Robert Temel

Robert Temel ist Architektur- und Stadtforscher in Wien.


Reinhard Seiß’ Buch mit dem Titel Wer baut Wien? Hintergründe und Motive der Stadtentwicklung Wiens seit 1989, entstanden aus einem Margarete-Schütte-Lihotzky-Projektstipendium des Autors, machte bei seiner ersten Präsentation offenbar, wie sehr Stadtplanungsthemen, die sonst als eher schwer verdaulich und mühsam vermittelbar gelten, Aufmerksamkeit erregen können: Bei der Buchvorstellung samt Diskussionsrunde Ende Januar in Wien waren rund 300 ZuhörerInnen gekommen.

Das liegt teils wohl daran, dass Seiß sein Buch als dicht geschriebene Sammlung von Fallstudien, von unglaublichen Einzelereignissen und bizarren Handlungen der bekannten AkteurInnen angelegt hat. Doch damit allein ist das Interesse nicht erklärt. Dahinter steckt auch die Differenz zwischen einerseits dem Bewusstsein, dass Stadtentwicklungsfragen des Diskurses in breiter Öffentlichkeit bedürfen, und andererseits der Tatsache, dass dieser außerhalb spezialisierter Zirkel nicht existiert. Seiß’ Buch zeigt auch, dass diese für alle sichtbare öffentliche Unsichtbarkeit kein Zufall ist, indem er über die massenmedialen Vermittlungsstrategien der Wiener Planungspolitik schreibt. Die wenigen Versuche von OppositionspolitikerInnen, skandalöse Abläufe sichtbar zu machen, verhallen meist ungehört. Und trotzdem wundern sich alle, dass die Kyoto-Ziele in immer weitere Ferne entschwinden, die Zersiedelung immer dramatischer wird und der PKW-Verkehr nicht zurückgehen will.

Seiß’ Fallbeispiele reichen von neuen Wiener Stadtteilen außerhalb der Kernstadt wie Donau-City, Wienerberg City, Gasometer City und Monte Laa über Bürobauboom, Hochhauskonzept und neuen sozialen Wohnbau bis zu Fragen der Verkehrs- und Wirtschaftspolitik. Und sie zeigen das grundsätzliche Dilemma heutiger Stadtplanung, für das Wien jedenfalls ein gutes Beispiel abgibt: Einerseits formuliert die Stadt wunderbare Leitkonzepte mit nachvollziehbaren Zielen und sinnvollen Maßnahmen. Andererseits haben diese prinzipiell immer nur Empfehlungscharakter und werden in der alltäglichen Planungspraxis wohl öfter ignoriert als beachtet. So entsteht die Diskrepanz zwischen dem Bild der „Musterstadt“ Wien mit Stadtentwicklungsplan, Verkehrskonzept, Klimaschutzprogramm und Grüngürtelkonzept und der leider nicht ganz so sauberen und musterhaften Realität, in der die Entwicklung oft nicht in die angepeilte, sondern die falsche Richtung geht. Aus politischer Sicht könnte man Wer baut Wien? als hervorragenden Anlass sehen, diese Differenz produktiv zu machen und Realität und Planung durch Evaluationsmechanismen zu vergleichen, um zumindest eine gewisse Annäherung zwischen den Polen zu erreichen. Seiß nennt selbst ein Beispiel für eine solche Strategie: Die Stadt Zürich hat vor wenigen Jahren eine Reihe von 21 Indikatoren bestimmt, anhand derer nun regelmäßig die Nachhaltigkeit der Zürcher Stadtentwicklung überprüft wird. Es handelt sich dabei sowohl um ökonomische und soziale Kriterien und den Indikator „Zufriedenheit“ wie auch um ökologische wie Treibhausgasemissionen, umweltfreundliche Mobilität, Abfall, Luftqualität, Lärmbelastung und Versiegelung – also diejenigen, die massiv von Raumplanung und Stadtentwicklung beeinflusst werden.

Die Perspektive von Wer baut Wien? ist nicht so sehr auf Strukturen, sondern vielmehr auf Projekte ausgerichtet. Und mit dem Begriff „Projekt“ ist bereits ein spezieller Aspekt heutiger Stadtplanung angesprochen: In der jüngeren Vergangenheit, unter der Prämisse des Wohlfahrtsstaates, war die Herstellung möglichst gleicher Lebensstandards möglichst überall das planerische Ziel. Dieses Ziel ist etwa im deutschen Grundgesetz unter dem Schlagwort „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ festgeschrieben, fördert grundsätzlich die Suburbanisierung und hatte damit auch die Entwicklung solcher Regionen wie des Ruhrgebiets zur Folge. Heute, in der so genannten postfordistischen und neoliberalen Gesellschaft, hat sich das massiv geändert. Weder die heutigen Ideologien noch die immer beschränkteren öffentlichen Ressourcen lassen eine solch allgemeine, flächendeckende Entwicklungsförderung noch zu. Heute wird mit Projekten, mit Schwerpunktsetzungen, mit Konkurrenz der Standorte geplant. Das bedeutet natürlich, dass es bevorzugte und benachteiligte Gebiete gibt – die gab es zwar immer, aber heute sind sie auch von der Planung benachteiligt, das heißt mit ihrer langfristigen Unterentwicklung wird gerechnet. Die ungleiche Förderung betrifft Regionen, Städte, Stadt und Land, aber durchaus auch verschiedene Gebiete innerhalb derselben Stadt: Ein Beispiel dafür ist die Praxis der Stadt Leipzig, „Gebiete ohne Entwicklungspriorität“ festzulegen, in die keine öffentlichen Gelder mehr fließen sollen.

Heutige Stadtplanung kann Entwicklungen nicht allein finanzieren, sondern muss darauf hoffen, durch einmalige Interventionen Private zu aktivieren, und das sind nicht vorrangig BewohnerInnen und Betroffene, sondern InvestorInnen, die sich nur so lange für die Zwecke der öffentlichen Planung einspannen lassen, wie diese ihren eigenen Interessen dient. Auch wenn mit dem Begriff Public-Private Partnership prinzipiell geteiltes Risiko zwischen beiden Seiten gemeint ist, fallen strukturell bedingt viele notwendige Ziele der öffentlichen Seite unter den Tisch. Somit bleibt oft nicht mehr an Argumentationsmaterial für die Stadtplanung übrig, als dass durch das Zulassen bestimmter baulicher Entwicklungen eben Arbeitsplätze in der Stadt oder in der Region gehalten oder in diese geholt werden können – wiederum ein konkurrierendes Prinzip gegen Nachbarregionen, gegen Nachbarländer, gegen andere europäische Städte in ähnlicher Lage und Größe.

Reinhard Seiß’ Buch ist, am Fallbeispiel Wien und seinen Projekten demonstriert, eine Aufforderung dazu, sich nicht von den Komplexitäten und Interdependenzen heutiger Stadtentwicklung abschrecken zu lassen, sondern genau hinzusehen. Der nächste Schritt wäre politisches Handeln. Und dafür bräuchte es Öffentlichkeit und Beteiligung.


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