Manfred Russo

Manfred Russo ist Kultursoziologe und Stadtforscher in Wien.


Im Zuge der Säkularisierung und der Ablösung von einem durch Schöpfung begründeten Menschenbild vollzieht sich ein Erkenntnisprozess, der zu einer Neuformatierung führt, indem die Referenz Gottes durch die der Natur ersetzt wird und indem nun eine Vorstellung vom Menschen entsteht, die durch die Feststellung von menschlicher Subjektivität und von Selbstbewusstsein begründet wird. Diese Fähigkeit basiert auf einer Auffassung, die den Weg zur Vernunft mittels einer Überwindung der Begierde durch die Vernunft sieht, diese aber nicht mehr im Sinne einer mönchischen, für die Gesellschaft wenig nutzbringenden Haltung, sondern durch eine neue Wertschätzung des profanen Lebens zu realisieren glaubt. Diese alte (mönchische) Askese wird durch die neue Form der „innerweltlichen Askese“[1] ersetzt, die den Beruf und die Berufung in den Mittelpunkt rückt. Es handelt sich dabei um eine merkwürdig ambivalente Haltung zur Welt, die wir einerseits lieben und andrerseits verachten sollen. Wir sollen mit einer Gesinnungsethik auf die Welt eingehen, aber uns durch den Gebrauch der Dinge nicht zu sehr an sie binden. „Eifer in den weltlichen Geschäften und dennoch Unempfänglichkeit für die Welt.“[2] Die über den Neoplatonismus und Protestantismus eingeführte Bejahung des gewöhnlichen Lebens und die Ablehnung der alten Mönchsfrömmigkeit und Verehrung des Asketismus führen zu einer neuen Art von Lebensführung hinsichtlich der Produktion und Reproduktion. Dies erfordert eine neue Einstellung zur Natur, indem der Mensch nun durch die Aneignung und Umwandlung der Natur seine Welt mit einer riesigen Fülle neuer Objekte ausstattet, um das neu erwachte Begehren zu befriedigen, aber diese Haltung andrerseits auch religiös rechtfertigen zu können. Der Utilitarismus begründet diese Einstellung durch den großen gegenseitigen Nutzen und führt den Begriff des Sozialen ein. Der Protestantismus bestimmte diese Art der Führung eines gewöhnlichen Lebens, das nicht von der mönchischen Pflichterfüllung dominiert wird, theologisch, die Utilitaristen im Sinne der instrumentellen Vernunft.

Die äußere und die innere Natur

Zwar sind auch bei Autoren von Descartes über Locke bis Kant die Ehrfurcht gebietenden Kräfte der menschlichen Vernunft und des menschlichen Willens noch von Gott geschaffen und Teil von Gottes Plan, und sie sind auch bestimmend für das Bild Gottes, das wir uns von ihm in unserem Inneren machen. Der große und in seinen Folgen damals noch gar nicht absehbare Sachverhalt besteht aber darin, dass die Quellen der ethischen Bewertung der Welt nun in uns liegen und damit die Voraussetzung einer nicht theistischen Moral geschaffen wurde, einer Moral, die wir in unserem Inneren erst erschließen müssen.

Die Vorstellung einer göttlichen Vorsehungsordnung aufgrund einer positiven Schöpfung entwickelt sich im Zuge der Säkularisierung weiter zum Bild einer Natur, die als ein aus ineinandergreifenden Wesen gebildetes Geflecht zu verstehen ist, das auf die Erhaltung jedes seiner Teile hinwirkt, wobei die Umdeutung nun darin besteht, dass das uralte Prinzip der Entelechie diesem Geflecht aus Leben und dem Glück der darin enthaltenen Geschöpfe dient. Das Ziel ist nun der Mensch selbst. Der Weg dahin erfolgt nun über eine von göttlicher Schöpfung abgekoppelte Natur, die den Menschen einerseits als Umwelt umgibt, andrerseits aufgrund des Körpers auch Teil seiner selbst ist. Zu diesem Sachverhalt haben wir aber nicht nur durch die Vernunft Zugang, sondern auch durch die Gefühle und dies erfahren wird durch unsere innere Natur. Wir haben zu den Prinzipien der Natur, die auf ein allgemeines Wohl ausgerichtet ist, in unserem Inneren Zugang. Damit wird die Natur zu einer neuen, von Gott unabhängigen Quelle der Ethik. Zugleich löst sie sich von ihrem Urheber und wird zur wichtigsten Moralquelle und zur wichtigsten Handlungsgrundlage. Nun steht das desengagierte Subjekt, der Mensch ohne Gott, an einer Stelle, wo der Platz für Gott vorbereitet war, und nimmt eine Haltung ein, wie es sich für das Ebenbild Gottes schickt.[3]

