Das Ende der Nordbahnhalle
Die Nordbahnhalle auf dem Weg zum Stadtteilzentrum betitelten wir in der Oktober-Ausgabe von dérive den Zwischenstandsbericht zur Auseinandersetzung um die Zukunft der Wiener Nordbahnhalle als sozialkulturelles Zentrum. Im Titel schwang zugegebenermaßen eine ordentliche Portion Optimismus mit. Die GegnerInnen dieses Plans waren nicht zahlreich, saßen aber an den entscheidenden Stellen. Trotz breiter Unterstützung aus der Nachbarschaft und hohem medialem Interesse war der Weg der IG Nordbahnhalle[1] von Anfang an steinig, und es war klar, dass mit der konkreten Umsetzung der schwierigste Abschnitt noch bevorstehen würde. Einen guten Monat nach Veröffentlichung des Artikels ist in der Nordbahnhalle überraschend ein Feuer ausgebrochen, dessen Rauchsäule weit über Wien sichtbar war. Die Halle wurde schwer beschädigt. Mitte Dezember, noch bevor die Untersuchungen zur Brandursache abgeschlossen waren, hat der Abriss der Halle begonnen. Der Brand markiert das spektakuläre Ende eines Möglichkeitsraums, der ein Modellprojekt für Wien hätte werden können. Die verantwortlichen Stellen der Stadt Wien taten alles, um das nicht erkennen zu müssen. Eine dokumentarische Aufarbeitung.
urbanize! Festival 2018 in der Nordbahnhalle. Im Hintergrund die Ausstellung Wir anderen von Kati Bruder. Am Podium v.l.n.r. Florian Schmidt (Baustadtrat, Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg, Berlin), Maria Muñoz Duyos (Urbanitas Berlin Barcelona), Elke Rauth und Ivana Pilic (Kuratorinnen urbanize). Foto — Lena KuzmichKapitel 1: Der Wert der Partizipation
Für die Entwicklung des Geländes des ehemaligen Nordbahnhofs war ein umfangreicher Partizipationsprozess vorgesehen, der im Herbst/Winter 2013/14 stattfand. 27.500 Haushalte waren zur Teilnahme eingeladen. Dieser Prozess bestand aus Grätzel-Cafés, Dialogveranstaltungen, einer Planungswerkstatt und weiteren Formaten. Hunderte NachbarInnen hatten die Möglichkeit, Ideen und Vorschläge einzubringen. Ein Team von ExpertInnen stand für Beratung zur Verfügung – und wohl auch dafür, die Wünsche zu kanalisieren. Die eingebrachten Ideen wurden diskutiert, von den ExpertInnen bewertet und schlussendlich unter den Kapiteln Mobilität, Nutzung und Bebauung sowie Grün- und Freiraum zusammengefasst. Am 17. Februar 2014 fand das dritte und letzte Grätzel-Café statt. Auf der Tagesordnung stand der Punkt Finale Empfehlungen der BürgerInnen. Was wünschten sich die damaligen BewohnerInnen des Nordbahnviertels, drei bis vier Jahre bevor (!) die Nordbahnhalle erfunden wurde?
