Die Bombe fährt im Kofferraum
Besprechung von »Eine Geschichte der Autobombe« von Mike Davis„Wie jede erfolgreiche moderne Technik verdient die Autobombe eine angemessene Geschichtsschreibung“ verkündet Mike Davis in der Einleitung zu seinem neuen Buch Eine Geschichte der Auto-bombe: Bagdad, Bali, Belfast, Beirut, Bogotá, Bombay, Kabul, Palermo, Saigon, Grosny, Algier, London, Nairobi, New York, Oklahoma, TNT, IRA, ANFO, CIA, LEHI, Vietcong, FLN, OAS, ETA, GAL, GIA, PLO, RDX, FNLC, ISI, Hisbollah, Semtex, Mafia, Al-Quida, Tamil Tigers, Mario Buda, William Casey, Sheik Qassir, Pablo Escobar, Sendero Luminoso, Dawood Ibrahim, Kamikaze, Toto Riina, Oliver North, Gama’a al-Islamiyya, Sheikh Rahman, Ramzi Yousef, Osama bin Laden, Timothy Mc Veigh, Kalid Scheich Mohammed, Schamil Bassajew und noch weit mehr Orte, Personen, Gruppen, Städte und Materialien ergeben Davis’ Chronologie und Topographie der Autobombe.
Davis zählt sieben Merkmale von Autobomben auf: Sie haben eine hohe Zerstörungskraft; sie erlauben marginalen Akteuren mediale Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen; sie sind billig, leicht zu bauen, verursachen fast immer „Kollateralschäden“ und zerstören deswegen oft die moralische Glaubwürdigkeit derjenigen, die sie einsetzen (ein Merkmal, das leider immer seltener zuzutreffen scheint); sie sind anonym und hinterlassen kaum kriminalistisch verwertbare Spuren und sie können kaum vertuscht werden.
Davis lässt sein Geschichte im September des Jahres 1920 in New York beginnen. Der italienische Anarchist Mario Buda stellte einen mit Sprengstoff bepackten Pferdewagen vor J. P. Morgan & Company ab und verschwand in der Masse der PassantInnen, nach der Explosion blieben 40 Tote und mehr als 200 Verletzte zurück. Budas Forderung: „Lasst die politischen Gefangenen frei oder ihr werdet alle mit Sicherheit sterben.“ Mit den politischen Gefangenen waren die einige Monate zuvor verhafteten Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti gemeint. Die Fortsetzung findet Davis’ Geschichte im britisch besetzen Palästina mit einem Anschlag der von dem Irgun Ableger Lehi durchgeführt wurde: Mit einer Lastwagenladung Sprengstoff wurde die britische Polizeistation in Haifa gesprengt. Anschläge mit Autos und LKWs wurden in der Folge sowohl von jüdischer als auch von arabischer Seite eingesetzt. Algerien und Vietnam waren die nächsten grausamen Tatorte für die „faschistische Waffe“ (Davis). Überraschenderweise war es eine Gruppe radikaler Studenten der Antivietnamkriegsbewegung der University of Michigan die für eine enorme Steigerung der Zerstörungskraft von Autobomben sorgte. Die Lektüre des scheinbar harmlosen Büchleins Grubensprengung für wildlebende Tiere brachte sie auf die Idee, für eine Bombe Kunstdünger (Ammoniumnitrat) mit Diesel zu mischen. Die gewaltige Sprengkraft ihrer Bombe für die sie 800 kg Ammoniumnitrat verwendeten, um das am Campus gelegene Army Mathematics Research Center in die Luft zu sprengen, hatten sie vermutlich unterschätzt. Die Explosion erschütterte den gesamten Campus. Ein Physikstudent und Gegner des Vietnamkriegs, der noch in einem Labor arbeitete, wurde getötet, etliche andere Studierende verletzt.
Ein entscheidender Einschnitt in der Geschichte der Autobombe ereignete sich in den 1980er-Jahren in Beirut, einer Stadt die zu jener Zeit wie keine andere von militanten Gruppen terrorisiert wurde. Die Hisbollah entstand 1982 aus dem Zusammenschluss verschiedener islamistischer Gruppen und durfte von Beginn an auf die Unterstützung Teherans zählen. Sheikh Ahmed lenkte am 11. November 1982 ein sprengstoffbeladenes Auto in das israelische Hauptquartier im südlibanesischen Tyros und tötete 141 Israelis. Er war damit der erste, der ein Bomben-Auto nicht einfach neben dem Ziel abstellte, sondern hineinraste und somit die Gefährlichkeit der Waffe Autobombe schlagartig erhöhte. Die Gefährlichkeit erhöhte sich nicht nur dadurch, dass Türen und Schranken keine Hindernisse mehr darstellten, sondern auch dadurch, dass Attentäter, die wissen, dass sie sterbe werden, rücksichtsloser vorgehen als solche, die daran denken, möglichst unerkannt vom Tatort zu verschwinden. Hisbollah-Anhänger-Innen feiern den Jahrestag dieses Anschlages seither als höchsten Feiertag.
Mike Davis geht kurz darauf ein, dass das so genannte Selbstmordattentat nur von bestimmten Organisationen angewandt wird, widmet diesem Phänomen aber nicht viel Raum in seinem Buch. Sein Verweis auf die „hochgelobte Untersuchung“ des Politikwissenschaftlers Robert Pape die laut Davis besagt, dass es sich bei Selbstmordattentätern meist um „einheimische Patrioten handelt, die auf ein allgemeines Unrecht reagieren, vor allem auf die Demütigungen einer ausländischen Besatzung, wenn die Besatzungsmacht als jemand gesehen wird, der eine andere Religion oder ein anderes Wertesystem aufzwingen will“ ist äußerst unbefriedigend, eben weil Selbstmordattentate nur bei wenigen Gruppen, in wenigen Weltgegenden und nur zu bestimmten Zeiten auftauchen. Bei den allermeisten militanten Auseinandersetzungen zwischen Widerstandsbewegungen und ihren Unterdrückern kam es – getraue ich mich zu behaupten – in den letzten Jahrzehnten zu keinen Selbstmordattentaten. „Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod“ schreiben sich nur ganz bestimmte Gruppen auf die Fahnen. Leider dominieren diese allerdings in den letzen Jahren das Geschehen.
Selbstverständlich geht Davis auch auf die vom pakistanischen Geheimdienst ISI und der CIA organisierten Ausbildungslager für Kämpfer gegen die sowjetische Besatzung Afghanistans ein und versucht Licht in das Gewirr aus Gerüchten und Mutmaßungen zu bringen, was nicht ganz leicht ist. Unbestritten dürfte jedoch sein, dass die USA und Pakistan für die Ausbildung etlicher tausend Mudschaheddin verantwortlich sind und es zu einem riesigen „Transfer terroristischer Techniken“ kam.
Selbstmordanschläge mit Autobomben sind heute im Irak trauriger Alltag und nehmen auch in Afghanistan ständig zu. Die jüngsten Anschlagsversuche in London und Glasgow scheiterten glücklicherweise, lassen aber befürchten, dass künftig auch Europa vermehrt mit Angriffen rechnen muss. Davis’ Prognose, dass die „Auto-bombe vermutlich eine großartige Zukunft“ haben wird, ist leider nicht von der Hand zu weisen.
Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.