- oder gar Kriminalitätsprobleme) zu verstehen ist, das in den Untersuchungsgebieten auf etwa 15 Prozent der Befragten zutrifft und am Rennbahnweg geringfügig erhöht ist.
Detailliertere Analysen zeigen, dass das Unsicherheitssyndrom und die darin enthaltene reservierte bis negative Einschätzung der lokalen Sicherheitsverhältnisse sich nur sehr bedingt aus sozio-demografischen und anderen Merkmalen der befragten Person »erklären« lassen. Ein (statistisch) signifikanter Zusammenhang ergibt sich nur für das Merkmal Geschlecht. Frauen bewerten den eigenen Stadtteil in allen Untersuchungsgebieten im Vergleich zu Männern als unsicherer. In der Großfeldsiedlung findet sich die überaus bemerkenswerte Tendenz, dass dort die älteren BewohnerInnen (PensionistInnen) ihr Stadtviertel etwas sicherer einschätzen als die jüngeren Altersgruppen. Die Bildungsvariable wirkt sich für die beiden Gebietstypen unterschiedlich aus: Von den gebildeteren BewohnerInnen wird in der Leopoldstadt die Sicherheit des Wohngebiets überdurchschnittlich günstig eingeschätzt – und dem entspricht auch eine überdurchschnittliche Zufriedenheit mit dem Stadtteil; in den transdanubischen Untersuchungsgebieten sind es gerade die MaturantInnen, die sich bezüglich Sicherheit, aber auch Attraktivität des Stadtteils kritischer äußern.
Die qualitative Untersuchung (Datenbasis 86 Interviews, Zeitraum der Datenerhebung Jänner bis April 2003) bestätigt die Ergebnisse der Repräsentativbefragung. Fragen der Unsicherheit und Kriminalitätsfurcht sind bzw. waren für die überwiegende Mehrzahl der Befragten nicht wirklich vorrangig. Fast die Hälfte der Befragten erinnert sich an keine Situation in den letzten Jahren, in der sie sich (einigermaßen) unsicher gefühlt hätten, und auch die von den anderen genannten Unsicherheitserfahrungen betreffen vielfach relativ undramatische und weitgehend folgenlose Irritationen im öffentlichen Raum, die sich oft auf die Wahrnehmung von und Konfrontation mit »social disorder« beziehen (Präsenz von Randgruppen im öffentlichen Raum und deren Verhaltensweisen, unspezifische Belästigungen und dergleichen). Probleme in den jeweiligen Stadtteilen, die in den Interviews durchaus angesprochen werden, werden nicht primär unterm Gesichtspunkt von Unsicherheit oder gar Furcht abgehandelt. Vielfach gilt für die berichteten Erfahrungen mit social disorder, dass es sich um bekannte, einigermaßen berechenbare Ereignisse und Sachverhalte handelt, die als negative Aspekte des städtischen Alltags verbucht werden, was zum einen bedeutet, dass darüber wenig Spektakuläres zu erzählen ist, und zum andern. dass diese Irritationen letztlich wenig konkrete Verunsicherung auslösen, ja mitunter selbst zur Routine werden. Das gilt zum Beispiel für wiederholte Belästigungen durch Freier als »lästige« und durchaus »gewöhnungsbedürftige« Situationen, die von mehreren Bewohnerinnen des Stuwerviertels erwähnt (aber nicht unbedingt mit Unsicherheit assoziiert) werden, oder für den Praterstern, der von vielen Bewohnerinnen der umliegenden Stadtteile als ausgesprochen unangenehmer und unattraktiver Ort erfahren und beschrieben wird (wobei das Unbehagen sowohl die physischen Gegebenheiten, das gesamte Ambiente, als auch die Anwesenheit von alkoholisierten Personen, Obdachlosen etc. betrifft). Ähnlich verhält es sich mit einigen Klagen über bestimmte Lokale, die aus der Sicht der Anrainer permanent Probleme machen und deren Umfeld als unruhig erlebt wird (Volkertviertel), sowie über Gruppen von Jugendlichen, die sich in den Abend- und Nachtstunden in den Höfen des Rennbahnwegs aufhalten, Lärm erzeugen und sich aggressiv verhalten.