* Ein »Bildungs- und Kulturzentrum, das vielfältig und Generationen übergreifend genutzt werden kann [und] zur Belebung des Stadtteils beiträgt.«
* »Räumliche Vernetzung zwischen Altbestand und Neubau bzw. in die freie Mitte hinein.«
* »Mögliche (Zwischen-)Nutzungen im Freiraum und in bestehenden Gebäuden: kulturelle Nutzung der bestehenden Gebäude, Tunnel, Hallen und in Freiräumen, z. B. für Kunst/Kultur (Installationen …), Proberäume, Clubs, Diskos, als Skaterpark.«
Die drei Punkte sprechen für sich, einige Details sollten trotzdem hervorgehoben werden. Der Wortteil »Zwischen« bei Zwischennutzung steht in Klammern, es wurde also nicht nur an Zwischennutzungen, sondern an ganz normale Nutzungen gedacht. Besonders wird die Nutzung von bestehenden Gebäuden hervorgehoben. In der Aufzählung, welche Gebäude das sein könnten, kommt das Wort Halle vor. Ein sprachlicher Zufall? Nein. Der Partizipationsprozess ist gut dokumentiert und so ist im Detail nachzulesen, was in der Wunschliste stand, bevor die Punkte zusammengefasst wurden. Eine Liste aus dem ersten Grätzel-Café, an dem 300 NachbarInnen teilnahmen, hält fest, dass sich die TeilnehmerInnen den »Mehrerhalt bestehender Substanzen« wünschen, als konkretes Beispiel »Halle neben Wasserturm«.[2] Diese Halle neben dem Wasserturm wurde 2017 durch ein Forschungsprojekt der TU Wien zur Nordbahnhalle. Während des Beteiligungsprozesses war sie noch von der Firma IMGRO als Lagerhalle für Lebensmittel genutzt worden.
Dieser frühzeitig eingebrachte Wunsch der Nachbarschaft nach Erhalt der Halle neben dem Wasserturm wurde von den GegnerInnen der Nordbahnhalle geflissentlich übersehen und unter den Teppich gekehrt. Wiederholt wurde darauf hingewiesen, dass weder im Leitbild für das Viertel noch im Partizipationsprozess von der Nordbahnhalle die Rede sei und die Halle deshalb auch keine Existenzberechtigung hätte und abgerissen werden müsse. Eine rhetorisch gesetzte Nebelgranate, wurde der Name Nordbahnhalle für die Lagerhalle neben dem Wasserturm doch erst 2017 erfunden. Sie konnte somit unter diesem Namen im 2013 und 2014 stattfindenden Beteiligungsprozess gar nicht auftauchen. Als Gebäude und als Konzept war sie jedoch explizit erwünschtes Ergebnis der Partizipation: Der Wert der Halle neben dem Wasserturm war den NachbarInnen lange vor der Bespielung durch die TU Wien bewusst.
Auch das spätere Raumprogramm für diesen ungewöhnlichen und identitätsstiftenden Ort war von den TeilnehmerInnen des Partizipationsprozesses bereits grob umrissen worden. Als Ideen und Vorschläge für das Nordbahnviertel wurden im Protokoll des ersten Grätzel-Cafés notiert[3]: Ort für Kulturveranstaltungen ohne Konsumzwang; Treffpunkt für GrätzelbewohnerInnen ohne Konsumzwang; Mehrzweckhalle (Jugend, Theater …); Sozialaspekt Begegnungszone: Lokale/Vereinslokale; Park-Gastronomie; Weltcafé; Speakers Corner; (Erwachsenen-)Bildungszentrum; Arena für kulturelle Open-Air-Veranstaltungen; flexibel genutztes Gebäude in zentraler Lage.
Blickt man zurück und hält sich die mehr als 500 Veranstaltungen vor Augen, die in der Nordbahnhalle stattgefunden haben, wird deutlich, dass ein großer Teil dieser Vorstellungen in den zweieinhalb Jahren der Nutzung bereits Wirklichkeit geworden waren. Kombiniert mit dem Potenzial einer langfristigen Nutzung durch eine selbstorganisierte, zivilgesellschaftliche und gemeinwohlorientierte Trägerschaft wären alle diese Ideen einer lebendigen Nachbarschaft umsetzbar gewesen. Doch die Ergebnisse der Partizipation ergeben vor allem viel hübsches Papier, dessen Wert sich in der Visionslosigkeit der politischen Entscheidungsträger und den Interessen der Bauträger auflöst. Entschieden wird auch unter rot-grün top-down.