Der Glaube an die ineinandergreifende Ordnung entspricht dem Grundgedanken der jüdisch-christlichen Religion, führt zur Bejahung des gewöhnlichen Lebens und erweitert die christliche Vorstellung, dass die Güte Gottes darin besteht, sich um das Wohl der Menschen zu kümmern. Die älteren christlichen Vorstellungen waren ja vom Wert des Verzichts ausgegangen, bzw dass der Wert eines Gutes dadurch bestimmt wird, dass man darauf verzichtet. In den neueren protestantischen Auffassungen setzt sich aber der Gedanke durch, dass man über den Genuss der Güter bzw durch sie hindurch auf Gott treffen könne. „Wir sollten zwar die Dinge der Welt lieben, doch unsere Liebe sollte sozusagen durch sie hindurchgehen hin zu ihrem Schöpfer.“[4] Die Vorstellung eines Weges zu Gott war nicht mehr durch die mönchischen Ideale der Askese, sondern durch ein Lob des profanen Lebens und ein neues Prinzip der Fülle gekennzeichnet, zu dessen Verwirklichung der Mensch befähigt und befugt ist.[5] Eine Annäherung an diese Sichtweise wurde durch die neoplatonische Philosophie ermöglicht, die durch eine radikale Umkehr der Ideenlehre und platonischen Seinsordnung nun zum Schluss kam, dass das Gute notwendigerweise existiert und sich in einer unendlichen Fülle von Wesen entfalten muss, weil jede Idee eine irdische Entsprechung hat, die zumindest potenziell vorhanden ist und nun vom Menschen zu entdecken ist. Daraus folgte eine Pflicht zur Erforschung und Entschlüsselung der Natur und in weiterer Folge führte diese Idealisierung einer Mannigfaltigkeit zu einer Forderung nach bewusster Nachahmung und sogar Vermehrung der Fülle der Natur.[6] Die Problematisierung dieser Mannigfaltigkeit im Sinne einer ökologischen Integration in die Welt wird erst in der heutigen Zeit durch Bruno Latour vorgenommen. Der Pragmatismus eines Bacon, der über viele Jahre höchste Ämter in England ausübte, konnte auf der Grundlage dieser Neueinschätzung der Natur, die nun den Menschen in ihren Mittelpunkt gestellt hatte, ein neues Konzept zur Erforschung der Natur entwickeln, um ihr die Geheimnisse zu entlocken und sie damit dem Wohl des Menschen zugänglich zu machen. Auch die Realisierung dieser Naturauffassung bedurfte einer utopischen Formulierung, um eine Verbreitung der Ideen zu fördern.

Francis Bacons „New Atlantis“. Ein Forschungscluster im frühen siebzehnten Jahrhundert und die Erfindung der Naturpolitik

Die entscheidendste und wirksamste Utopie stellt Francis Bacons (1561-1626) New Atlantis dar, obwohl dieses Werk im Zusammenhang mit der Stadtforschung kaum erwähnt wird, da die städtischen Auswirkungen eher indirekt und weniger vordergründig oder spektakulär sind. Tatsächlich aber ist diese Utopie für die moderne Gegenwart mehr bestimmend als alle anderen. Denn Bacon entwirft das Bild einer Gesellschaft, die dadurch charakterisiert ist, dass sie durch eine Umwandlung der Natur durch wissenschaftliche Erkenntnis ihre Existenz neu bestimmt und die gesamte gesellschaftliche Praxis danach ausrichtet. New Atlantis ist eine Insel, die die Seefahrer nicht durch eigene Leistung, sondern durch Glück nach einem schweren Sturm erreichen. New Atlantis ist zweifellos nach dem platonischen Mythos benannt, stellt aber kein versunkenes Reich dar, sondern ist ein Ideal der Zukunft; und die Reisenden werden von der Insel entlassen um ihre Erfahrungen in aller Welt zu verkünden. Der auf der Insel gelegene Staat nennt sich Bensalem und dessen interessanteste Institution ist die Gesellschaft des Hauses Salomon, die auch das College of the Six Days Work genannt wird, ein Orden, der von einem Verfassungsstifter des Landes Salomona eingerichtet wurde. Solon und Salomona ist übrigens eine Namenskreuzung aus dem athenischen Staatsmann Solon und dem weisen Fürsten der Juden, Salomon. „Der Zweck unserer Gründung ist die Erkenntnis der Ursachen und Bewegungen sowie der verborgenen Kräfte in der Natur, und die Erweiterung der Grenzen der menschlichen Herrschaft bis an die Grenzen des überhaupt Möglichen.“[7] Der Tätigkeitsbereich des Hauses Salomon ist primär auf das Wohlergehen des eigenen Staates Bensalem bezogen, wenngleich auch universelle Ziele angegeben werden.

