Urbanografien – Neue Erzählungen des urbanen Handelns
Besprechung von »Urbanografien. Stadtforschung in Kunst, Architektur und Theorie« herausgegeben von Elke Krasny und Irene NierhausElke Krasny und Irene Nierhaus beginnen in dem von ihnen herausgegebenen Buch Urbanografien ihren einleitenden Text mit dem programmatischen Satz: „Im urbanen Handeln wird Stadt erzeugt. Städtische Repräsentationen und individuelle wie kollektive Stadtwahrnehmungen produzieren und reproduzieren Stadt als Erfahrungsraum.“ Das Buch widmet sich, wie sie im weiteren schreiben, der „Stadtforschung zwischen Kunst, Architektur und Theorie und versteht Stadträumlichkeit als Austausch zwischen Gebautem, Begangenem und in Eingriffen der Behörden, der Wirtschaft und der Städterinnen und Städter.“ Dieser sehr weit gefasste Kontext steht in einem ständigen Wechsel von AkteurInnenkonstellationen, deren Formation sie als urbanografisch bezeichnen. Jedenfalls stellen sie sich damit der sehr schwierigen Aufgabe, die Diskurse zum urbanen Handeln zu vernetzen bzw. ohne die üblichen Missverständnisse weiter zu verorten.
Der aus Kunst des Handelns von Michel de Certeau abgeleitete Begriff des urbanen bzw. städtischen Handelns selbst wurde im deutschen Sprachraum durch das Architekturkollektiv „Freies Fach“ abgeleitet und verbreitet. Das 1980 in Paris erschienene Buch Art de faire (zu deutsch: Kunst des Handelns, Merve 1988) des französischen Philosophen und Theologen Michel de Certeau kann als Grundlage für Urbanografien gesehen werden und wird so auch in einem Großteil der Beiträge direkt oder indirekt als Literaturhinweis zitiert. Es kann somit als stiller Ausgangspunkt des in drei Abschnitte (Konstellationen, Interventionen und Relationen) gegliederten Buches gesehen werden.
Mittlerweile gibt es viele Bezeichnungen für Handlungen im Stadtraum und damit verbundenen urbanistischen Theorien. Über die Konstruktion von Situationen könnte hier der von Guy Debord eingeführte, aber etwas zu umfassende und damit oft missverständliche Begriff des unitären Urbanismus aus den späten 1950er Jahren als Ausgangsbasis eines auf Interaktion bezogenen Urbanismus betrachtet werden. Dieser Begriff war vielleicht zu lange Zeit und zu direkt mit der Person Debords und den späteren Krisen der Situationistischen Internationale verbunden gewesen, als dass er sich im Diskurs weiterentwickeln hätte können. Vielfach wurde daher aus dem unitären Urbanismus salopp ein situativer Urbanismus gezimmert. Der von Dennis Kaspori und Jeanne van Heeswijk eingeführte Begriff des instant urbanism wird im vorliegenden Buch nicht weiter ausgeführt, Jeanne van Heeswijk ist aber mit der Präsentation einer sehr spannenden Intervention im Buch vertreten. Elke Krasny schreibt in ihrem Beitrag vom „narrativen Urbanismus“. Er beschreibt eine subjektive Stadtwahrnehmung von Alltagswegen in Begleitung einer Urbanistin, wobei über Storytelling eine neue topologische Perspektive des Weges evoziert werden kann. Hier wäre es spannend, diese Form der „Produktion“, wie sie von der Autorin auch genannt wird, mit dem Begriff der Raumproduktion Henri Lefebvres zu verknüpfen. Dieser hat ja das Handeln bzw. die soziale Interaktion (also auch Gehen, Sprechen, wie die Praktiken de Certeaus) als Basis von Raum überhaupt gesehen und gilt auch als (kurzzeitiger) Lehrer Debords.