Kapitel 2: Ein Handbuch zum städtebaulichen Leitbild
2015 wird das Handbuch zum städtebaulichen Leitbild Nordbahnhof[4] veröffentlicht. Herausgeberin ist die MA 21 – Stadtteilplanung und Flächennutzung, also eine offizielle Stelle der Stadt Wien. Die AutorInnen sind die ArchitektInnen und StadtplanerInnen Bernd Vlay und Lina Streeruwitz, die für den Masterplan des Nordbahnviertels verantwortlich und somit die ErfinderInnen der *Stadtwildnis Freie Mitte[5] sind. Das Handbuch bildet die zentrale Publikation für die Entwicklung des Stadtteils. Es enthält die Leitlinien und Konzepte der PlanerInnen ebenso wie einen detaillierten Bericht über den Partizipationsprozess. Es informiert darüber, welche Empfehlungen aus dem Beteiligungsprozess als Zielsetzung ins Leitbild übernommen wurden. Alle drei bereits erwähnten finalen Empfehlungen aus dem Partizipationsprozess wurden, wie es wörtlich heißt, »weitgehend« ins Leitbild aufgenommen.
Im städtebaulichen Leitbild werden fünf Bereiche und Bestandsgebäude der Freien Mitte dezidiert für soziale und kulturelle Nutzungen ausgewiesen. Trotz dieser Verankerung und des Partizipationsprozesses sind zwei davon mittlerweile abgerissen bzw. unbrauchbar gemacht. Es handelt sich dabei um zwei Tunnel (Doppeltunnel) und ein Gebäude, das in unmittelbarer Nähe stand. Der Doppeltunnel war als »soziokulturelles Lernzentrum mit Veranstaltungen« (S. 65), das Gebäude als »Kinderhaus« (ebd.) gedacht. An einer anderen Stelle im Handbuch heißt es über die Nutzung des Doppeltunnels: »Eine Nachmodellierung mit Sitzstufen könnte den Raum vor dem Kulturtunnel zu einer attraktiven Veranstaltungsfläche mit Außenbereich werden lassen.« (S. 129) Über das benachbarte Gebäude: »An dieser Stelle soll, im Bestandsgebäude oder in einem neuen Gebäude, soziale Infrastruktur für alle Generationen angeboten werden.« (ebd.) Der Doppeltunnel wurde mittlerweile zugeschüttet, das Generationenhaus abgerissen. Die IG lebenswerter Nordbahnhof, ein Zusammenschluss von BewohnerInnen des Viertels, schrieb in einem Blogeintrag im Februar 2018 über den »furchtbar gedankenlosen« Umgang mit der Substanz am Areal; weiter heißt es: »Und so ist passiert, was eigentlich nicht passieren sollte. Ein historischer Bestand ist ohne Not zerstört.«[6]
Mit der Verbindlichkeit des Leitbilds scheint es also nicht weit her: Während die Nordbahnhalle, so wurde von den GegnerInnen argumentiert, weg sollte, weil sie im Leitbild namentlich nicht erwähnt wird, wurden der Doppeltunnel und das Generationenhaus zerstört, obwohl sie im Leitbild mehrfach erwähnt werden. Der naheliegende Gedanke, dass die in den beiden zerstörten Einrichtungen geplanten sozialen und kulturellen Funktionen vielleicht in der Nordbahnhalle umgesetzt hätten werden können, wollte keinem der Verantwortlichen kommen.