Der für die Geschichte der Urbanität und die Stadtforschung faszinierende Umstand besteht nun in der Darstellung der über zwanzig Forschungseinrichtungen, die von diesem Autor des frühen siebzehnten Jahrhunderts beschrieben worden sind.[8] Besonders eindrucksvoll sind die unterirdischen Labors, die bis zu einer Tiefe von 500 m in die Berge hineingetrieben werden, um dort Materialforschung für künstliche Stoffe wie Dünger und Treibstoffe zu betreiben, während Forschungstürme, die bis zu 800 m hoch sind, auf den Bergen zum Zweck der Meteorologie und Astronomie errichtet werden. Andere Anlagen wie künstliche Strömungen und Wasserfälle, Brunnen und Quellen sowie eine mechanische Windanlage dienen der Material-, Lebensmittel- und Strömungsforschung, der Meeresentsalzung und medizinischen Forschung. Großraumlabors simulieren die Bedingungen für Wetterkunde und künstlichen Schnee oder fliegende Wesen. Weiters gibt es Gesundheitslabors, Chambers of Health, und medizinische Bäder, Baumschulen, zoologische Gärten und umfassende Tierzucht, ernährungswissenschaftliche Labors für Brauereien, Bäckereien etc., Geschmackslabors, optische Werkstätten, die alles über Licht untersuchen, ebenso wie akustische Werkstätten, die von akustischen Fernleitungen bis zur Tiersprache alles erforschen, mechanische Werkstätten für Triebwerke, Kriegsgerät, Flugzeuge, U-Boote, Roboter und Automaten, mathematische Institute und Betrugslabors (Labors für Sinnestäuschungen), die den Betrug in der Wissenschaft untersuchten. „Wir haben allen Brüdern unter Geld- und Ehrenstrafen untersagt, etwas Natürliches durch künstliche Zurüstung als wunderbar vorzuführen, sondern rein wie es ist und ohne jeden Schein einer Wunderhaftigkeit.“[9] Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Verwendung des Begriffes „natürlich“ für etwas Technisches, was den Bedeutungswandel unterstreicht und zugleich das Künstliche, das eigentliche Technische als Betrug qualifiziert.
Äußerst interessant ist die Organisation des Hauses Salomon. So gibt es zwölf Händler des Lichts, die aus fremden Ländern Bücher und Experimentalanordnungen heimbringen, eine Art von Betriebsspionage, weiters gibt es drei Depredators, Beutesammler, die alle Versuche, die es in Büchern gibt, sammeln, drei Mysterymen, die ebenfalls Experimente sammeln, drei Pioneers or Miners probieren neue Experimente aus. Dann gibt es Compilers, die zusammenfügen, drei Dowdrymen or Benefactors, Wohltäter, die die Auswirkungen auf die tägliche Praxis beurteilen, drei Lamps, die die Arbeiten begutachten, und drei Interpreters of Nature, die die bisherigen Entdeckungen zusammenfassen und in Axiome und Aphorismen fassen.[10]

Faszinierend ist die Aktualität dieser Utopie und die Beschreibung aller Forschungsorganisationen, die auch heute noch volle Geltung hat. Für Bacon benötigen Ideen einen Beweis ihrer Durchführbarkeit, sonst werden sie als mangelhaft abgelehnt. Jeder Erkenntnisprozess wird in einer gleichzeitigen Arbeitsorganisation begleitet, um die Nutzenfunktion zu gewährleisten. Forschung muss ihren Gebrauchswert sofort unter Beweis stellen, um politisch verwertbar zu sein.

Die Utopie bricht nach dem Bericht über das Haus Salomon gleich ab und die Gäste werden entlassen. Insgesamt handelt es sich vordergründig um keine radikale Utopie, da keine hohen Anforderungen an die Menschen gestellt werden. Keine Gleichheitsideale, keine Umverteilung von Land und Gut, keine Verherrlichung des einfachen Lebens, keine Unterwerfung unter eine despotische Gerechtigkeit. Es gibt dafür eine Quelle der Utopie, die üppig fließt: Fortschritt durch Wissenschaft und Technik. Anstelle einer Umverteilung knapper Güter tritt die Herstellung neuer Güter, deren Verteilung auch nach sozialen Gesichtspunkten erfolgen kann. In Bensalem wird die Integration ins Gemeinwesen hoch eingeschätzt, es werden angenehme und sichere Zustände garantiert, ohne schwer erfüllbare soziale oder psychologische Forderungen an die Leute zu stellen. Entscheidend ist die wissenschaftliche Politik des Hauses Salomon, da zu jener Zeit in England Wissenschaft und Technik noch kleine Nebenrollen in der Gesellschaft spielten. Somit kann man Bacon als den Erfinder der systematischen Naturpolitik bezeichnen.