Allgemeine Zufriedenheit und realistische Gefahreneinschätzung
Das relativ hohe Maß an Zufriedenheit (eine deutliche Mehrheit lebt gern oder sehr gern im jeweiligen Stadtteil) bedeutet im Regelfall nicht enthusiastische Begeisterung über das Stadtviertel und die dortigen Lebensbedingungen, ist aber doch Ausdruck des Umstands, dass die lokalen Bedingungen als durchaus akzeptabel, als »normal« erscheinen, keine gravierenderen Beeinträchtigungen vorhanden sind und zumeist auch bestimmte Aspekte des Stadtteils (vor allem Lage, Infrastruktur und Wohnqualität) als durchaus positiv erlebt werden. Allfällige Mängel der lokalen Infrastruktur bzw. Ausstattung werden vielfach durch problemlose Mobilität im Stadtgebiet und darüber hinaus kompensiert. Für eine deutliche Mehrheit der Befragten beschränkt sich der persönliche Aktionsradius nicht auf die Wohnumgebung oder den Bezirk. Im Großen und Ganzen berichten die Befragten kaum über effektive Beschränkungen von Handlungsräumen im Zusammenhang mit Unsicherheit. Das bestätigt auch einen Befund der Repräsentativbefragung: Der Anteil derer, die ihre Wohnung abends aus Sicherheitsgründen kaum oder gar nicht verlassen und das mit Angst oder Furcht begründen, ist in den Wiener Untersuchungsgebieten äußerst gering – etwa 5-6 Prozent – und um einiges geringer als in den anderen Städten bzw. Untersuchungsgebieten, wo er sich auf 15 bis 20 Prozent beläuft.
Definitive »Angsträume« werden in den Interviews eher selten, und wenn, dann ausschließlich von Frauen angesprochen: Das betrifft z. B. den Bereich zwischen Praterstern und Ausstellungsstraße, also den Zugang zum Stuwerviertel in den Abend- und Nachtstunden, der vor allem aufgrund der unzulänglichen Beleuchtung, der Abwesenheit von informeller Kontrolle und der (vermuteten) fragwürdigen Nutzung der direkt angrenzenden Gebiete und Grünflächen (Venediger Au, Prater) bedrohlich oder jedenfalls unheimlich wirkt – weniger dagegen die Straßenzüge und Plätze des Viertels selbst, wo die Wahrscheinlichkeit von Belästigungen ungleich höher ist, oder die Höfe und das unmittelbare Umfeld der Rennbahnweg-Siedlung in den Abend- und Nachtstunden – wobei vor allem unerfreuliche Begegnungen mit Gruppen von Jugendlichen oder »ungut angesprochen werden« befürchtet werden, zum Teil auch vor dem Hintergrund derartiger Erfahrungen.