Kapitel 3: Die Petition an den Wiener Gemeinderat
In Wien besteht die Möglichkeit, eine BürgerInnenpetition an den Gemeinderat zu richten. Voraussetzung sind 500 Unterschriften von in Wien lebenden Menschen und ein Anliegen, das die Gesetzgebung oder Verwaltung der Stadt Wien betrifft. Das Anliegen muss im Ausschuss des Landtags behandelt werden, ist aber in keiner Weise bindend. Obwohl sich die IG Nordbahnhalle von der Petition nicht viel erwartet hatte, weil von anderen Initiativen bekannt war, wie zahnlos das Instrument ist, entschloss sie sich, einen Petitionstext zu formulieren und Unterschriften zu sammeln. Aufgrund der großen Unterstützung aus der Nachbarschaft konnte die Petition rasch eingereicht werden.[7] Für November wurde die IG Nordbahnhalle eingeladen, ihr Anliegen vor dem Ausschuss zu präsentieren – ein üblicher Vorgang. Ebenso üblich ist es, dass die Vorsitzende des Ausschusses von den zuständigen Stellen der Stadtverwaltung Stellungnahmen zur Petition anfordert, die eine Woche vor dem Sitzungstermin veröffentlicht werden müssen. Für die Petition SOS Nordbahnhalle wurden Stellungnahmen von den Stadträtinnen für Kultur (Veronica Kaup-Hasler, SPÖ) und Stadtentwicklung (Birgit Hebein, Grüne), der Bezirksvorsteherin des betroffenen Bezirks (Uschi Lichtenegger, Grüne), den ÖBB und den Wiener Verkehrsbetrieben angefordert.[8]
Die Stellungnahmen von Hebein, Lichtenegger und den ÖBB enthielten die bereits davor öffentlich kundgegebene, äußerst selektive und einseitige Darstellung der Sachlage: Die Nordbahnhalle spiele weder im Partizipationsprozess noch im Leitbild eine Rolle; der Abriss sei mit den ÖBB vertraglich vereinbart; der Grünraum sei zu wichtig, als dass er durch die Nordbahnhalle verkleinert werden sollte; die Sanierung der Halle koste zu viel Geld; es gäbe baurechtliche Schwierigkeiten; es gäbe genug andere Flächen, die verwendet werden könnten (Wasserturm, Neubauten) und nicht zu vergessen: Zwischennutzung muss Zwischennutzung bleiben.
Kein Wort davon, dass die Halle neben dem Wasserturm bereits am Beginn des Partizipationsprozesses Eingang in die Liste der zu erhaltenden Objekte gefunden hatte. Kein Wort darüber, dass mehr oder weniger alle der im Partizipationsprozess vorgebrachten Wünsche und Vorschläge im Hinblick auf Bildung, Kultur und Soziales in der Nordbahnhalle bereits umgesetzt worden sind und hätten werden können. Kein Wort davon, dass einer der zentralen Punkte des Handbuchs zum Leitbild die Nutzung von Ressourcen bildet und Bestandsgebäude eine wichtige Rolle spielen sollen. Ganz grundsätzlich scheint der grünen Stadtplanungs- und Bezirkspolitik nicht ansatzweise klar zu sein, was für ein Glücksfall sondergleichen das Ensemble aus Nordbahnhalle und Wasserturm für die Entwicklung des Nordbahnviertels dargestellt hatte. Eine Situation, nach der in der Stadtentwicklung im Normalfall händeringend gesucht wird, weil sie Identität stiften und Urbanität schaffen kann. Auch die öffentliche Unterstützung zahlreicher namhafter ArchitektInnen, StadtplanerInnen und StadtforscherInnen konnte die Position der grünen Stadtplanung nicht ins Wanken bringen. Einzig der Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler war und ist klar, welche einmalige Chance hier vergeben wurde.