Es dauerte noch zwei Jahrhunderte, ehe die Konsequenzen des wissenschaftlichen Fortschrittes ihre volle Auswirkung auf die Gesellschaft, die städtische Organisation und Formation entfaltete und nun gerade wegen der nicht eingetretenen Erwartungen zu einer großen Welle der Formulierung neuer Utopien führte. Die utilitaristische Vernunft führte zu einer enormen Steigerung der Produktion, konnte aber die damit verbundenen sozialen Folgen nicht hinreichend bewältigen.

Zwei Wege der sozialen Repräsentation der Natur. Die Abwendung von der instrumentellen Naturauffassung und die Suche nach der inneren Natur

Paradoxerweise befördert gerade diese Wende des protestantischen Christentums zur Fülle der Welt den Atheismus. Denn gerade aufgrund der nicht immer einsichtigen Bestätigung dieses Umstandes einer Fülle des Lebens bzw. der Meinung, dass sich Gott eben doch nicht herablässt in seiner Sorge um das Wohlergehen der Menschen, kommen atheistische Tendenzen auf, die aber ihren Bezugspunkt ebenfalls in der Natur suchen. Man glaubte einfach, dass gewisse Lebensgüter leichter umsetzbar wären, wenn sie nicht mit theistischen Quellen in Zusammenhang stünden. So verbanden sich einerseits die desengagierten Kräfte der Vernunft weiterhin mit einer instrumentellen Deutung der Natur und andrerseits erfolgte eine neue Konzentration auf die Kräfte der schöpferischen Phantasie, die nun mit einem Gefühl der Natur als innerer Moralquelle einherging.[11] Damit waren nun zwei Entwicklungen beobachtbar: Einerseits die instrumentelle Beziehung zur Natur mit der Konsequenz ihrer Verwertung und Ausbeutung, weil man diese als neutralen, beliebig formbaren Stoff betrachtete, der nur auf seine Umgestaltung wartete, um mit diesen neuen Formen das universelle Glück zu erzeugen, das ja zu Beginn der instrumentellen Aneignung durchaus als zentrales Motiv firmierte. Und andrerseits das riesige Feld der Natur als innere Moralquelle, das direkt zur Entstehung der Romantik führte. Die instrumentelle Einstellung führte zu einer Objektivierung der Natur, wo sie nur als neutrale Ordnung der Dinge gesehen wird. Durch diese Objektivierung wurde eine moralische Unabhängigkeit und Distanz im Umgang mit ihr erzeugt, die damit eine Trennung der Menschen von dem inneren und äußeren Elan der Natur bewirkte. Denn nach Meinung mancher Zeitgenossen fehlte dem Leben der instrumentellen Vernunft die Kraft, das Pulsierende und die Freude, die von der Verbindung mit dem Elan der Natur herrühren kann.[12] Die instrumentale Haltung verhindere dies geradezu und hemme die Öffnung des Menschen zur Natur.

Daher strebte die Romantik nach einer Wiedervereinigung, einer Rückführung zur Verbindung mit der Natur, einer Versöhnung der Spaltung zwischen Vernunft und Empfinden, einer Überwindung der Trennung zwischen den Menschen und nach der Schaffung von Gemeinschaftsbeziehungen.[13] Obwohl die romantischen Naturreligionen ausgestorben waren, war die Idee der Offenheit für die Natur im Menschen immer noch äußerst wirksam. Dieser Kampf zwischen der instrumentellen Vernunft und der Naturauffassung im Sinne einer Tendenz zur Wiederentdeckung unserer Offenheit für die Natur wurde nun für die moderne Kultur bestimmend und prägte seit dem Beginn der Industrialisierung auch ein neues Wunschbild der Stadt, das zwar von der Notwendigkeit der Industrialisierung bestimmt war, aber auch der inneren Natur des Menschen entsprechen sollte.

Die Stadt, ursprünglich als ein Teil des Makrokosmos gesehen, später in der mittelalterlichen Stadt in sakrale und profane Zonen geteilt, danach von den Herrschern als Raum der Machtrepräsentation gedeutet, wurde seit der Aufklärung zu einem Ort der Manifestation unterschiedlicher Naturinterpretationen, wo die Natur – in der Diktion des Utilitarismus - auf ihre Eignung zum gegenseitigen Nutzen der Menschen hin untersucht wird.

