» Texte / Bildnis einer vergletscherten Gesellschaft

Silvester Kreil

Studierte an der Akademie der bildenden Künste Wien - Institut für Kunst und Architektur (MArch 2020). Er interessiert sich für die Parameter der räumlichen Verteilung, die verborgenen politischen und finanziellen Prozesse der Architekturproduktion und alternative Ansätze. Er arbeitet ua. in den Bereichen: Architekturtheorie, Architekturkonzeption, Dokumentation, raumgreifende Performances/Installationen und Stadtforschung.


In der Tradition eines Werner Herzog, der bei seinem vermeintlichen Porträt der Antarktis Encounters at the end of the world diese vielmehr als Projektionsfläche nutzt, verwendet auch die aktuelle Ausstellung in der Kunsthalle Wien die Antarktis als Verhandlungsraum aktueller Gesellschaftszustände. Die KuratorInnen Vanessa Joan Müller und Nicolaus Schafhausen setzen bei Antarktika auf eine Interpretation der Antarktis als Sinnbild für die »erstarren lassende soziale Kälte«. Die ausgestellten Kunstwerke fungieren dabei als Druckmesser einer zeitgenössischen Wahrnehmung, die die Abkühlung in einer von Konsum geprägten Gesellschaft präzise beschreiben wollen. Besonders die Entfremdung als markanter Zustand der Moderne wird in diesem Kontext zu einem wichtigen Thema. Die historischen Turningpoints, von der Aufklärung über die Industrialisierung bis hin zur Individualisierung in der heutigen Zeit, dienen als Ausgangslage, um eine scheinbar omnipräsente Störung im Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt festzumachen.
Die Auswahl der Werke versammelt insbesondere jüngere Positionen der Gegenwartskunst mit einem Schwerpunkt auf Fotografie und Video. Konsumkultur und digitale Optimierung werden in fast allen Beiträgen thematisch aufgegriffen. So porträtiert beispielsweise Buck Ellison in seinen Fotografien die Glätte und Sauberkeit einer »perfekten« Familie. Dass die Inszenierung von Perfektion oftmals auch Unbehagen hervorrufen kann, zeigt die Arbeit von Eva Giolo. »What happens to all the things that nobody sees?« fragt sie uns zu Beginn ihrer Videoarbeit. »They grow in the dark« lautet ihre Schlussfolgerung. Ein Versuch, ein Bild zu rekonstruieren, das die Künstlerin selbst nie gesehen hat.
In Jan Hoefts I feel you geht es um Normen und deren Einfluss auf individuelle Bedürfnisse sowie Vermarktung als Werkzeug zur Homogenisierung der Gesellschaft. In diesem Kontext verortet er Missverhältnisse im Zusammenhang von baulichen Strukturen und sozialem Kontext. In der begleitenden Programmbroschüre fragt er sich und uns: »Ich sehe das Foto im Prospekt, das den perfekten Bewohner zeigt. Kann ich zu diesem Menschen werden? Wie kollidiert meine Vergangenheit mit den Lebensvisionen des Kapitalismus?«
Golden Boys ist der Titel von Jana Schulz’ sehenswertem Beitrag, der sich mit der Subkultur des Boxens an ökonomisch vernachlässigten Orten auseinandersetzt. Dort sind Sportklubs oft ein wichtiger Gegenpol zum sonstigen Umfeld. Auch Ingel Vaikla untersucht in Roosenberg eine ganz spezielle Lebensumgebung. Ihr Videoessay begleitet die letzten vier BewohnerInnen eines 1975 von dem Benediktinermönch und Architekten Hans van der Laan entworfenen Klosters. Vaiklas ruhige, beinahe statischen Bildeinstellungen fangen die Funktionalität der Räumlichkeiten und die konzeptuelle Ästhetik dieses modernistischen Baus ein. Die dokumentierten Routinen der BewohnerInnen lassen eine fesselnde Momentaufnahme entstehen, die gleichermaßen Harmonie und Unbehagen erzeugt.
Bei fast allen Exponaten ist eine kapitalismuskritische Note im Sinne der Marx’schen Entfremdungstheorie zu erkennen. Die Thematisierung von Entfremdung ist immer auch die Thematisierung der modernen Gesellschaft und ihrer neoliberalen Konfiguration. Freud und die Psychoanalyse dürfen dabei genau so wenig fehlen wie der Einsatz der Dystopie als konstruierter und schockierender Moment. Schon der russische Schriftsteller Waleri Brjussow erkor die Antarktis zum Schauplatz einer dystopischen Gesellschaftsvision. In seiner 1905 veröffentlichten Kurzgeschichte Die Republik des Südkreuzes fungiert sie als Sinnbild für das Unbekannte und die Beklommenheit. Die Ausstellung schließt sich also einer langen Tradition an. Leider gelingt es zu keinem Moment, die ausgestellten Exponate so gegenüberzustellen, dass sich eine übergeordnete Energie entfachen kann, es bleibt eine Präsentation unterschiedlich interessanter Einzelpositionen. Die räumliche Anordnung der Arbeiten, welche immer wieder akustische Überlagerungen produziert, ist diesbezüglich sicher auch nicht hilfreich. Dennoch, die individuelle Stärke einiger Beiträge macht einen Besuch von Antarktika durchaus lohnenswert.


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