Der Petitionsausschuss, zu dem die IG Nordbahnhalle geladen war, passte schlussendlich perfekt in dieses Bild der Ignoranz und Visionslosigkeit. Ab der Gründung der IG Nordbahnhalle war jegliche Diskussion der unterschiedlichen Standpunkte von Seiten der Stadtplanungspolitik verweigert worden. Im Petitionsausschuss wurde den VertreterInnen der IG Nordbahnhalle nach deren Präsentation keine einzige Frage gestellt. Die Vorsitzende Jennifer Kickert bemühte sich redlich, das peinliche Schweigen der rund 20 anwesenden Gemeinderatsabgeordneten und deren MitarbeiterInnen zu kaschieren, indem sie noch einen kleinen Diskussionsbeitrag zum Thema Zwischennutzung einbrachte. Birgit Hebein, grüne Vizebürgermeisterin und Planungsstadträtin, wiederholte abschließend ihre Position aus der Stellungnahme, ohne auf Gegenargumente einzugehen. Der grüne Kultursprecher Martin Margulies schwieg ebenso wie die ReferentInnen der Stadträtin. Damit war das Kapitel Nordbahnhalle für die Stadt Wien geschlossen, der Abriss für Sommer 2020 fixiert. In der offiziellen Presseaussendung der Stadt Wien hieß es am folgenden Tag: »Die Nutzung der Nordbahnhalle hingegen sei von vornherein temporär angelegt gewesen; der Erhalt der Nordbahnhalle über das Jahr 2020 hinaus decke sich nicht mit den städtebaulichen Planungen und die darauf basierenden politischen Beschlüsse für das Gebiet des ehemaligen Nordbahnhofs.«[9]
Kapitel 4: Politik und Immobilienwirtschaft machen Stadt
Die Planungsstadträtin Birgit Hebein hat ihr Amt erst im Juni 2019 angetreten. Sie war zwar in ihrer Rolle als Sozialpolitikerin immer für die Stärkung von Nachbarschaften eingetreten, hatte aber wenig Interesse, sich mit der Nordbahnhalle näher zu beschäftigen. Nach dem Start der öffentlichen Kampagne für den Erhalt der Nordbahnhalle ignorierte sie ebenso wie ihre MitarbeiterInnen jede Gesprächsanfrage der IG Nordbahnhalle. [10]. Es kam zu keinerlei inhaltlichem Austausch. Ihre Argumente gegen die Nordbahnhalle blieben stets die gleichen. Gegenargumente ignoriert sie bis heute, zuletzt erst wieder bei einer Veranstaltung mit dem Titel Aktivismus und Zivilgesellschaft in der Smart City – unbequem und unverzichtbar!, die von der Stadt Wien veranstaltet wurde.
Den meisten der im Viertel aktiven Bauträger-Konsortien und der Grundstückseignerin ÖBB war die Nordbahnhalle immer ein Dorn im Auge. Offenbar wird es von InvestorInnen und ProjektentwicklerInnen als Zumutung empfunden, dass BürgerInnen ihrem Streben nach Höchstverwertung in die Quere kommen. Der Geschäftsführer der ÖBB Immobilien, Johannes Karner, schreibt in seiner Stellungnahme zur Petition der IG Nordbahnhalle: »Die Nordbahnhalle aber ist abzutragen, um so den vertragsgemäßen Zustand herzustellen.«
Weiters wird umgehend klargestellt, dass auch bei der Entwicklung des denkmalgeschützten Wasserturms BürgerInnen keine Mitsprache haben sollten: »Es wird daher angeregt, einen Schwerpunkt auf die kulturelle, gastronomische und soziale Entwicklung des Wasserturms zu legen. Dies sollte in Kooperation mit der Stadt Wien, dem Bauträgerkonsortium Nordbahnhof und der ÖBB-Infrastruktur AG erfolgen.«[11]
Kapitel 5: Nachdenkpause, Teilabriss, Brand
Aufgrund der Aktivitäten der IG Nordbahnhalle verordnete (sich) die grüne Stadtplanung eine Nachdenkpause und beschloss, vorerst nur einen Teil der Nordbahnhalle abzureißen. Grund dürfte wohl auch die anstehende Nationalratswahl gewesen sein, bei der es für die Grünen um ihr politisches Überleben ging. Der Erfolg in der grünen Hochburg Wien sollte wohl nicht durch einen Konflikt um einen nicht-kommerziellen Gemeinwohlort für die Nachbarschaft gestört werden. Schließlich ist nur schwer zu argumentieren, warum sich ausgerechnet eine grüne Stadtplanung vehement gegen die Schaffung von nicht-kommerziellen Orten für Nachbarschaft, Kultur und Soziales stemmt. Im September erfolgte der aufgrund einer neuen Straßenbahnschleife notwendige Abriss eines Teils der Nordbahnhalle. Bedeutende Flächen gingen verloren, doch der Rest der Halle war immer noch groß. Die Grundfläche hatte nun 1.300 m2, dazu gab es Büroflächen von 150 m2 im ersten Stock und einen großen hohen Keller, der bisher nicht für öffentliche Veranstaltungen genutzt wurde, sich aber für lautere Events perfekt geeignet hätte. Die verbliebene Hallenstruktur war in gutem Zustand, weil sie Anfang der 2000er-Jahre teilweise erneuert worden war.
