Tina Hedwig Kaiser


Abrupt begannen die filmischen Landschaftsbilder am zweiten Tag, nachdem der Eröffnungsfilm Entre les murs von Laurent Cantet noch kammerstückartige Konflikte einer französischen Schulklasse gezeigt hatte – gänzlich ohne einen Horizontblick zuzugestehen. Am Samstagmorgen dann in Hu-Tieh von Chang Tso-chi kam dem Viennale-Besucher die Weite abgelegener japanischer Inseln entgegen. Grüngraue feuchte Landschaften ohne Ende, die immer wieder die Nässe der See selbst auf dem wenigen Asphalt wiedergaben. Caspar David Friedrich'sche Ansichten des Meeresrandes folgten mit Unterbrechungen durch den Alltag eines Fischerdorfes und des darin herrschenden Familienkonflikts. Verlief sich der Film auch gegen Ende zunehmend in Thriller-Momenten einer Yakuza-Rachegeschichte, die romantische Landschaftsbetrachtung blieb bestehen und irritierte dabei umso mehr. Seestück auf Seestück folgte, das Meer und der Hafen des Fischerortes strukturierten jede einzelne Kadrierung. Unerträglich wurde die Landschaftszeichnung dann gegen Ende: der Protagonist sinkt niedergestochen auf dem feuchttropischen Dschungelpfad zusammen – Tausende von Schmetterlingen über ihm – und auf dem ihn gerade durchbohrenden Schwert. Sprachlos saß man da im Kinosessel. Wiedergutmachen ließ sich die Irritation, die der Film durch seine Zwiespältigkeit inmitten von Neorealismus eines Fischerortes, Yakuzadrama und Landschaftsromantik hinterließ, nur bei einer konfrontativen Pause im Wiener Schmetterlingshaus: weitaus schöner und trivialer sitzen sie da – die Schmetterlingsmassen – auf ihren Obstspeisen.

Doch die folgenden Kinolandschaften arbeiteten dann mit einer wunderbar schlichten und konsequenten Beschreibung, sowohl der Landschaft als auch konkreter und genau beobachteter Alltagstrivialitäten in ihr. In Tulpan von Sergey Dvortsevoy, einem gelernten Dokumentarfilmer, folgt die Kamera dem jungen Kasachen Asa (Askat Kuchinchirekov) auf seinen Wegen durch die heimatliche Steppe. Diese ist weit und unwirtlich, aber Asa hat zuvor bereits den Wehrdienst auf hoher See gemeistert, und so glaubt er an eine Karriere als selbstständiger Herdenbesitzer. Doch dazu, so sieht es die Tradition vor, muss er erst einmal heiraten. Doch weit und breit keine Frau, bis auf die schöne Tulpan, die ihn aber partout nicht erhören will. So bleibt Asa nur die Familie seiner Schwester und die Mitarbeit bei deren Herde. Doch selbst das Rumhängen mit dem besten Freund ist in der Steppe nicht allzu einfach – nicht zuletzt bei den Sandwinden, den vielen Neffen und Nichten und Tieren. Aber Asa will trotzdem nicht in die Stadt. Er will in der Einöde bleiben – und wie komisch die sein kann, das sieht man hier oft: ganz weit hinten am Horizont kopulierende Esel, im unteren Bildrand ein junger verlorener Hund, dazwischen der kleine Nomade auf seinem Holzpferdchen zackig und wirr vor sich hinhüpfend. Ein Bild, das so nicht komponiert sein kann, denkt man unwillkürlich. Zurück zu Asa: Spät merkt er, dass seine vermeintliche Selbstständigkeit lange keine war; als ein gebärendes Schaf seine Hilfe braucht, möchte er doch allzu gern den erfahrenen Herdenbesitzer und Mann seiner Schwester zu Hilfe rufen. Gut, dass in der Steppe der Wind so laut ist. Er wird es alleine vollbringen müssen. Danach geht es ihm besser. In sinnlicher Detailtreue und mit viel Zeit und Geduld für kleine Beobachtungen zeigt Dvortsevoy nomadisches Familienleben, ohne Exotismus, sondern mit viel Nähe zur Landschaft und dem speziellen Leben in und mit dieser nur vermeintlich unwirtlichen Weite.

Eine andere, eine patagonische Weite, und eine des eisigen Winters, hat sich Lisandro Alonso in Liverpool ausgesucht. Doch auch in dieser strandet ein Matrose: Farrel (Juan Fernandez) geht von Bord seines Containerschiffs und wandert in Richtung Einöde. Wortkarg und bei alltäglichen Handgriffen sehen wir ihn langsam in sein Heimatdorf zurückkehren. Aber es ist keine Heimkehr – dafür ist nicht nur die Landschaft zu eisig. Die verschneite Bergwelt ist in sensiblen Aufnahmen von Farbe, Licht und Details der eigentliche Protagonist – sie handelt auch an Farrel. Beinahe wäre er hier über Nacht erfroren.

Eine Landschaft der Hitze und der mediterranen Wüstenformen dagegen zeichnet Albert Serra in El cant dels ocells. Waren es in seinem letzten Film Honor de Cavalleria noch Don Quichotte und Sancho Pansa, die, in einen unendlichen Dialog bzw. in zweierlei Monologe über Gott und die Welt verstrickt, vor sich her irrten, so haben ihre Stelle nun die Heiligen Drei Könige eingenommen. Serra arbeitet hierbei weniger denn je mit der Tiefe der Landschaft, sondern er wird noch abstrakter und grafischer. Er kadriert Flächensichtweisen einer Landschaft, die doch eigentlich sehr weit ist. Die Bilder werden dergestalt zu Suchbildern. Die Protagonisten verschwinden in der Landschaft, werden nur mehr Punkte an einem flächigen Horizont, der permanent die eigene Wahrnehmung hinterfragt. Das schwarz-weiße Filmmaterial unterstützt dies in besonderer Weise: Selbst Josef muss man lange in der Steinwüste vor seinem Haus suchen, bevor man ihn da einfach unbeweglich sitzen sieht. Die Bilder werden dabei manchmal unscharf, wenn das Tageslicht verschwindet. Stilles Leuchten im Graudunklen herrscht dann vor – und auch die Könige haben sich in der Landschaft auf der eigenen Suche verloren und müssen sich erst einmal selbst finden. Sie – und auch Maria und Josef wissen nicht so recht, was eigentlich gerade passiert, und es ist viel zu heiß um etwas anderes zu tun als die meiste Zeit im Schatten zu dösen.

So unaufgeregt hat noch niemand Bibelgeschichte verfilmt. Das Eigentliche ist so auch hier die Landschaft – und vielleicht ziemlich schlicht für den Bruchteil einer Sekunde ein kleiner Fuß am unteren Bildrand. Doch nach dem Film erzählt Serra, dass das Baby einfach nicht länger beim Dreh hatte bleiben können. Auch verständlich, denn das Drehteam selbst war monatelang durch die Gegend geirrt. Der Film brauchte ganz offensichtlich Landschaft und Zeit. Etwas, das er im Kino dem geduldigen Zuschauer auf wundersame Weise zurückgibt.


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