Irene Nierhaus widmet sich vielmehr der Darstellung von transformierten Räumen am Rande der Stadt, wie sie in den Filmen Pierr Paolo Pasolinis gezeigt werden. Dabei betrachtet sie diese Räume quasi von „außen“ als urbane Figuren des Planvollen (Planen von Raum und Gesellschaft) und des Randständigen (Brachen, Stadtrand, die Öffnung zu einem Außerhalb des Plans). Diese urbanografischen Figuren würden im ersten Fall in Lefebvres Darstellungsräumen bzw. im zweiten Fall des Randständigen in der Repräsentation von Räumen, wie sie auch in Lefebvres Revolution der Städte behandelt werden, ihren Ursprung finden. Interessant sind in diesem Zusammenhang im vorliegenden Buch die Ausführungen von Michael Müller, der historische Stadtwahrnehmungen (Francesco Petrarca und Ambrogio Lorenzetti) zum Anlass nimmt, analytische Raumqualitäten des Dazwischen und des Darüberhinaus als Kategorien einzuführen, die ein Einbetten einer „subjektiven Konstruktion“ von Stadt in ein ganzheitliches Stadtbild erlauben.
Das Buch beschreibt aber auch einige Interventionen, wie jene in Bremen von bzw. mit Elke Krasny selbst, welche unter dem Titel Ein Stadtspaziergang zu Orten der Transformation durch Rebecca Burwitz, Christa John, Ninja Kaupa, und Janne Köhne im dritten Teil (Relationen) dokumentiert werden. Immer wieder wird Bremen beispielhaft zum Ausgangspunkt urbaner Betrachtungen, wie beim Beitrag Eberhard Syrings Stadtbild, Raumbild, Leitbild, der im Sinne Kevin Lynchs das Erscheinungsbild von Städten hinterfragt und am Ende auf die offene Leitbilddiskussion verweist. Robert Temel beschäftigt sich mit den Zeitlichkeiten von Interventionen als Potenzial für Städte und führt dabei analytisch sehr klare Kategorien eines temporären Urbanismus ein (das Ephemere, das Provisorische und das Temporäre), bevor er diese über aktuelle konkrete städtebauliche Beispiele verortet.
Jeanne van Heeswijk führt uns nach Niew Crooswijk in Rotterdam, wo ein ganzes Viertel abgesiedelt wird, um danach dieses Gebiet, aber auch seine Geschichte für den neu gebauten und gentrifizierten Stadtteil missbrauchen zu können: Die „Geschichte“ des Bezirkes wird durch Abriss und Verdrängung der ansässigen Bevölkerung zerstört, um sie danach scheinheilig marketingtechnisch als Mythos wiederauferstehen zu lassen. Van Heeswijk beschreibt in Make history, not memory Widerstand, konsequente Interventionen und Manifeste für einen verzweifelten ArbeiterInnenbezirk, wo Intervention nicht Selbstzweck, sondern dringende Notwendigkeit wird.
Das Buch beinhaltet noch weitere interessante Beiträge, wie etwa jenen über „kartographische Einsätze“ vom Verein maiz, jedoch würde man sich nach dem Vorwort der beiden Autorinnen, welches sehr wohl die diskursiven Grundlagen einer Stadtforschung des „urbanen Handelns“ kurz zusammenfasst, dann auch wünschen, dass der Diskursschluss einer Stadtforschung in Kunst, Architektur und Theorie am Ende des Buches nochmals kommentiert würde. Der letzte Beitrag von Victor Kittlausz kann diesem hohen Anspruch (des Abschlusses) nicht gerecht werden, wobei der Beitrag jedoch durchaus spannende Denkansätze beinhaltet. Insgesamt ist Urbanografien eine spannende Dokumentation eines Status Quo des temporären Urbanismus (um hier den Begriff Robert Temels zu benutzen), der uns immer noch ins Offene führt.
Paul Rajakovics ist Urbanist, lebt und arbeitet in Wien.