Die IG Nordbahnhalle drängte darauf, dass die Halle nach dem Teilabriss gegen Vandalismus verbarrikadiert werden sollte. Aufgrund der umgebenden Baustellenentwicklung war eine reguläre Nutzung bis April 2020 nicht möglich. Trotz der mündlichen Vereinbarung, die Halle zu sichern, passierte wochenlang nichts. Der befürchtete Vandalismus ließ nicht lange auf sich warten. Fenster wurden eingeworfen, Mobiliar zerstört, Lagerfeuer angezündet, ein alter Gabelstapler in Betrieb genommen, um alles niederzufahren, was im Weg stand – es war ein Trauerspiel. Immer wieder forderte die IG Nordbahnhalle, die angekündigte Verbarrikadierung endlich durchzuführen. Nach der Ankündigung, die Sicherung der Halle selbst in die Hand zu nehmen, wurden Türen und Fenster mit Schalungsplatten verschlossen.
Wenige Tage später, am Sonntag den 10. November, brannte die Halle ab.[12] Zu diesem Zeitpunkt gab es in der Halle keinen Strom, es wurden keine selbstentzündlichen Materialien gelagert, es hatte mehrere Tage geregnet, am Tag des Brandes gab es kein Gewitter. Die Halle war gut gesichert und ein Eindringen ohne Werkzeug oder Schlüssel nur schwer vorstellbar. Der Brand wurde zur Mittagszeit von NachbarInnen entdeckt. Zu diesem Zeitpunkt brannte die Nordbahnhalle aus dem Inneren heraus bereits lichterloh. Aufgrund der materiellen Umstände ging die IG Nordbahnhalle von Brandstiftung aus und äußerte diesen Verdacht in einer Stellungnahme am Abend desselben Tages.[13] Sie war mit dieser Vermutung nicht alleine. Mehr oder weniger alle NachbarInnen äußerten in den zahlreichen Presseberichten[14] den selben Verdacht. »Warm abgetragen« wurde zur kollektiven Annahme rund um das Brandgeschehen.
Fazit
Die Wiener Stadtpolitik ist für ihre ausgeprägte Top-down-Politik bekannt. Die seit Jahrzehnten regierende Sozialdemokratie sieht sich nach wie vor in der paternalistischen Position der Fürsorgerin, verantwortlich für das Wohl der Bevölkerung, was einerseits zu einer hohen Lebensqualität, andererseits aber zu einem tiefgehenden Demokratiedefizit und einem verkümmerten Verständnis von Teilhabe und Mitsprache führt. Alle paar Jahre werden Instrumente erfunden, um Partizipation zu stärken. Diese sind jedoch stets so konzipiert, dass klar ist, wer schlussendlich Entscheidungen trifft, Macht ausübt und damit die Kontrolle behält. Die Bevölkerung darf zwar mitreden, aber nicht mitbestimmen. Das zahnlose und in keiner Weise bindende Petitionsrecht ist dafür ein gutes Beispiel.