Ganz allgemein wird von den Befragten wenig Kriminalitätsfurcht artikuliert. Die Interviews enthalten zwar relativ zahlreiche Berichte über Kriminalitätserfahrungen, aber doch sehr wenige Hinweise auf solche, die direkt oder indirekt Unsicherheit bewirken. Als Ausnahme ist vor allem ein Interview mit einer Bewohnerin des Volkertviertels zu erwähnen, die wenige Wochen vor dem Interview auf der Straße niedergeschlagen und beraubt wurde. Die Befragten unterscheiden vielfach recht eindeutig zwischen den Themen »Unsicherheit« und »eigene Kriminalitätserfahrungen«: Das erste Thema bezieht sich für die meisten, die es überhaupt für relevant erachten, auf Situationen, Begegnungen und Örtlichkeiten, die einem nicht geheuer sind, auf tatsächliche oder potenzielle unerwünschte und unangenehme Konfrontationen (angequatscht, angestänkert, angeschnorrt werden, verbale sexuelle Belästigungen etc.). Die tatsächlichen Kriminalitätserfahrungen dagegen beziehen sich im Regelfall auf (mäßig dramatische) materielle Schädigungen durch unbekannte Täter (Taschendiebstahl, KFZ-Einbruch, Fahrraddiebstahl, Kellereinbruch) oder ergeben sich aus »riskanter Gesellschaft« oder aus der mehr oder weniger bewussten Suche nach Abenteuern (Drogen, Zugehörigkeit zu Jugendbanden, Besuch von zweifelhaften Lokalen etc.). Die typischen Coping-Strategien im Umgang mit Unsicherheit sind weitgehend trivial: Einfach zu praktizierende Meidungsstrategien in Bezug auf Örtlichkeiten und fragwürdige Individuen und Gruppen (»einen Bogen machen«). Freilich werden in einigen Interviews auch Ausnahmen von diesem Muster sichtbar: Von einigen Frauen werden durchaus aufwändige, mitunter kostspielige Strategien berichtet (nächtliche Taxifahrten, sich vom Partner von der U-Bahn abholen lassen, in bestimmten Gegenden nur mit dem Hund unterwegs sein, mehr als geringfügige Umwege, um bestimmten Angsträumen auszuweichen.) Das kontrastiert aber auffallend mit der mehrheitlich (auch bei vielen Frauen) anzutreffenden weitgehend selbstverständlichen und unproblematischen Benützung der meisten öffentlichen Räume bzw. der Beschränkung von Meidungsstrategien auf eher spezielle Örtlichkeiten und Situationen.
Sozialkontakte und Infrastruktur
Das qualitative Material bestätigt die Annahme, dass in den Untersuchungsgebieten insgesamt eher wenig soziale Einbindung und Involvierung in lokale Netzwerke besteht. Als Ausnahme kann der Rennbahnweg gelten, wo das relativ hohe Maß an Sozial- und Nachbarschaftskontakten aber offensichtlich durchaus ambivalente Auswirkungen auf die subjektive Sicherheit zeitigt: Ein dichtes Netzwerk an Sozialkontakten kann auch bewirken, dass mehr negative Informationen und Gerüchte zirkulieren. In den übrigen Untersuchungsgebieten verfügt eine deutliche Mehrheit über keine regulären und ausgeprägten Sozialkontakte im Stadtteil, was offensichtlich bedeutet, dass das relativ günstige Sicherheitsgefühl sich nicht primär aus der Quelle der »social bonds« speist. Umso größer ist der Stellenwert des »trust in abstract systems« (Giddens) zu veranschlagen – also des Vertrauens in die städtische Infrastruktur, in die Institutionen und Arrangements, die das Leben in der Stadt und im Stadtteil berechenbar machen.
Die Minderheit, die Unsicherheit (im weiteren Sinn) thematisiert und als Problem benennt, tut das des Öfteren vor dem Hintergrund allgemeinerer, diffuserer Unzufriedenheit (mit den persönlichen Lebensbedingungen und/oder mit dem räumlichen Umfeld). Das ähnlich wie in der Repräsentativbefragung bei einer Minderheit anzutreffende, im Untersuchungsgebiet Rennbahnweg etwas verbreitetere »Unzufriedenheitssyndrom«, das sich nicht immer, aber doch des Öfteren mit mehr oder weniger konkreten Klagen über die lokalen Sicherheitsverhältnissen verbindet, ist auch im qualitativen Material nicht wirklich präzise in der Sozialstruktur zu verorten oder so genannten »Modernisierungsverlierern« zuzuordnen, doch lassen sich immerhin zwei Varianten unterscheiden: Unzufriedenheit wird zum einen dann artikuliert, wenn das eigene Wohnumfeld nicht den persönlichen Aspirationen und Respektabilitätsansprüchen entspricht, zum anderen von der relativ kleinen Minderheit, die den lokalen sozialen Wandel der vergangenen Jahrzehnte eindeutig oder überwiegend negativ erfährt und bewertet – vielfach ältere Menschen, die seit langer Zeit im Stadtteil leben und den Austausch der Bevölkerung durch Zuwanderung und/oder Veränderungen im Bereich der Nahversorgung problematisieren, die für sie oft auch einen Verlust der früheren nachbarschaftlichen Kontakte bedeuten.
