» Texte / Wohnraum für Alle!? – Das Ringen um eine nicht-profitorientierte Wohnungsversorgung in Deutschland

Anita Aigner

Anita Aigner ist Assistenzprofessorin an der TU Wien. Ihr Forschungsschwerpunkt ist Architektursoziologie.


Steigende Mieten in wachsenden Großstädten, Knappheit im Marktsegment preisgünstiger Mietwohnungen und eine immer größere werdende Gruppe ein-kommensschwacher Haushalte (Zugewanderte, Alleinerziehende etc.) haben die Wohnungsfrage neu entfacht. Auch im akademischen Raum ist die Organisation von erschwinglichem Wohnraum zunehmend ein Thema. Und das ist gut so. Jüngstes Zeugnis dafür: der Sammelband Wohnraum für alle?! Perspektiven auf Planung, Politik und Architektur. Eine Publikation, die von einer Konferenz an der Fakultät für Architektur und Urbanistik an der Bauhaus-Universität Weimar ihren Ausgang nahm.
Nicht von ungefähr wird die neue alte Frage nach den Bedingungen wirklich sozialen, d.h. nicht warenförmigen Wohnraums gerade in Deutschland gestellt. Auch wenn das aus österreichischer (speziell Wiener) Perspektive kaum vorstellbar ist: Bei den bundesdeutschen Nachbarn wurde die gemeinnützige Wohnungswirtschaft 1990 im Zuge einer Steuerreform abgeschafft. In der Folge veräußerten zahlreiche Unternehmen ihre preisgünstigen Bestände, kommunale Wohnungs-verwaltungen mutierten zu renditegetriebenen Unternehmen. Durch Privatisierungen und Auslaufen von Sozialbindungen sank die Zahl der Sozialwohnungen von 4 Millionen (1987) auf 1,5 Millionen (2012). Zu einfach wäre es jedoch, die gegenwärtige Wohnungskrise in Deutschland nur der gestiegenen Nachfrage oder allein der Durchsetzung neoliberaler Wohn- und Sozialpolitik in den letzten 30 Jahren zuzuschreiben. Wie Barbara Schönig in ihrer fundierten Einleitung betont, ist die jüngste Entwicklung auch Resultat des seit den 1950er Jahren verfolgten Modells »sozialer Wohnungsmarktwirtschaft«, das bei grundsätzlicher Marktorientierung lediglich ein temporäres und korrigierendes Eingreifen des Staates in den Wohnungsmarkt vorsieht. Das deutsche Fördersystem zielte zu keinem Zeitpunkt auf Schaffung eines dauerhaft den Marktmechanismen entzogenen Sozialwohnungsbestands. Stattdessen subventionierte der Staat den Bau von Wohnungen mit »sozialer Zwischennutzung«. Nach Rückzahlung der staatlichen Darlehen werden hier Mietpreis- und Belegungsbindung aufgehoben, die staatlich subventionierten Wohnungen gehen in frei verfügbares Eigentum der Träger über und werden in den freien Wohnungsmarkt eingespeist. Ein System also, das – wie Ruth Becker bereits 1977 (siehe Arch+ 32) minutiös vorgerechnet hat (heute wieder unbedingt lesenswert) – BauträgerInnen, Banken und InvestorInnen gute Geschäfte beschert hat, dessen Versorgungseffekt bei hohen Kosten jedoch begrenzt ist.
Vor diesem Hintergrund, der vom österreichischen (speziell Wiener) Kontext in vielerlei Hinsicht abweicht, wundert es nicht, dass von den AutorInnen eine grundsätzliche Neuausrichtung der bundesdeutschen Wohnungspolitik gefordert wird. Das Programm des Bandes lautet: Dekommodifizierung und Rekommunalisierung, die Schaffung eines aus den Marktmechanismen herausgelösten,nicht-profitorientierten Wohnungssegments. Wohnungsversorgung solle nicht mehr »als Korrektiv einer im Grunde unternehmerisch interessierten Stadtentwicklungspolitik, sondern als Teil