Eine kooperative Stadtentwicklung auf Augenhöhe steht nicht auf der Agenda der »Smart City für alle«. Wenn Anliegen und Ideen aufkommen, die sich nicht mit den offiziellen Interessen der Stadtpolitik decken, wird die Kommunikation darüber so weit als möglich vermieden oder sie werden auf die lange Bank geschoben. Das hat sich auch in den nahezu zwei Perioden grüner Stadtplanung in Wien nicht geändert. Partizipation bedeutet in Wien nach wie vor in erster Linie Information und darüber hinaus eine Möglichkeit, Kritik zu kanalisieren und auszubremsen. Die grundlegende Richtung und die erwünschten Ergebnisse stehen in der Regel schon fest. Eine Fearless City (siehe http://fearlesscities.com) zu werden, die sich radikal den Interessen aller BewohnerInnen verpflichtet fühlt und die Zukunft der Stadt nicht hinter verschlossenen Türen, sondern in breiten, konsultativen öffentlichen Aushandlungsprozessen bestimmt, steht für Wien also in keiner Weise auf der Tagesordnung.
Dieses demokratische Defizit zeigt sich deutlich, wenn es um das Thema Zwischennutzung geht. In Wien ist es üblich, dass bei Zwischennutzungen in erster Linie die Perspektive von InvestorInnen und EigentümerInnen berücksichtigt wird. Die von der Stadt nach langem Drängen der IG Kultur Wien eingerichtete Agentur Kreative Räume ändert daran nichts. Niemand will sich Ärger einhandeln. Statt die grundsätzliche Frage nach gesellschaftlichem Raumbedarf zu stellen, wird einem neoliberalen Zwischennutzungsmantra gehuldigt, das prekäre NutzerInnen in eine Dankbarkeitsrolle zwingt, statt zu thematisieren, welches Aufwertungsinstrument Zwischennutzungen für InvestorInnen eigentlich darstellen. Während international längst die negativen Effekte von Zwischennutzungen klar geworden sind, weshalb diese Strategie in anderen Städten gar nicht oder nur mehr eingeschränkt zur Anwendung kommt, heißt es in Wien auch von der grünen Stadtplanungspolitik völlig unreflektiert »Zwischennutzung muss Zwischennutzung bleiben«.
Der grundsätzliche Mangel an Räumen für nicht-kommerzielle Initiativen, die überwiegend aus dieser Not heraus auf den
Zwischennutzungsmarkt drängen, obwohl sie eigentlich langfristigen Raumbedarf haben, ist kein Thema. Dass InvestorInnen aus Zwischennutzungen materiellen oder immateriellen Profit ziehen und es sich dabei nicht um Geschenke handelt, für die man ewig dankbar sein müsste, liegt auf der Hand, ausgesprochen wird das in Wien allerdings nicht.
Die Nordbahnhalle hätte ein soziales Modellprojekt für Nachbarschaft, Kultur und Wissenschaft, ein politisches Modellprojekt für ökologische Nachhaltigkeit und solidarische Ökonomie und ein rechtliches Modellprojekt für eine kooperative, gemeinnützige Trägerstruktur in Zusammenarbeit mit der Stadt Wien werden können. Es gab sowohl Interesse der unmittelbaren Nachbarschaft[15] als auch von Universitäten, Kulturinitiativen und stadtpolitischen AktivistInnen.[16]
Leider lag die Entscheidungsgewalt bei den AbrissbefürworterInnen. Selten zeigte sich so viel Unwillen, eine Diskussion zu führen. Selten regierte eine größere Ignoranz gegenüber allem Wissen einer gemeinwohlorientierten und zukunftsfähigen Stadtentwicklung. Selten wurde eine so einfache Möglichkeit, mittels einer Koproduktion von Stadtpolitik, Stadtverwaltung und Zivilgesellschaft ein großartiges urbanes Projekt umzusetzen, derart leichtfertig vergeben. Die Folgen dieser Politik werden zu spüren sein. Die völlig unnötige Vernichtung[17] eines umfassenden sozialen Möglichkeitsraums durch die Stadtplanungspolitik wird dann längst vergessen sein.