Daraus resultiert für die Stadt aufgrund der instrumentellen Beziehung zur Natur ein Prozess der Industrialisierung, die auf dem neu organisierten Prozess der Arbeitsteilung basiert, wie er durch die englischen Ökonomen, vor allem Adam Smith, propagiert wurde. Als Konsequenzen sind soziale Probleme und der ungleich verteilte gesellschaftliche Reichtum bekannt , weniger denkt man an die enorme Fülle neuer Dinge jeglicher Art, die in die Stadt Einzug hielten und nun diese aus der Position der Ökologie völlig veränderten. Die Natur war nun ein Außen, deren Stoff unentwegt durch Verwandlung in die Stadt eingeführt wurde.

War sie früher der Ort eines Gottes, wurde sie nun ein Ort der Natur oder in der Sprache Bruno Latours ein Ort der neu rekrutierten nicht-menschlichen Lebewesen, aber auch der Artefakte, mit denen man nun gemeinsam leben muss. Nach Latour bedarf es im Sinne einer politischen Ökonomie der Zukunft ohnehin einer Repräsentation der Assoziationen zwischen Menschen und nicht-menschlichen Wesen durch ein explizites Verfahren, damit sich entscheiden lässt, wodurch sie in einer gemeinsamen Welt versammelt und wodurch sie vereint werden. Die Stadt könnte man dann mit Latour als Pluriversum bezeichnen.[14]

Die instrumentelle Vernunft hat durch ihre Versuche einer Naturbeherrschung die Ökologie der Stadt schwerwiegend verändert. Damit sind nicht nur die von der Industrialisierung verursachten Schäden gemeint, sondern auch die Eingriffe in das Gefüge der sozialen Ordnung. Das Aufkommen der proletarischen Schichten, die Bedrohung der städtischen Handwerker durch Industrie und Handel, die Landflucht, alles zählt zu den Auswirkungen der Naturpolitik.

Politischer Messianismus als Utopie

Aber – um wieder auf die Aufklärung zurückzukommen – man darf nicht vergessen, dass die Bewältigung und Beherrschung der Natur auch ein Zeichen der Freiheit des Menschen ist, das heißt, dass die Vernunft in einen Gegensatz zur Natur geraten muss, wenn sie ihre Autonomie bewahren will. Als Gefahr sahen die Denker der Aufklärung hier ein völliges Aufgehen und Versinken in die Einheit mit der Natur, verbunden mit einem völligen Aufgeben der Autonomie. Daher sprach Schiller in seiner ästhetischen Erziehung des Menschen, dass der Mensch den Bruch zwischen Vernunft und Natur herbeiführen muss, um sein Vermögen des rationalen Denkens und der Abstraktion zu entfalten.[15] Der Mensch könne aber auf einer höheren Stufe zur Natur zurückkehren, nachdem er eine Synthese aus Vernunft und Begehren hergestellt hat. Die ursprünglich paradiesische Einheit von Natur und Vernunft geht getrennte Wege und gelangt schließlich doch wieder zu einer versöhnenden Erfüllung. Dieses Bild liegt der christlichen Erlösungsgeschichte zugrunde, wo nach der Spaltung der Ureinheit zwischen Vernunft und Empfinden und der Spaltung zwischen den Menschen es nun auf einer dritten höheren Stufe wieder zur Versöhnung kommt, unter Mitnahme der Vorteile der zweiten spaltungsreichen Periode, nämlich der durch Vernunft erworbenen Freiheit. Dieses Element des jüdisch-christlichen Erbes wurde im 18. Jahrhundert in Gestalt des politischen Messianismus, wie am Beispiel der französischen Revolution zu beobachten ist, wieder aktuell. Seine Wurzel liegt im Werk des Joachim von Fiore, der den Anbruch dieses dritten Zeitalters vorhersagte, das Zeitalter des Geistes, der Spiritualität, das nach dem Zeitalter des Vaters (Altes Testament) und dem Zeitalter des Sohnes (Neues Testament) anbrechen würde.

Wir verstehen nun besser, warum Ernst Bloch diesen Autor als den einzigen ernst zu nehmenden Utopisten akzeptieren konnte.[16] Dieser Messianismus ist eng mit der Geschichte der Utopien und protestantischer Sekten verbunden, wobei dem Buch Daniels und seiner Weissagung einer Herrschaft Gottes nach jener der weltlichen Reiche eine bedeutende Rolle zukommt.[17] Aber es gibt ebenso säkularisierte Tendenzen, wie sie im Fall der französischen Revolution erkennbar werden, die zu unmittelbaren Erwartungen eines dramatischen Wandels führen. Über Hegel wird dieses Gedankengut von Marx aufgenommen und fließt in seine Theorie der Entfremdung ein. Messianismus und der in seiner Folge auftretende Utopismus sind also nicht auf bestimmte Weltanschauungen geprägt, sondern können sowohl im Gefolge religiöser als auch materialistischer Ideologien auftreten.

