
Zurückblickend vorwärtsgehen
Besprechung von »Sanfte Stadterneuerung Revisited« hg. von Katharina Kirsch-Soriano da Silva, Judith M. Lehner und Simon A. Güntner»Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten.« Das ist ein Zitat, das sich zwar keiner eindeutigen Urheberschaft zuschreiben lässt, aber ungeachtet dessen gerne verwendet wird, wenn es darum geht, die Bedeutung des Lernens aus der Vergangenheit für die Bewältigung der aktuellen Herausforderungen zu betonen. Im Wien der 1970er Jahre war eine solche Herausforderung der Umgang mit der historischen und zugleich in die Jahre gekommenen Wohnbausubstanz. Auf diese mittlerweile 50 Jahre andauernde Entwicklung bietet nun der auch grafisch sehr ansprechend gestaltete Band Sanfte Stadterneuerung Revisited einen Rückblick und wie es durch diese gelungen ist, über eine Viertelmillion mangelhaft ausgestatteter Wiener Wohnungen unter Zuhilfenahme von Fördermitteln zu verbessern und einen Großteil dessen Bausubstanz nicht nur zu erhalten, sondern zum Teil sogar besser in das jeweilige Umfeld zu integrieren. Der Band reflektiert und kontextualisiert dies durch Beiträge von Expert:innen aus Wissenschaft, Vermittlung und Forschung mit zahlreichen Berichten von ›Zeitzeug:innen‹. Letztere kommen vorwiegend aus dem Beauftragungs- bzw. Tätigkeitsfeld der Stadt (Baudirektion, wohnfonds_wien, Gebietsbetreuungen, Architekt:innen, Bauträger:innen). Interessant wären mehr Einblicke direkt Betroffener wie Bewohner:innen oder Eigentümer:innen gewesen. Die Berichte bieten dennoch aufschlussreiche Erkenntnisse, nicht zuletzt über die biografischen Hintergründe und Motive dieser Akteur:innen. Zehn Beiträge zu den Neuen Herausforderungen im letzten Abschnitt des Buches bieten unterschiedliche Blicke auf die Sanfte Stadterneuerung und ordnen deren Errungenschaften in den Themenfeldern Baukultur, Klima, Kommunikation, soziale Teilhabe und Wohnungsmarkt aktuell ein.
Hier zeigt sich auch eine Meta-Erzählung des Bandes, nämlich wie sehr ein für Wien so wichtiges Instrument wie die Sanfte Stadterneuerung bereits ihre eigenen Narrative geschrieben hat und worüber mehr und worüber weniger Einigkeit herrscht. So wird auf der einen Seite das Förderprogramm der Stadt dahingehend gewürdigt, dass es Verdrängungseffekte verhinderte, während auf der nächsten Seite ebendiese Verdrängungseffekte thematisiert werden. Einigkeit besteht hinsichtlich der Ursprünge der Sanften Stadterneuerung, die Christiane Feuerstein ausgehend von den 1970er Jahren in einen internationalen Kontext setzt: Wien erlebte eine Zeit wirtschaftlichen Wachstums und demografischer Stagnation, also diametral entgegen den heutigen Voraussetzungen. In einer Synthese aus massiven Bürger:innenprotesten, der Nutzung damals neuer Massenmedien (wie der ORF-Sendung zum partizipativen Projekt Planquadrat), dem Aktivwerden von Schlüsselpersonen aus der gebildeten Mittelschicht und einem geänderten Bewusstsein in Politik und Verwaltung wurde Schritt für Schritt Neuland betreten: In mehrfachen Pionierversuchen und -gebieten wie am Spittelberg oder in Ottakring wurden verschiedene Methoden und Modelle getestet, Erfolge verzeichnet und Rückschläge eingeordnet, um einen Paradigmenwechsel zu erreichen, der weg von Abriss und Neubau und weg von einer Vision einer autogerechten Stadt hin zu einer Priorisierung des Schutzes erhaltenswürdiger Bausubstanz und damit zusammenhängenden Maßnahmen führen konnte.
