Verschwundene Attraktion - wieder ausgegraben von Peter Payer
Besprechung von »Hungerkünstler. Eine verschwundene Attraktion« von Peter PayerPeter Payer
Hungerkünstler
Eine verschwundene Attraktion
Wien 2002 (Sonderzahl)
114 S., Euro 14,50
Peter Payer hat fast schon einen Fixplatz in dérive. Der Historiker und Stadtforscher ist mittlerweile bekannt dafür, dass er sich mit längst in Vergessenheit geratenen, aus unserer heutigen Sicht manchmal sogar skurril wirkenden Stadtphänomenen beschäftigt. Diesmal erfreut er uns mit einem kleinen, aber feinen Büchlein mit dem Titel »Hungerkünstler. Eine verschwundene Attraktion.«
Das Schauhungern war eine Modeerscheinung, die Ende des 19. Jahrhundert in Amerika aufkam und vor dem Ersten Weltkrieg in Europa wieder ihr Ende fand. Es könnte als »Big Brother« der Prä-Fernseh-Zeit bezeichnet werden. Das relativ einfache Konzept - eine Person hungert eine meist vorher angekündigte Zeit unter Beaufsichtigung an einem öffentlich zugänglichen Ort, und das Publikum bezahlt Eintritt dafür - entstand 1880 in Amerika, als der Arzt Henry Tanner eine Wette abschloss. Er war der festen Überzeugung, dass eine befristete Nahrungsenthaltung die richtige Behandlung für zahlreiche Leiden sei. »Nun ging es ihm darum, die Kraft des menschlichen Willens zu demonstrieren und den Materialisten zu beweisen, dass es außer Sauerstoff, Wasserstoff und Kohlensäure noch etwas anderes im menschlichen Hirn gibt.« Tanner hatte großen, natürlich auch finanziellen Erfolg mit seiner Hungerkur. Die Zeitungen berichteten täglich, tausende BesucherInnen kamen. In Europa hungerte sich Giovani Succi aus der Provinz Emilia Romagna in einer 30-tägigen Fastenkur in Mailand zur Berühmtheit. Auch er erzielte beträchtliche finanzielle Erfolge und begab sich auf eine Europatournee, um sich selber und Tanner, der vierzig Tage gehungert hatte, zu überbieten - was ihm auch gelang. Das war nun der Startschuss zum Wettkampf um immer neue Rekorde. Doch je mehr Hungerkünstler auftraten, desto geringer wurde das Publikums-Interesse. Fred Ellen, der letzte, dem von der Wiener Polizei das Schauhungern genehmigte wurde, musste schon 46 Tage hungern, um überhaupt noch ein wenig Aufsehen zu erregen. Mittlerweile hatte sich das Schauhungern professionalisiert. Manager und Werbekosten mussten bezahlt werden. Am Ende stieg er nur mit einem äußerst geringen Gewinn aus.
Interessant ist natürlich auch noch, wie und wo gehungert wurde. Tanner fastete in der Clarendon Hall in New York, Francisco Cetti in Castans Panoptikum in Berlin, Giovanni Succi im noblen Hotel Royal in der Singerstraße in Wien - alle unter dem Deckmantel der Wissenschaft, überwacht von Komitees denen vor allem hochrangige Ärzte angehörten. Den ZuschauerInnen wurden zur Befriedigung der Sensationslust täglich Puls, Atmung, Temperatur, ursprüngliches und aktuelles Gewicht, Menge des getrunkenen Wassers und Allgemeinzustand bekannt gegeben. Ausführlichere und wissenschaftlich fundierte Studien wurden in Fachzeitschriften veröffentlicht.
Als nach und nach das Interesse sank und auch bekannt wurde, dass es nicht immer ehrlich zuging, verschärften sich die Rahmenbedingungen. 1905 ließen sich Herr Sacco und Frau Schenk, die im direkten Wettbewerb gegen einander in zwei verschiedenen Prater Kaffeehäusern antraten, in Glaskästen einmauern. Während das Publikum aß und trank konnte es die Hungernden bestaunen.
Als Quelle diente Peter Payer neben einer medizinisch-psychologischen orientierten Studie zur Kulturgeschichte der Essstörungen und einigen Arbeiten zur Geschichte der Schausteller im Kontext der Volksvergnügungen vor allem das »Illustri(e)rte Wiener Extrablatt«. Von 1872 bis 1928 erschien es mit enormen Auflagen, weil es populäre Themen aufgriff und sich des modernen Bildjournalismus bediente.
Nicht zuletzt durch das Heranziehen dieser Illustrierten ist Peter Payer ein netter Einblick in die Spektakelgesellschaft der vorigen Jahrhundertwende gelungen.
Peter Payer
Hungerkünstler
Eine verschwundene Attraktion
Wien 2002 (Sonderzahl)
114 S., Euro 14,50
Sonya Menschik