Rousseau. Die innere Natur

Man kann also erkennen, dass die erste Ablösung der theistischen Lehre durch einen von der Vernunft geleiteten Utilitarismus eine instrumentelle Haltung beförderte, die einen Dualismus von Ratio und Empfinden, und wenn man so will, von Geist und Körper nach sich zog und gerade in einem Abgeschnittenwerden vom Elan der Natur gipfelte. Auch wenn sich der Utilitarismus eines humanen Menschenbildes befleißigte und die Natur als einen riesigen Bereich von füreinander bestehenden Zwecken, die im Dienste des Menschen stehen, betrachtete, führte dies zu einer unter dem Primat der Ökonomie stehenden Gesellschaft, die der inneren Gefühlsnatur des Menschen keine Beachtung schenkte. Die utopischen Pläne und Stadtgründungen konnten nicht mehr in der Sprache des Utilitarismus kommunizieren, sondern waren auf die Herstellung neuer Bilder gelingender Gemeinschaft angewiesen, die nun auch auf ein neues Bild der Natur verweisen sollten. Dies ist der Zeitpunkt, wo die Stadt und die Natur in eine neue Verbindung treten, wo die Stadt als grüne Stadt gedacht wird.

Daher ist dies der Moment, wo Rousseau auf den Plan tritt und auf eine neue Dimension der Natur hinweist, die mit den weitreichendsten kulturellen Konsequenzen verbunden ist, die von ihm selbst kaum intendiert waren. Rousseau hatte auch nie daran gedacht eine grüne Stadt zu erfinden, er war immer eher Stadtflüchter und auch gelegentlich Stadthasser, aber seine spezifische Sicht der Natur als einem neuen Medium der Reinheit, Transparenz und Offenheit führte zu einer späteren Übertragung dieser Eigenschaften und seines Trägers in die Idealstadt.

Rousseaus Neuerung bestand darin, dass die neue Ethik im Sinne einer Nacheiferung der Natur das Gute nun durch die Wendung nach Innen ebendort zu finden glaubt, indem die eigenen Neigungen und Empfindungen zu Rate gezogen werden. Nach Rousseau besteht das Glück darin, dass wir im Einklang mit unseren Gefühlen, der „inneren Stimme“ leben, wobei er als Protestant sich hier auch in der alten christlichen Tradition des Augustinus bewegt, wie durch die Wahl des Titels der Selbstbekenntnisse programmatisch vorgeführt wird. Diese neue Philosophie des Empfindens hat auch kulturelle Auswirkungen, indem das damit verbundene Naturgefühl zu einer mächtigen Kraft wird, das spezifische Naturszenerien nun als Zeichen der natürlichen Güte und der Freiheit sieht. In erster Linie ist hier Die Neue Héloise zu nennen, die als nicht intendierten Nebeneffekt den Tourismus in die Schweizer Berge initiiert hat.

Rousseau. Natur als Medium von Transparenz und Klarheit

Die Beschreibung des Walliser Gebirges zu Beginn schildert die Landschaft einer anderen Welt, die von einer magischen Transparenz gekennzeichnet ist. „Das alles stellt den Augen eine unaussprechliche Mischung dar, deren Schönheit noch durch der Luft Dünne vermehrt wird; die Entfernungen scheinen kleiner als auf den Ebenen, wo der Luft Dicke den Erdboden in einen Schleier hüllt, der Horizont zeigt den Augen mehr Gegenstände als er zu fassen können scheint; kurz, das Schauspiel hat etwas Zauberisches, Übernatürliches, das Geist und Sinne entzückt; man vergisst alles, vergisst sich selbst, und weiß nicht mehr, wo man ist.“[18]

Transparenz erzeugt hier einen Hauch von Magie, indem alles in lichte Klarheit getaucht wird, und durch das Erlebnis der vollkommenen Reinheit der Landschaft beginnen die Grenzen des Individuums zu schwinden um sich in einer Einheit mit der Welt zu fühlen.

