We can aim at more
Besprechung von »The Down-Deep Delight of Democracy« von Mark PurcellMark Purcells Buch The Down-Deep Delight of Democracy ist bereits 2013 erschienen. Da es inhaltlich sehr gut zu unserem Schwerpunkt passt und im deutschsprachigen Raum wenig bekannt ist, soll es, obwohl nicht unbedingt eine Neuerscheinung, trotzdem an dieser Stelle vorgestellt werden. Mark Purcell hat sich bereits 2008 in seinem Buch Recapturing Democracy – Neoliberalization and the Struggle for Alternative Urban Futures ausführlich mit dem Thema Demokratie beschäftigt. Beide Bücher eint Purcells felsenfeste Überzeugung, dass wir alle befähigt sind, unser Leben gemeinsam mit unseren Mitmenschen in die eigene Hand zu nehmen, und die repräsentative Demokratie nichts anderes als eine Form der Oligarchie ist. Welche Art repräsentativer Demokratie spielt für ihn dabei keine bzw. eine geringe Rolle. So zieht Purcell das keynesianische Modell dem neoliberalen ganz eindeutig vor und sieht es als »a perfectly understandable way to respond to neoliberalism and austerity … it is the alternative closest at hand«, aber: »We can aspire to and achieve a much more democratic form of life than the welfare state has to offer.« Demokratie ist für Purcell »simply the act of governing ourselves together in the polis«. Was also zu tun ist, »is to engage in a collective and perpetual struggle to democratize our society and to manage our affairs for ourselves.«
Die Struktur des Buches ist eine recht einfache. Purcell titelt seine Kapitel entweder mit einer grundsätzlichen Frage, der Ankündigung einer Erklärung wie z.B. What Is to Be Done? bzw. What Democracy Means oder mit Anleitungen versprechenden Phrasen wie Becoming Democratic oder Becoming Active. Für jedes dieser Kapitel hat er die Theorien einer Reihe von ihm geschätzter Autoren und Autorinnen nach ihrer Bedeutung für das Thema durchforstet: Das sind Henri Lefebvre, Negri/Hardt, Deleuze/Guattari, Laclau/Mouffe sowie Jacques Rancière und immer wieder auch Antonio Gramsci.
Bei Lefebvre muss Purcell nicht lange suchen, entsprechen seine Ausführungen zur Autogestion (Selbstverwaltung) doch genau den Vorstellungen, die er selbst vor Augen hat, wenn er von Demokratie spricht: »I think we need not too stretch to far to see Lefebvre’s desire for autogestion as a desire for democracy.« Bei Deleuze & Guattari greift er die Wunschproduktion auf, in der Autonomie und Utopie ebenso eine wichtige Rolle spielen wie bei der Autogestion. Es geht nicht darum, es sich innerhalb von Herrschaftssystemen und unter Anerkennung deren Spielregeln – so gut es halt geht – möglichst bequem einzurichten, sondern um ein Leben in Freiheit. Ganz so wie der wunderbare Titel von Margit Czenkis ebenso wunderbarem Film über Park Fiction/St. Pauli es prognostiziert: Eines Tages werden die Wünsche die Wohnung verlassen und auf die Straße gehen. Bei Negri/Hardt, mit denen Purcell bezüglich der Beurteilung der repräsentativen Demokratie auf einer Linie liegt – »democracy and representation stand at odds with one another« – verweist er auf das Vermögen der Multitude neue Formen der Demokratie zu entwickeln: »The multitude is very much capable of inventing new democratic forms in which its own power, constituent power, becomes active, reclaims its autonomy, and causes Empire to wither away.« Bei Laclau & Mouffe geht Purcell zuerst auf deren Anleihen bei Gramsci ein, dessen Theorie zur Hegemonie für sie sehr fruchtbar sind. Gramscis Konzept des demokratischen Zentralismus lässt sich auf den ersten und eigentlich auch auf den zweiten Blick nicht einfach mit Purcells Demokratieverständnis zusammenbringen. In Laclaus und Mouffes Idee einer radikalen Demokratie sieht Purcell jedoch »the extension of democratic practices to locations and arenas that are not now democratic, both within the state, and in civil society«. Über Jacques Rancière schreibt Purcell, nachdem er klarstellt, dass »he does not offer us hope that we can move beyond that social order and into a new land«, dass seine Vision davon, was Demokratie leisten kann, ziemlich eingeschränkt ist. Aber für Purcell ist Rancières Überzeugung von Interesse, jeder und jede habe die Kapazität, sich Wissen anzueignen und es durch einen disruptiven Subjektivierungsprozess schaffen kann, sich aus der Ausgeschlossenheit heraus einen Platz in der Gesellschaft zu erobern. Dieser Akt der Sichtbarwerdung ist Demokratie und wenn es dadurch auch nicht gelingen kann, eine neue Gesellschaftsordnung entstehen zu lassen, so meint Rancière immerhin »some police orders are better than others.«
Purcell sieht Demokratie nicht als Gesellschaftsordnung, die durch einen revolutionären Akt hergestellt werden kann. Demokratie kann für ihn niemals ein Zustand sondern immer nur ein Horizont sein, auf den wir uns hinbewegen. Er fordert uns auf, nach demokratischen Aktionen, Bewegungen und Aspekten unserer Gesellschaft Ausschau zu halten, sie im Alltag zu erkennen, uns daran zu orientieren und selber daran zu arbeiten demokratisch zu werden (siehe dazu auch seine Artikel in diesem Heft und in dérive 60). Wenn man sich mit Purcell auch sicher darüber streiten könnte, inwieweit jegliche Organisierung, die auf die Bildung von Strukturen abzielt, ein Um- oder Abweg vom Pfad zur Demokratie ist, generell ist ihm zuzustimmen, wenn er schreibt: »We do not become democratic by endlessly criticizing oligarchy. We become democratic by developing our own productive desire, by relentlessly struggling to move down the path toward democracy.«
Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.