Bedingungen für Unsicherheit
Zweifellos sind auch in Wien eine Reihe von Voraussetzungen gegeben, die direkt oder mittelbar Unsicherheit (soziologisch: irritierende Kontingenzerfahrungen) bewirken können: Über mehrere Jahrzehnte hat ein Prozess der Individualisierung angedauert, mit den Folgen, die auch für andere europäische Gesellschaften beschrieben wurden: Auflösung traditioneller (Klassen-)Milieus, Übergang von konsistenten Identitäten und planbaren Karrieren zu »Bastelbiografien« und Fragmentierung des Lebens, vermehrte Anforderungen an die Mobilität und Flexibilität der Subjekte. Informelle Kontrollen auf lokaler Ebene verlieren unter diesen Bedingungen an Bedeutung und Effektivität – in dieser Hinsicht unterscheidet sich Wien wahrscheinlich kaum von anderen europäischen Städten.
Zum anderen haben Effekte der Globalisierung sich auch sehr deutlich in Wien bemerkbar gemacht: Zunächst in den Jahren nach der Ostgrenzöffnung (verstärkte Zuwanderung, Bevölkerungs- und Stadtwachstum) und später nochmals durch die steigende Zahl derer, die als Asylsuchende nach Österreich gekommen sind und von denen vielen als »Wirtschaftsflüchtlingen« der Zugang zu einem legalen Aufenthaltsstatus, zum regulären Arbeitsmarkt und zu normaler Teilhabe verwehrt bleibt. Wenn diese Gruppen in verschiedenen Bereichen der Schattenwirtschaft und auf verschiedenen illegalen Märkten agieren, für die Wien als Großstadt klarerweise die günstigsten Gelegenheitsstrukturen bietet, bewirkt das tendenziell Irritationen bei jenen Gruppen der Bevölkerung, die mit der sichtbaren Präsenz dieser Gruppen in ihrem Umfeld konfrontiert und von den störenden Nebeneffekten diverser illegaler Aktivitäten betroffen sind. Zu erwähnen bleiben die steigende Arbeitslosigkeit sowie der Anstieg atypischer bis prekärer Beschäftigungsverhältnisse, die vermuten lassen, dass größere Anteile der Bevölkerung nicht mehr oder nur mit Schwierigkeiten ein passables Konsumniveau halten können oder überhaupt in ihren Existenzbedingungen bedroht sind, was zunehmende Konkurrenz um Ressourcen und Räume erwarten lässt.
Nicht zuletzt wäre anzunehmen, dass auch die Auswirkungen der politischen Wende (Übergang von sozialpartnerschaftlicher großkoalitionärer Konsensdemokratie zu politischer Polarisierung und Konflikt) sowie die permanenten Diskussionen über den Reformbedarf, über Einsparungserfordernisse und Privatisierungspläne sowie die Strategie der forcierten »Responsibilisierung« der Subjekte, die künftig mehr Verantwortung für ihre Bildungsinvestitionen, ihre Gesundheits- und Pensionsvorsorge übernehmen sollen, einiges an Verunsicherung erzeugen könnten. Und last but not least: Seit 2000/2001 hat die in Wien registrierte Kriminalität einen deutlichen Anstieg verzeichnet, der auch in den Medien kommentiert wurde[3] und sich in politischen Debatten zur Sicherheitslage niedergeschlagen hat – ein Anstieg, der sich im Wesentlichen auf die Massendelikte im Bereich der Vermögenskriminalität beschränkt (besonders KFZ-Einbrüche und Taschendiebstähle), aber auch die (Straßen-)Raubkriminalität betrifft, von der angenommen wird, dass sie die allgemeine Sicherheitswahrnehmung nachhaltig beeinflusst.