Wie sich dies auf einzelne Bewohner:innen auswirkte, zeigt der für das Buch zentrale Text von Christoph Reinprecht Alltag und soziale Verhältnisse anhand der Verknüpfung des Anekdotischen mit dem Politischen und dem Sozialen. Anhand der Biografie seiner Großmutter werden Instrumente der Sanften Stadterneuerung, ihre Akteur:innen und die Effekte ihres Handelns erlebbar. Wie aus dem Off werden diese Eindrücke aus dem dicht verbauten Wien mit der Diskrepanz zu den parallel dazu entstehenden aufgelockerten, autogerechten und monofunktionalen Stadtrandsiedlungen verwoben, in die viele jener Menschen aus den sanierten Gebieten wegzogen. Diese Siedlungen wiederum werden in einem »Zeitzeug:innenbericht« aus der Baudirektion als aktuelles Anwendungsfeld der Erkenntnisse der Stadterneuerung identifiziert. So erleben wir in den Berichten des Buches mit, wie auf der Bühne der innerstädtischen Viertel um Bausubstanz, Nutzungsvielfalt, sanfte Mobilität, öffentliche Räume, Teilhabe und soziale Durchmischung gekämpft wird, während gleichzeitig Stadtrandsiedlungen entstehen, denen genau diese Qualitäten weitgehend fehlen, die man heute vielleicht unter dem Begriff Baukultur zusammenfassen könnte.
Etwas schade ist, dass es im Buch keine gesamthaften quantitativen Einordnungen wie eine jährlich erreichte Sanierungsquote oder eine Umrechnung der damaligen Schilling-Werte auf einen mit heute vergleichbaren Wert, eine gesamthafte zeitliche Einordnung der Maßnahmen oder eine aufzählende Erläuterung vielfach verwendeter Fachbegriffe (Assanierung, Huckepacksanierung etc.) gibt. Es verfestigt sich der Eindruck, dass die Sanfte Stadterneuerung ein Mosaik aus sehr heterogenen Instrumenten, vielfältigen Akteur:innen und unterschiedlichsten Ansätzen ist. Und wie könnte es auch anders sein, wo doch die (Bestands-)Stadt selbst in keiner Weise homogen ist, wie die sechs im Buch dargestellten und von Studierenden erarbeiteten Haus- und Grätzelbiografien zeigen. Deutlich wird auch, dass der Begriff der Sanften Stadterneuerung eine retrospektive Zuschreibung ist, die sich in ihrer Entwicklung, im Vorwärtsgehen, schrittweise entwickelt hat. Vor allem in ihrer Anfangszeit gab es vergleichsweise wenig Vergangenes, auf das sie zurückgreifen konnte und den Weg vorgezeichnet hätte.
Was sind also die Parallelen zu heute? Es scheint vor allem die Herausforderung der sozial-ökologischen Transformation der Dekarbonisierung des Wohnbausektors zu sein: So sollen allein in Wien innerhalb der nächsten 15 Jahre über 600.000 Gasheizungen umgestellt und Gebäude gezielt ertüchtigt werden, um die Klimaziele zu erreichen. Auch hier geht es um dieselben multiperspektivischen Themen wie bereits vor 50 Jahren und so gelesen ist Sanfte Stadterneuerung Revisited ein Buch, das Mut machen kann. Mut, dass auch die aktuellen Herausforderungen bewältigbar sind. Dieser Mut dringt aus der Haltung, die durch die Selbstreflexion der Zeitzeug:innen deutlich wird: eine durch und durch optimistische. So kann dieses Buch den heute an der sozial-ökologischen Bestandstransformation arbeitenden Personen einen Weg vorzeigen und sie in ein Narrativ einstimmen, dass auch sie Teil einer großen Wiener Erzählung sein können, auf die sie einmal stolz sein können. Vielleicht sollten sie schon jetzt mit ihren persönlichen Aufzeichnungen beginnen.
Katharina Kirsch-Soriano da Silva, Judith M. Lehner
und Simon A. Güntner (Hg.)
Sanfte Stadterneuerung Revisited. Wiener Handlungsstrategien für den Bestand
Berlin: Jovis Verlag, 2025
42 Euro, 160 Seiten
Ernst Gruber ist Architekt, Grafik- und Kommunikationsdesigner.