„Stellen Sie sich eine ideale Welt vor, die der unseren ganz ähnlich und dennoch davon verschieden ist. Die Natur ist daselbst eben dieselbe, wie sie auf unserer Erde ist, allein ihre Ökonomie ist merklicher, ihre Ordnung ist auffallender und deren Anblick bewunderungswürdiger; die Formen sind zierlicher, die Farben lebhafter, die Gerüche angenehmer und alle Geschöpfe anziehender. Die ganze Natur ist daselbst so schön, dass, indem durch ihre Betrachtung die Seelen mit Liebe für ein so schönes Gemälde entzündet werden, sie ihnen nebst dem Verlangen, zu einem so schönen System das ihrige beizutragen, die Furcht einflößt, seine Harmonie zu stören; daraus entsteht eine außerordentliche Reizbarkeit, welche diejenigen, die damit beglückt sind, einen unmittelbaren Genuß gewährt, der den Herzen unbekannt ist, die durch dieselben Betrachtungen nicht belebt worden sind.“[19] Was Rousseau begehrt, ist „ein durchsichtiger Raum, worin die Seele Transparenz der Luft annimmt.“[20] „Nachdem ich in den Wolken einhergegangen war, erreichte ich eine heitere Gegend, wo man im Sommer Donner und Sturm unter sich entstehen sieht… Hier entdeckte ich auf merkliche Art in der Reinheit der Luft, in der ich mich befand, die wahre Ursache der Veränderung meiner Gemütsverfassung und der Rückkehr jenes inneren, so lange verlorenen Friedens.“[21]

So schreibt Jean Starobinsky: „Diese klarere Tönung der Luft ist nicht dem Gebirge oder einer anderen Landschaft vorbehalten, sie sind eine Eigenschaft des Glücks, eine Metamorphose, die die Erhebung der Seele in die sie umgebende Welt zu projizieren vermag.“[22]

„In ihrer Gesamtheit erscheint uns Die Neue Héloise wie ein Wachtraum, in dem Rousseau dem imaginären Ruf einer Klarheit folgt, die er in der wirklichen Welt und in der Menschengesellschaft nicht mehr findet: ein reiner Himmel, offenere Herzen, ein gleichzeitig intensiveres und durchsichtigeres Universum.“[23] Die für uns relevante Schlussfolgerung aus diesen Zitaten besteht darin, dass wir den ästhetischen Naturbegriff von Rousseau klarer fassen können. Es handelt sich hier noch um einen präromantischen Begriff, der der Natur selbst noch keinen Ausdruck zubilligt, wie etwa Natur als Symbol, wo ein Allgemeines durch ein Besonderes ausgedrückt wird, aber auf was sollte denn Natur außerhalb sich selbst verweisen, wenn sie auf alle theistischen Bezüge verzichten musste. Eher noch besteht eine Ähnlichkeit zu den modernen Begriffen der Atmosphäre, wie sie etwa durch eine drückende Gewitterstimmung oder durch einen heiteren Garten gekennzeichnet sind. Rousseau sieht in der Natur eher Eigenschaften, die er als Projektionen eingebracht hat und die sich insbesondere durch Klarheit, Transparenz, Offenheit und Durchsichtigkeit auszeichnen. Dieses Naturbild steht in völligem Gegensatz zu den späteren romantischen Naturvorstellungen eines tiefen, geheimnisvollen Waldes oder eines gewaltigen Wassers. Es ist eigentlich auch nur in Kontext zu gewissermaßen utopischen Vorstellungen der Menschheit und der Gesellschaft hervorgebracht worden und dem Charakter nach daher auch eine Natur, die nach ihren utopischen Eigenschaften hin beschrieben wurde. Es ist daher auch kein Zufall, dass diese Elemente einer transparenten Natur sich so zwanglos mit den Raumgestaltungen und Festen der Französischen Revolution[24] und den späteren Architekturgestaltungen der Moderne zusammenspannen ließen, da es sich um eine „ehrliche Natur“, die ihre Erschlossenheit unter Beweis stellt, handelte.

Natur ist kein Mittel zur mimetischen Einübung in komplexe ornamentale Formen, kein Ausleben der Phantasie in die Tiefen der Seele, wie sie etwa später anhand der Romantik erlebt wurde, sondern etwas das auf Erweiterung, Auflösung der Geheimnisse durch Transparenz und ein Zerreißen der Nebelschleier aus ist.

Diese ästhetische Naturvorstellung, die eine sehr raumbezogene und raumerweiternde Komponente aufweist, befähigt sie zum Einsatz in den Bereich des Urbanen, der im 19. Jahrhundert vielfach selbst zu einer Sphäre des Opaken und der wilden Ballung gemacht wurde. Wahrscheinlich hätte ohne diesen Naturbegriff, der die morphologischen Möglichkeiten eines solchen transparenten Raums überhaupt erst formulierte, gar keine moderne Architektur entstehen können.