Die Zukunft
Gemessen an den vorliegenden Survey-Daten und der empirischen Evidenz aus dem INSEC-Projekt haben die aufgelisteten Prozesse vorerst kaum spürbare »urban insecurities« nach sich gezogen. Immer noch gilt Wien den BewohnerInnen als Stadt mit beachtlicher Lebensqualität, in der sich viele Bereiche des städtischen Lebens zuletzt eher verbessert als verschlechtert haben (Wohnqualität, Einkaufsmöglichkeiten, öffentliches Verkehrsnetz, Freizeit- und Kulturangebot, Gestaltung öffentlicher Räume).[4] Zugleich ist es eine Stadt, die eine verlässliche administrative, technische und soziale Infrastruktur zur Verfügung stellt (öffentlicher Verkehr, Müllabfuhr etc.) Die Daten aus INSEC, und vor allem der Städtevergleich, lassen vermuten, dass eine funktionierende Infrastruktur einen kaum zu überschätzenden Beitrag zur subjektiven Sicherheit leistet. Es ist zudem eine Stadt, in der Randgruppen (vorerst) kaum als StörerInnen oder gar als potenziell »gefährliche Klasse(n)« wahrgenommen werden und in der es bei allen Unterschieden der Ausstattung und Attraktivität verschiedener Stadtregionen zwar einiges an »disorder«, aber wenige Beispiele für flächigen oder sonst auffälligen physischen Stadtverfall gibt, auch keine notorischen »no go areas« und keine Stadtteile, deren BewohnerInnen an sich und per se ausgegrenzt sind. Viele Kriminalitätsrisken, soweit sie nicht direkt mit speziellen Lebensstilen verbunden sind, sind in Wien bis dato relativ fair, das heißt weitgehend zufällig verteilt und bündeln sich nicht unverhältnismäßig bei bestimmten Gruppen und Schichten.
Abzuwarten bleibt freilich, wie sich dieses »fordistische« Integrationsmodell und die mit ihm assoziierte kommunale »Sicherheitskultur« weiterentwickelt bzw. ob und wie lange es erhalten bleibt, wenn einige seiner Grundvoraussetzungen doch noch abhanden kommen sollten: Das betrifft zum einen die materielle Basis, das heißt die Frage der Finanzierbarkeit der sozialen und technischen Infrastruktur, und zum anderen das Regime des Umgangs mit Differenzen, speziell solchen, die sich nicht als erwünschte und vermarktbare urbane Vielfalt, sondern als irritierende bis störende Unordnung bemerkbar machen. Gesellschaften, in denen soziale Kontrolle sich vom disziplinargesellschaftlichen Paradigma verabschiedet hat, das noch primär auf die Zurichtung der Subjekte und nur sekundär auf das monitoring von Situationen und Räumen gesetzt hat, eröffnen ihren individualisierten und flexibilisierten Subjekten eine Vielzahl von Chancen und Optionen. Sie produzieren damit auch viel Kontingenz und Ungewissheit, inklusive der Zumutung an die betroffenen Subjekte, ohne irgendeine wachsame moralische Instanz oder einen plausiblen Orientierungsrahmen, um damit zurechtzukommen. Aber das ist eine andere Geschichte, die in Wien vorerst noch nicht geschrieben wird.
Gerhard Hanak ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie.
Fußnoten
Wiener Bezirkszeitung 13/2003. ↩︎
Das von der Europäischen Kommission im 5. Rahmenprogramm (Key Action »Improving the Socio-economic Knowledge Base«) geförderte Projekt »Insecurities in European Cities« (RTD-Project INSEC, Contract No: HPSE-CT-2001-00052) wurde von Prof. Klaus Sessar (Universität Hamburg, Institut für Kriminalwissenschaften) koordiniert. Wiener Projektpartner war das Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie. ↩︎
»Zahl der Verbrechen in Wien ist explodiert« (U-Express, 2. Juni 2003). ↩︎
Vgl. IFES, Leben und Lebensqualität in Wien, Wien 2003. ↩︎
Gerhard Hanak