Fußnoten
Die IG Nordbahnhalle ist eine Initiative von NachbarInnen, ArchitektInnen, StadtforscherInnen, KünstlerInnen und sozialen Initiativen, die für eine dauerhafte Nutzung der Nordbahnhalle als soziales und kulturelles Nachbarschaftszentrum eingetreten ist. dérive war und ist Teil der Initiative (ig-nordbahnhalle.org). ↩︎
Leitbild Nordbahnhof – Handout 3. Grätzel-Cafe 17.02.2014, unter dem Titel »Anregungen aus dem ersten Grätzel-Café vom 10. September 2013«. Verfügbar unter: https://www.wien.gv.at/stadtentwicklung/projekte/nordbahnhof/grundlagen/leitbild-2014/beteiligung/pdf/graetzel-cafe-3-empfehlungen.pdf [Stand 4.12.2019] ↩︎
Im Handout 3. Grätzel-Cafe 17.02.2014 heißt es: »Diese [Anregungen] bildeten die Grundlage für die Arbeit in den BürgerInnendialogen«. ↩︎
Verfügbar unter https://www.wien.gv.at/stadtentwicklung/projekte/nordbahnhof/grundlagen/leitbild-2014/pdf/handbuch-gesamt.pdf [Stand 4.12.2019 ↩︎
Die Freie Mitte ist als Teil des Nordbahnviertels konzipiert. Sie entsteht auf einem Teil des ehemaligen Bahngeländes, das mittlerweile großflächig verwildert ist. Die Nordbahnhalle steht am Rand dieses Geländes. ↩︎
https://nordbahnhof.wordpress.com/2018/02/23/schauen-sie-nicht-her-alles-muss-weg/ [Stand 4.1.2019] ↩︎
Am Rande sei erwähnt, dass es unüblich lange dauerte, bis die eingereichte Petition angenommen wurde. Nach mehrmaligem telefonischen Nachfragen wurde sie nach rund drei Wochen veröffentlicht, ursprünglich war von »längstens einer Woche« die Rede. ↩︎
Die Stellungnahmen sind hier veröffentlicht: https://www.wien.gv.at/petition/online/PetitionDetail.aspx?PetID=02efe8118ab24b4380143ea168f2afc6 ↩︎
https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20191108_OTS0056/petitionsausschuss-tagte-im-wiener-rathaus ↩︎
Davor gab es noch vereinzelte informelle Gespräche ↩︎
Der angesprochene Wasserturm wurde durch den Einsatz von BürgerInnen unter Denkmalschutz gestellt und muss als Industriedenkmal erhalten werden. Er wurde in Gesprächen mit der IG Nordbahnhalle immer wieder als Alternative zur Nordbahnhalle bezeichnet. Das Problem: Der Wasserturm hat eine Grundfläche von 140 m2, die Nordbahnhalle hatte (nach dem Teilabriss) inkl. Keller eine Fläche von rund 1.800 m2. Eine kulturelle, gastronomische und soziale Entwicklung auf 140 m2 ist auf jeden Fall eine Herausforderung. ↩︎
Eine Chronologie der Ereignisse findet sich hier: https://ig-nordbahnhalle.org/about/ ↩︎
In einer Umfrage der Wiener Tageszeitung Kurier sprachen sich im November 2019 67 Prozent der Nachbarschaft für den Erhalt der Nordbahnhalle aus. ↩︎
Radio dérive hat in seiner Dezembersendung SOS Nordbahnhalle #brennt einen Querschnitt von Stellungnahmen gebracht. Nachzuhören unter https://cba.fro.at/435317 ↩︎
Wäre die Nordbahnhalle nicht abgebrannt, hätten sie die ÖBB bzw. die Stadt Wien nächsten Sommer abreißen lassen. ↩︎
Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.