einer lokalen Daseinsvorsorge und Teil einer integrierten Stadtentwicklungspolitik« verstanden werden. Der interdisziplinär bzw. feldüber-greifend angelegte Band versammelt Beiträge von Stadt- und WohnungsforscherInnen aus Geografie, Soziologie, Ökonomie, Architektur und Städtebau, aber auch WohnungspolitikerInnen, ImmobilienexpertInnen und BeraterInnen kommen zu Wort. Mit diesem Mix zeigen die HerausgeberInnen Bereitschaft zum Dialog mit AkteurInnen, die im streng akademischen Diskurs, aber auch in selbstreferentiellen neomarxistisch orientierten Debatten um die Neoliberalisierung des Städtischen ausgegrenzt bleiben.
Wer die Ursachen der neuen Wohnungsfrage ergründen und Lösungsansätze erarbeiten will, muss zunächst die Strukturen neoliberaler Neuordnung des Städtischen verstehen und sich mit den ökonomischen Grundlagen der gegenwärtigen Wohnungsversorgung befassen. Dieser guten alten Regel folgen die AutorInnen im ersten Kapitel. Allen voran Bernd Belina, der die Wohnung als Gegenstand kapitalistischer Warenproduktion seziert und dabei auch jene Kapitalkreisläufe erklärt, die mit dem Gebrauchswert der Wohnung nichts mehr zu tun haben. Wo nur mehr der Anlagewert einer Wohnung zählt und die Kredite, mit denen Grundstücke und Gebäude gekauft werden, selbst zu Waren werden (Finanzialisierung), bringt der kapitalistisch organisierte, mit globalen Prozessen der Kapitalzirkulation verwobene Wohnungsmarkt nicht nur Blasen und Stockungen hervor (etwa die US-Subprime Krise 2007), sondern sorgt mit Bauproduktion im Luxussegment auch für Preissteigerungen und Verdrängung von einkommensschwachen Bevölkerungsgruppe.
Dass sich diese das nicht mehr gefallen lassen, zeigen die AutorInnen im zweiten Kapitel. Hier werden städtische Proteste und soziale Bewegungen um das Recht auf Wohnen und einer Stadt für alle in Hamburg, Berlin, Jena und Leipzig vorgestellt. Soziale Kämpfe für preisgünstiges Wohnen und gegen Verdrängung leisten einen wichtigen Beitrag zur Repolitisierung des Wohnens und erhöhen den Handlungsdruck auf Politik und Wohnungsunternehmen. Ohne dieses zivilgesellschaftliche Engagement hätte es wohl manche Teilerfolge (mehr Mitbestimmung und Einbindung in Beteiligungsverfahren, aber auch veränderter Umgang mit Grundstücken und Restrukturierung städtischer Wohnungsgesellschaften) in deutschen Städten nicht gegeben. Eine grundsätzliche Reform der Wohnraumversorgung kann durch außerparlamentarische Bewegungen jedoch schwer herbeigeführt werden. Um Wohnraum effektiv den Markt- und Verwertungsprozessen zu entziehen (wenigstens teilweise), bedarf es politischer Beschlüsse für wirksame Regulierungsmaßnahmen – und zwar entlang der drei Steuerungsmedien Geld (finanzielle Förderinstrumente), Recht (Ausgestaltung von Miet-, Bau-, Städtebau- und Wohnungs-gemeinnützigkeitsgesetz) und Eigentum (öffentliche Wohnungsbestände und Grundstücke). Ansätze, wie preiswerter Wohnraum dauerhaft geschaffen, organisiert und verwaltet werden kann, werden in den weiteren vier Kapiteln diskutiert.
