Wo ist zu Hause, Genossin?
Besprechung von »Heimat Moderne« herausgegeben von Experimentale e. V.Der Einband kommt daher wie eine DDR-Prachtpublikation der späten Sechziger: naturfarbenes Leinen, vorne überdruckt mit einem leuchtend blauen Quadrat, das seinerseits teilweise überschnitten wird von der schmissigen Skizze eines Scheibenhochhaus-Quartiers mit Park. „Heimat Moderne“ steht groß darunter, und fast ist man verwundert, nicht „DDR heute und morgen“ oder ähnlich Zukunftsfrohes zu lesen.
Thema des Bandes, Nachlese eines von der Kulturstiftung des Bundes geförderten gleichnamigen „Experimentale“-Großprojekts im Jahr 2005, ist der Umgang mit dem architektonischen und städtebaulichen Erbe der Nachkriegsmoderne am Beispiel Leipzig. Mit Blicken auf Danzig (Gda´nsk) und Zoppot (Sopot), wo das benachbarte Projekt Unwanted Heritage stattfand, wird der Horizont auch geografisch weiter gefasst. Der erste Teil des Bandes ist primär projekt- bzw. lokalbezogen; dokumentiert werden u. a. diverse Interventionen, die sich dem Thema aktionistisch/künstlerisch nähern. Konzeptuell arbeitet etwa die essayistische Auseinandersetzung mit dem Oeuvre eines fiktiven Leipziger Heimatfoschers.
Es folgt eine Fülle von Aufsätzen, die Aspekte des Themas allgemeiner beleuchten und Relevanz nicht nur über Leipzig, sondern auch über den ehemaligen „Ostblock“ hinaus besitzen. Behandelt werden verschiedene Themenkreise wie Methodik und Mechanismen der Heimat-Konstruktion, etwa in Christina von Brauns Essay über den zwiespältigen Heimatbegriff aus ehemaligen deutschen Siedlungsgebieten Vertriebener nach dem Zweiten Weltkrieg. Barbara Steiner erinnert an die Tatsache, dass „die monolithisch gefasste Moderne den Keim ihrer Kritik immer schon in sich trug und ihr autoritärer Charakter aus der eigenen Widersprüchlichkeit heraus permanant infrage gestellt wurde“ und analysiert unter diesem Aspekt auch die Postmoderne: „Nicht nur ,Perversionen‘ bzw. ,Fehlentwicklungen‘ der Moderne standen zur Disposition, sondern ihr zentrales Paradigma: die Vernunft selbst rückte auf den Prüfstand.“
Immer wieder lesenswert sind Simone Hains Funktionalismusanalysen, ein Highlight des Bandes ihr Text Modernescraps. Versuch, einen korrumpierten Diskurs hochzuladen, in dem sie anhand zahlreicher von der Geschichtsschreibung eher verdrängter und vernachlässigter Beispiele an die inhärente Modernekritik z. B. der CIAM-Kongresse erinnert: „Es waren gerade die ,kommunistisch interessierten Mitglieder‘ der Internationalen Kongresse für Moderne Architektur, die Le Corbusier im Namen der Geschichte und des Sozialismus seinerzeit einfach überstimmten.“ Hains luzide Analyse umfasst auch den wenig thematisierten internationalen „,linguistic turn‘ zu tradierten und konventionellen Semantiken“ in den frühen Dreißigern und spannt den kritischen Bogen bis zu den Modernediskursen seit den Siebzigern: „Weil und wenn es nicht mehr um diskursive Konfliktverarbeitung und Lernen in der selbstnegierenden Matrix der Moderne geht, sondern um die totale Zurückweisung des industriegesellschaftlichen (arbeiterbewegten) Anspruches, allen oder keinem möge es künftig besser gehen, dann wendet sich das Blatt und wir stehen vor einer anti-modernen Reaktion.“ Was nicht deutlich genug ausgesprochen werden kann.
Insgesamt ist der Band durch seine inhaltliche wie formale Qualität ein Muss für alle an der (Vor- und Nachkriegs-)Moderne Interessierten. Der Retro-Chic der grafischen Gestaltung ist gerade dezent genug, um nicht peinlich zu werden, die liebevolle Ausstattung mit vielen großzügigen Fotostrecken und die solide Bindung kommen dem Lesekomfort und der Freude am Objekt Buch sehr zugute. Ein wenig gewöhnungsbedürftig ist lediglich die Paginierung, die nicht durchgehend, sondern nach Buchstaben-Kapiteln gereiht ist.
Iris Meder