Ausblick auf die Gartenstadt

Der neue Typus von utopischen Idealstädten war nun auf die Aufhebung der bisherigen Trennung von Stadt und Land ausgerichtet und versuchte eine „neue Art von Siedlung zu schaffen, die in wohldurchdachten Ausmaßen ein Zwischending zwischen Stadt und einem großen Bauernhof darstellt: klein genug, um einen engen Zusammenhang aller Einzelbereiche zu gewährleisten, aber doch groß genug, um ein ausgefülltes und von außen unabhängiges Wirtschafts- und Kulturleben zu ermöglichen.“[25] Das Grundmodell beruhte auf der Phalanstère Fouriers, die ein Zusammenleben durch genaue Kenntnis der Natur des Menschen und seiner Bedürfnisse ermöglichen sollte und wo sich im Sinne einer utilitaristischen Utopie alle persönlichen Zwecke zu einem harmonischen Ganzen vereinigen ließen. Robert Owen, ein englischer Industrieller und Philantrop, führte zunächst eine Reihe von sozialen Neuerungen wie etwa das Verbot von Kinderarbeit in seiner eigenen Spinnerei in New Lanark in Schottland ein und plante eine Reihe von Siedlungen, die er in Amerika wie z.B. in New Harmony in Indiana errichten wollte, die aber letztlich an der Realisierung scheiterten. Die berühmteste Industrieanlage befand sich in einer Vorstadt von Chicago und gehörte zur Pullman Company, die Autos und Fahrzeuge herstellte.

Eine besondere Vertiefung in die Lehre Rousseaus ist bei Ildefonso Cerda feststellbar. Fortsetzung folgt.

Fußnoten


  1. Weber, Max (1978): Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. In: Weber, Max: Die protestantische Ethik. Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Bd. 1. Tübingen: Mohr, S.174-179. ↩︎

  2. Cotton, John; zit. nach: Morgan, Edmund Sears (1966): The Puritan Family. New York: Harper & Row, S. 42. ↩︎

  3. Taylor, Charles (1996): Quellen des Selbst. Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 557. ↩︎

  4. Taylor, a.a.O., S. 394. ↩︎

  5. Lovejoy, Arthur O. (1993): Große Kette der Wesen. Frankfurt/Main: Suhrkamp. ↩︎

  6. Lovejoy, a.a.O., S. 368. ↩︎

  7. Bacon, Francis (1857-74): The works of Francis Bacon. Coll and ed. by Spedding, James, Ellis, Robert L. & Heath, Douglas D. Bd. 3. [London: 1859]. Stuttgart: Faksimile-Nachdruck Fromann Verlag, 1961, S. 156; zit. nach Krohn, Wolfgang (1987): Francis Bacon. München: Beck, S. 173. ↩︎

  8. siehe Bacon, zit. nach Krohn, a.a.O., S. 174. ↩︎

  9. siehe Bacon, zit. nach Krohn, a.a.O., S. 175. ↩︎

  10. Krohn, a.a.O., S. 176. ↩︎

  11. Taylor, a.a.O., S. 565. ↩︎

  12. Taylor, a.a.O., S. 669. ↩︎

  13. Taylor, a.a.O., S. 668. ↩︎

  14. Latour, Bruno (2001): Das Parlament der Dinge. Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 59. ↩︎

  15. Taylor, a.a.O., S. 671. ↩︎

  16. siehe Russo, Manfred (2007): Geschichte der Urbanität. Utopie I. In: dérive, 27 (April-Juni ). ↩︎

  17. Taylor, a.a.O., S. 673. ↩︎

  18. Rousseau, Jean Jacques (1978): Die Neue Héloise. Werke in vier Bänden. Bd. I. München: Winkler, S. 78. ↩︎

  19. Rousseau, Jean Jacques (1978): Gespräche. Schriften in zwei Bänden. Bd. I. München: Hanser, S. 263. ↩︎

  20. Starobinski, Jean (1993): Rousseau. Eine Welt von Widerständen. Frankfurt/Main: Fischer TB, S. 125. ↩︎

  21. Rousseau, Jean Jacques: An den Marquis Mirabeau, 31. Jan 1767; zit. nach Starobinski, a.a.O., S. 126. ↩︎

  22. Starobinski, a.a.O., S. 126. ↩︎

  23. Starobinski, a.a.O., S. 127. ↩︎

  24. siehe Russo, Manfred (2003): Geschichte der Urbanität. Revolutionsraum. In: dérive, 13 (Oktober-Dezember). ↩︎

  25. Benevolo, Leonardo (1990): Die Geschichte der Stadt. Frankfurt, NewYork: Campus, S. 805. ↩︎


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