Zumal die größten Hoffnungen auf ihr ruhen, wird zunächst, 30 Jahre nach ihrer Abschaffung, die Neue Gemeinnützigkeit diskutiert. Manchmal erweist sich der Blick zurück eben doch als Blick nach vorne. Die im 19. Jahrhundert entwickelten Grundsätze der Wohnungsgemeinnützigkeit (Kostendeckung statt Gewinnorientierung, Zweckbindung der Einnahmen, sozialer Versorgungsauftrag, Beschränkung bei der Gewinnausschüttungen) werden vor allem von Andrej Holm als tragfähige Prinzipien für eine soziale Wohnungswirtschaft stark gemacht. Mit der Beifügung neu ist angedeutet, dass die Fehler der alten Gemeinnützigkeit vermieden werden sollen, indem etwa Mietermitbestimmung und demokratische Kontrollmechanismen gestärkt werden. Das Kapitel Kommunale Strategien widmet sich der Einschätzung von regulatorischen Maßnahmen, die in verschiedenen Städten (Frankfurt am Main, Hamburg, Berlin und Wien) – nicht zuletzt als Reaktion auf zivilgesellschaftliche Widerstände – aktuell zum Einsatz gebracht werden. Für deutsche Städte fällt die Evaluation überwiegend negativ aus. Viele der neueren »regulatorischen Experimente« sind nach Einschätzung der AutorInnen zahnlos oder haben sich gar als Papiertiger erwiesen. So konnten Soziale Erhaltungsverordnungen und Milieuschutzsatzungen urbanen Verdrängungsprozessen (Gentrifizierung) nur bedingt Einhalt gebieten. Die 2015 bundesweit eingeführte Mietpreisbremse hat das Wohnen für untere Einkommensgruppen nicht billiger gemacht, sondern nur den Besserverdienenden unter den Wohnungssuchenden einen Vorteil verschafft. Geradezu absurd mutet es an, wenn Städte (wie etwa Frankfurt) mit öffentlichen Mitteln der Wohnbauförderung zeitlich begrenzte Belegungsrechte von öffentlichen (profit-orientierten) Wohnungsunternehmen für Wohnungen kaufen, deren Bau bereits mit öffentlichen Fördermitteln subventioniert wurde. Fortschritte werden am ehesten in der Liegenschaftspolitik ausgemacht, wo die Entwicklung von Neubaugrundstücken mit Einsatz von Instrumenten wie Drittel-Mix, Konzeptvergabe oder der Sozial gerechten Bodennutzung erfolgt. Die verschiedenen regulatorischen Maßnahmen deuten zweifellos ein Abweichen vom bisherigen Mainstream aus Deregulierung, Privatisierung und Vermarktlichung an, doch von einem echten Systemwechsel, so die AutorInnen einhellig, könne nicht gesprochen werden. Nach wie vor gilt die temporär ausgerichtete Logik des Fördersystems. Weiterhin werden Mittel der Wohnbauförderung (wenn auch erheblich aufgestockt) nicht in dauerhaft sozial gebundenen Bestand, sondern nur in Wohnungen mit »sozialer Zwischennutzung« investiert.
Unter dem Titel Alternativen jenseits von Markt und Staat werden zivilgesellschaftliche Strategien zur Sicherstellung bezahlbaren Wohnraums – von genossenschaftlichen Wohnprojekten in Basel und Leipzig bis zu Community Land Trusts (CLT) – vorgestellt. Obschon die AutorInnen das Potenzial der zivilgesellschaftlichen Modelle betonen, wird auch eingeräumt, dass die Ansätze gemeinschaftlich verwalteten und dauerhaft nicht-warenförmig bewirtschafteten Wohnraums quantitativ marginal sind. Zudem sind viele Projekte von »soziokultureller Exklusivität« geprägt und dienen als »Klubgut einiger lucky few« und nicht notwendig der Inklusion und Versorgung ärmerer Bevölkerungsgruppen. Das wird nur von solidarischen Baugruppen und Beteiligungsgesellschaften (wie dem Mietshäuser Syndikat) eingelöst, deren gemeinschaftliche Organisations- und Finanzierungsmodelle auch Solidartransfer inkludieren. Man fragt sich allerdings, warum kollektive Bottom-up-Projekte überhaupt jenseits des Staates angesiedelt sein sollen. Wäre das nicht umzudrehen? Sollte nicht der Staat gerade die zivilgesellschaftliche Herstellung (und Verwaltung) von Wohnraum als soziale Infrastruktur[1] fördern?
