Wie lässt sich Theater im Zusammenspiel mit urbanem Raum neu erfinden?
Besprechung von »Claudia Bosse – Kein Theater. Alles möglich« von Claudia Bosse, hg. von Fanti Baum und Kathrin TiedemannFanti Baum (Hg.), Kathrin Tiedemann (Hg.), Claudia Bosse:
Claudia Bosse – Kein Theater. Alles möglich
Postdramatisches Theater in Portraits
Berlin: Alexander, 2023
162 Seiten, 14 EUR
Teilhabe, die Abwesenheit eines Theaterraums und die Suche nach Räumen, in denen möglich ist, was im Theater nicht zu haben ist, die Umbesetzung von öffentlichen Räumen, Brachen und Zwischenräume zählen zu den markanten Merkmalen von Claudia Bosses künstlerischer Praxis. Mit Verbündeten und innerhalb verschiedener Allianzen bewegt sie sich mit dem theater combinat im Feld zwischen Sprache, Raum, Chor und Körper. Im speziellen dem öffentlichen Raum wird dadurch eine andere Sichtbarkeit und Stimme gegeben. Wer sich auf die Lektüre von Claudia Bosse. Kein Theater. Alles möglich einlässt, sieht sich mit einem politischen Wording konfrontiert, das sich von üblichem Theaterjargon bereits in seinen Anfängen vor 25 Jahren freispielte. Anstelle von Premieren und Proben geht es um gemeinsame Arbeitsprinzipien, geteilte Lebenszeiten, um das Zeigen des Nicht-Fertigen, den Entzug von Gewissheiten und eine Einladung zu inszenierten oder zufälligen Begegnungen. Eine wesentliche Rolle spielt dabei der urbane, öffentliche Raum. »Es geht um das Schaffen von Räumen, Öffentlichkeit und Möglichkeitsräumen sowie das Erhalten von künstlerischer Handlungsfähigkeit und Vielschichtigkeit«, so Claudia Bosse.
Fanti Baum und Kathrin Tiedemann ziehen in ihrem Intro-Text von Kein Theater. Alles möglich. Zur künstlerischen Praxis von Claudia Bosse als Ausgangspunkte radikale Ideen von Theatermacher:innen wie Elfriede Jelinek, Bertolt Brecht oder Heiner Müller und deren Ausstieg aus dem bürgerlichen Theater heran. Widerständige Texte, die den Atem und die Gedanken der Sprechenden benötigen und in deren Körper und Gedankenwelten eingreifen, münden in Claudia Bosses Arbeit phèdre (2008) in Laboratorien, in welchen Widerstände bearbeitet und diese mit den Körpern der Performer:innen konfrontiert werden. Es handelt sich um modellhafte Untersuchungen, theatrale Recherchen, ein Erforschen von Formen, Stoffen, Sprachen, Bewegungen und Voraussetzungen. Claudia Bosses Begegnung mit den Texten von Elfriede Jelinek, deren vielstimmige Sprachkunstwerke gängige Theaterkonventionen und patriarchale Strukturen der Institution Theater radikal in Fragen stellen, prägten in den 1990er Jahren ihre künstlerische Entwicklung, ebenso wie der Fall der Mauer 1989 und die dadurch entstandenen Freiräume in Ost-Berlin, die Brachen im Stadtzentrum sowie die leerstehenden Gebäude und deren ungeklärte Eigentumsverhältnisse. In dieser Übergangsphase, in der sich alte Strukturen auflösten und die neuen noch nicht die Kontrolle übernommen hatten, fielen Eigeninitiativen und Selbstorganisation auf fruchtbaren Boden und ermöglichten selbstbestimmte Lebensentwürfe. Die künstlerische Entwicklung von Claudia Bosse und der Drang, die Zuschauer:innen einzuladen, sich in unterschiedlichen körperlichen Situationen zu positionieren, hängen eng zusammen. In the last IDEAL PARADISE (2016) stand der Akt der temporären, öffentlichen Aneignung einer urbanen Szenografie gegenüber. Den Austragungsort dafür bildete eine 7.500 Quadratmeter große ehemalige Postverladestelle hinter dem Düsseldorfer Hauptbahnhof. Während mitwirkende Performer:innen wie Rotraud Kern, Florian Tröbinger oder Léonard Bertholet maskiert und in silbernen Ganzkörperanzügen das Terrain wie einen fremden Planeten mit großen Schritten erkundeten, blickte ein Chor aus Akteur:innen der Düsseldorfer Stadtgesellschaft auf die Eintreffenden, begleitet von schweren Atemgeräuschen. Dazu sprach Alexandra Sommerfeld einen Text aus der Apokalypse des Johannes. Raum und Zuschauer:innen wurden zu Mitakteur:innen und formierten sich mit den Teilnehmer:innen zu einer Prozession. The last IDEAL PARADISE, in Wien entwickelt, wurde 2018 in Essen und 2020 in Jakarta räumlichen Transformationen und Neu-Kontextualisierungen unterzogen. »Ich konnte meine künstlerische Arbeit ohne Raum nicht denken«, so Claudia Bosse. Oft steht die Begegnung mit Räumen, deren Geschichte politischer und ökonomischer Umbrüche infolge einer wechselvollen Stadtentwicklung sichtbar wird, am Beginn einer Inszenierung. In der temporären Nutzung, im künstlerischen Prozess wird ein temporäres kollektives Gedächtnis aktiviert, ein Dialog mit Architekturen in Gang gesetzt. Raum und -Urbanität wird als Medium erfahrbar. Im detailreichen Œuvre-Text zum postdramatischen Theater können wir allen Stationen der künstlerischen Produktivität von Claudia Bosse nachspüren. Im Gespräch mit Felicitas Thun-Hohenstein zieht Claudia Bosse unter dem Titel Sich einkerben in die Gegenwart Rückschüsse aus Formen der Versammlung, Katastrophen, künstlerischer Autonomie und Potenzialen der Veränderbarkeit im Moment. Wenn die Wirklichkeit zuschlägt und die Koordinaten unserer politischen Landschaften innerhalb von wenigen Tagen zerbrechen, ermöglicht künstlerisches Arbeiten für Claudia Bosse, dass die Dinge handhabbar werden, auch wenn sie sich immer wieder entziehen. Aus der Lektüre von Kein Theater. Alles möglich lassen sich auch dafür praktikable Anregungen ableiten.
Ursula Maria Probst