Unterschiede und Ähnlichkeiten europäischer Stadtentwicklungen
Besprechung von »Urban Sprawl in Europe. Similarities or differences?« herausgegeben von Viktória SzirmaiSuburbanisierung und die räumliche Ausbreitung von Städten in das Umland stellt seit Jahrzehnten eine Herausforderung für die Stadtplanung dar. Vermengt mit Themen der Nachhaltigkeit, des Flächenverbrauchs, sozialer Interaktion und Nahversorgung gewinnt der aktuelle Diskurs zunehmend an Bedeutung. Vor diesem Hintergrund hat Viktória Szirmai (Institute of Sociology – Hungarian Academy of Sciences – Budapest) das vorliegende Buch zusammengestellt, das wie im Untertitel angeführt auf die Beantwortung der Frage abzielt ob Urban Sprawl im europäischen Kontext gleiche oder ungleiche Erscheinungsformen hat. Die städtische Entwicklung der ausgewählten Fallbeispiele (Kopenhagen, Paris, Wien und Budapest) sind durch historische und politische Ereignisse bedingt in ihrer sozialen und ökonomischen Entwicklung sehr unterschiedlich. Dadurch wird die große Bedeutung des komparativen Zugangs des Buchs zusätzlich unterstrichen.
Die Auseinandersetzung mit dem Thema des Urban Sprawl beweist aufs Neue wie weitläufig das Forschungsgebiet der Stadtforschung ist. Der Artikel von Henrik Reeh und Martin Zerlang veranschaulicht in einer sehr eingängig zu lesenden, ja fast lyrischen Form wie die Ausdehnung Kopenhagens stattgefunden hat. Der erste Teil des Textes ist der Darstellung der städtischen Ausbreitung durch Steen Eiler Rasmussens »Fingerplan« gewidmet und beschreibt die Suburbanisierung entlang von fünf Bahnlinien. Henrik Reeh zeigt wie Rasmussens graphisches Konzept, das die zentrale Stadt als Handfläche und die Wachstumslinien als Finger sieht, innerhalb kurzer Zeit ins kollektive Verständnis der Bevölkerung eingegangen ist und bis heute erhalten blieb. Anhand dieses Plans und seiner Weiterentwicklung durch den sechsten Finger der nach Malmö /Schweden führt, entsteht für den /die LeserIn in Verbindung mit dem zweiten Teil des Essays ein abgerundeter Eindruck der Suburbanisation Kopenhagens. Martin Zerlang beschreibt dort in einem sehr persönlichen Kapitel die eigene Erfahrung vom Aufwachsen in Farum – einem Vorort Kopenhagens. In dieser vorwiegend ethnographischen Studie, die bis auf wenige Zahlen auf jegliche statistischen und methodischen Beweise für die Zersiedelung verzichtet, werden am Beispiel von Farum die Veränderungen, die sich durch zunehmende Motorisierung, den Bau von Einkaufszentren und Migrationsströme in diesem Vorort seit den 1960er Jahren ergaben, beschrieben. Zudem diskutiert der Autor die neuen Tendenzen einer Regionenbildung mit Malmö/Schweden und dem damit verfolgten Streben nach Wachstum und Vielseitigkeit, das der Idee von Gleichheit und Wohlfahrt, wie sie Rasmussen vertreten hat, entgegensteht. Hierzu wird das Ørestad Projekt im Süden Kopenhagens das einen Verbindungspunkt nach Schweden darstellen soll diskutiert.
Im Gegensatz zu der Besprechung des Fallbeispiels Kopenhagen sind die Artikel zu Paris, Wien und Budapest mit Fokus auf geographische, statistische und soziale Aspekte der städtischen Ausweitungsprozesse aufgebaut. Die einzelnen Beiträge beschreiben die innerstädtischen, sowie suburbanen Bevölkerungsentwicklungen, Tendenzen räumlicher Ausweitung, Migrationsmuster und sich dadurch ergebende Segregationsformen. Durch umfangreiche kartographische Darstellungen wird in allen Fallbeispielen ein sehr genaues Gesamtbild der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Determinanten im städtischen Ausweitungsprozess geboten.
Der dritte Teil des Buchs befasst sich mit Gentrifizierung und Stadterneuerung. Spätestens beim Überfliegen des Inhaltsverzeichnisses werden sich LeserInnen verwundert fragen, wieso der dritte Teil des Buchs dieser Thematik mit den Fallbeispielen Wien und Budapest gewidmet ist. Bei genauerer Auseinandersetzung mit der Materie macht eine solche Verbindung aus kontextueller Sicht, vor allem in Bezug auf György Enyedis Einleitungskapitel über die Phasen städtischen Wachstums durchaus Sinn. Dennoch wäre es wünschenswert gewesen auch Beiträge über Gentrifizierungsprozesse in Kopenhagen und Paris für das Buch zu gewinnen um die Diskussion abzurunden.
Die Beiträge über Wien (Yvonne Franz) und Budapest (Gábor Csanánadi, Adirenne Csizmady und Gergely Olt) begründen die auftretenden Revalorisierungstendenzen an Hand von Beispielen und untersuchen die Frage wieso Gentrifizierung in den beiden Städten sehr eigenständige Erscheinungsformen hat. Durch umfassende Erklärungen anhand von Fallbeispielen auf Nachbarschaftsebene wird dieser Aspekt in den Artikeln aufgegriffen. In nachvollziehbarer und kompakter Weise werden die Strukturen erwähnt, die Gentrifizierung in den beiden Städten beeinflussen und bedingen.
Dieses Buch verdeutlicht, dass Erscheinungsformen globaler, städtischer Phänomene sehr wohl in allen behandelten Städten vorhanden sind, diese sich, bedingt durch die Geographie der jeweiligen Fallbeispiele, jedoch unterscheiden. Damit kann die im Untertitel aufgeworfene Frage nach »Similarities or Differences?« nur mit sowohl als auch beantwortet werden. Auf die politischen Aspekte, die zu den heutigen urbanen Strukturen geführt haben, wird nur am Rande der Artikel eingegangen. Auch wenn es der Titel nicht verrät, so ist die verbindende Behandlung von Urban Sprawl und Gentrifizierung in einem Band wünschenswert. Vor allem anhand der zwei Artikel über Budapest wird klar, dass dadurch ein gesamtheitliches Bild der Stadtentwicklung entsteht.
Urban Sprawl in Europe ist ein Buch, das die räumliche Ausbreitung von Städten und teilweise auch Gentrifizierung im europäischen Kontext vergleichend behandelt und so ein wichtigen Sammelband für die Heranführung an die Thematik darstellt. Des Weiteren bietet es einen sehr guten Überblick über multinationale Forschungsergebnisse und lädt so zur tieferen Auseinandersetzung ein.
Johannes Riegler