Der Band rückt organisatorisch-institutionelle Fragen der Wohnraumversorgung in den Vordergrund, vergisst aber nicht auf Fragen der Planung und Gestaltung. Schade ist nur, dass das Kapitel Architektonische Strategien auf bauökonomische Fragen, v.a. den Aspekt der Vorfertigung (Stichwort Platte 2.0) fokussiert bleibt. Zweifellos ist kostengünstiges Bauen wichtig, um leistbare Mieten zu gewährleisten – jedenfalls wenn das Prinzip der Kosten- deckung vorausgesetzt wird (das austromarxistische Wien kannte auch das Prinzip der verlorenen Baukosten). Doch wäre auch ein kritischer Blick auf den Diskurs um Senkung von Baukosten und eine Einschätzung von temporären und für temporäres Wohnen vorgesehenen Billigwohnbauten wünschenswert gewesen. Zumal die Schaffung langfristiger Akzeptanz des in Deutschland stark stigmatisierten Sozialwohnungsbaus ein unter den Nägeln brennendes Thema ist, hätte man gerne auch etwas über architektonische Strategien der Aufwertung von Sozialwohnungsbestand erfahren.
Bei aller Kontingenz, die der Produktion von Sammelbänden immer anhaftet, ist das Buch als wohnungspolitisch engagierte Unternehmung zu würdigen. Seine Stärken liegen eindeutig da, wo eine Kritik der Ökonomie und Politik der Wohnungsversorgung geliefert wird. Die Befunde zur deutschen Wohnungspolitik dürften österreichischen LeserInnen kalte Schauer über den Rücken jagen, doch sollte die aus dem Vergleich gezogene Wertschätzung der hiesigen (v.a. Wiener) Situation nicht blind machen. Ja, es ist eine Errungenschaft, dass die Hälfte der WienerInnen in Wohnungen mit dauerhafter sozialer Bindung lebt, ein beachtlicher Anteil der neuen Wohnungen mit öffentlichen Förderungen errichtet wird und der soziale Wohnbau kein Stigma, sondern Normalität darstellt. Aber: auch Wien ist von Deregulierung und Marktliberalisierung nicht verschont geblieben (siehe Justin Kadi in dérive 68); auch hier sind Miet- und Bodenpreise rasant angestiegen, finden untere und zunehmend auch mittlere Einkommensgruppen immer schwerer eine leistbare Wohnung, zeichnen sich zusehends Verdrängungsprozesse ab. Die Stadt wird ungleicher, so die Diagnose von Christoph Reinprecht in seinem mit Entzauberung einer Legende überschriebenen Beitrag zum Wiener Modell. Der soziale Wohnungssektor in Wien, so groß er auch sein mag, ist – wie auch empirische Forschung zum Wohnungszugang von Geflüchteten belegt[2] – mit einem schwerwiegenden Makel behaftet: Er schließt die wirklich Bedürftigen aus. Kein Grund also, sich entspannt zurückzulehnen. Der Band aus Weimar könnte Anregung sein – für eine kritische Wohnforschung, aber auch für das Formulieren von Vorschlägen, wie das Gute noch besser gemacht werden kann. So, dass am Ende vielleicht doch noch ein Neues soziales Wohnen rauskommt.

Fußnoten


  1. Andrej Holm (2013): »Wohnen als soziale Infrastruktur«, online auf www.linksnetz.de; Joachim Hirsch, Oliver Brüchert, Eva-Maria Krampe u.a. (Hg.) (2013): Sozialpolitik anders gedacht: Soziale Infrastruktur. Hamburg: VSA-Verlag. ↩︎

  2. Anita Aigner (iE): »›No pets no refugees‹ – Housing and housing-search experiences of refugees in Vienna/Austria«, in: Housing Studies. ↩︎


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