Die Gartenparzelle, ein ideologisch zerfurchter Ort
»Hands-On Urbanism 1850 - 2012. Vom Recht auf Grün«, Ausstellung im Architekturzentrum WienDas Plakat zur Ausstellung, dessen visuelles Sujet man fälschlicherweise für eine Fotocollage halten könnte, veranschaulicht sehr deutlich die Vielschichtigkeit und Vieldimensionalität raumpolitischer Situationen, die Hands-On Urbanism 1850 — 2012. Vom Recht auf Grün aus transkulturellen und transnationalen Blickwinkeln erforscht. Das Foto entstand in den New Territories in Hong Kong, einer Region, in der fast 90 Prozent der Fläche lange Zeit landwirtschaftlich genutzt wurde. In dieser von Festlandchina als Borderland definierten Abgrenzungsfläche soll nun langfristig Wohn- und Gewerbeentwicklung stattfinden. Viele dort ursprünglich lebende Indigenous People, die während der Britischen Kolonialzeit spezifische Rechte der Landkultivierung erhielten, sind jedoch nach der Rückgabe Hong Kongs an China, aber auch schon davor, in andere Teile des British Empire, dieses kolonial verknüpften Gebildes, nach London oder nach Malaysia ausgewandert. Ihren Landbesitz haben sie aber behalten. Während des Zweiten Weltkrieges flüchteten viele Menschen aus Mainland China und haben sich auf diesem unbewohnten Land angesiedelt und dieses jahrzehntelang bewirtschaftet. Sie errichteten über Nacht sogenannte Informal Cottages. In der für die Ausstellung herangezogenen Fallstudie kämpfen nun die BewohnerInnen gegen die Verdrängung durch einen multinationalen Developer, der sukzessive dieses Land der ehemaligen Indigenous People aufkauft. Sie haben sich organisiert und leisten seit 2010 Widerstand. Einen Widerstand, der jedoch nicht ausserhalb des Systems funktioniert, sondern mit Hilfe von Bürgerforen und Diskussionen ein anderes Agieren aufzeigen will. Die Kuratorin Elke Krasny war im Zuge ihrer mehrjährigen Forschungstätigkeit selber vor Ort und hat eine Aufarbeitung dieser Geschichte angeregt. Sie fand einen Schreiner, der seit den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts die meisten dieser informellen Häuser errichtete. Ursprünglich aus China kommend hat er in der tropischen Region von Malaysia die Techniken und Materialien kennengelernt, die er dann als Flüchtling in Hong Kong ein- und umsetzen konnte. Seine Biografie ist somit paradigmatisch für transnationale Wissensproduktion und ressourcenschonende Selbstbautraditionen.
Stadtgeschichtliche Entwicklungen wie diese erzählen aus der Perspektive der Krise von Umschlag- und Wendepunkten im Wirkungsgefüge Stadt. Mangel bedeutet nicht immer Handlungsohnmächtigkeit. Stadtplanung und -entwicklung von unten sind auch keine Ausnahmesituation. Statistisch betrachtet beginnt weltweit etwa ein Drittel der Stadtentwicklung nicht mit einem verordneten Masterplan, sondern von unten und in einem ganz intensiven Austauschverhältnis mit bestehenden Gesetzen, die sich dann in Folge von Forderungen und Ansprüchen, aber auch durch geschaffene Realitäten zu verändern beginnen.
Der Modernisierungs- und Industrialisierungsschock in Europa und Nordamerika in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist die früheste Phase der für die Ausstellung im Az W ausgewählten Case Studies. Weiters werden verschiedene »Erschütterungen« im Stadtleben, die mit der Kriegslogik des ersten und zweiten Weltkrieges zu tun haben, aufgezeigt. Die Situation im Global South, wie eingangs am Beispiel der New Territories von Hong Kong erläutert, wird ab den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts dokumentiert. In lokalspezifisch unterschiedlichen Geschwindigkeiten erfolgten hier Modernisierungsschübe, die zum Teil enorme Wachstumsexplosionen durch informellen Stadtentwicklungen nach sich zogen.
Die letzte Zeitphase der Ausstellung zeigt, dass diese informell entwickelten Stadtteile aktuell wieder unter einem enormen Druck stehen, weil neoliberale, developergetriebene Stadtentwicklungen dazu führen, dass informell entwickelte Gebiete durch Änderungen der Landnutzung von Zwangsabsiedlungen und Vertreibungen bedroht sind.
Viele Case Studies setzen sich mit Meta-Konstellationen auseinander, zeigen nationale und supra-nationale Verknüpfungen auf und haben mehrere Zeitschleifen.
Historische Begriffe wie die Self-Governance, der von einem Bildungsverein bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts verwendet wurde oder die von Jane Addams proklamierte Heterodoxe Stadt können auf ihr Echo und Gültigkeit in aktuellen Debatten über Stadtentwicklungstendenzen hin untersucht werden. Unterschiedlichste Positionalitäten des Schauens auf den Garten als Hybrid zwischen ökologischem und sozialem Handeln sollen Ähnlichkeiten und Differenzen der präsentierten Fallbeispiele in der historischen Rückschau leichter fassbar machen.
Am Beginn des kuratorischen Interesses stand die Frage nach der Bedeutung und den Formen von Parzellen und dieser speziellen Serialität, die sie über ein Wegesystem und ein Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv aufspannen. Die szenografische Gestaltung von Alexandra Maringer versucht mit gebrauchten Baustellenzäunen dieser strukturellen Überlegung gerecht zu werden. Über 250 Nutz-, Wild- und Zierpflanzen, die im Stile von DIY Window Farms die einzelnen Case Study Nischen sowohl dekorieren als auch auf inhaltliche Verbindungslinien zu den Projekten Bezug nehmen, fungieren auf einer symbolischen Ebene als Modelle für Veränderungen und Zugehörigkeiten. Samen in realiter können laut Elke Krasny revolutionäre Elemente sein, die ohne Rücksicht auf Grenzen und Nutzen migrieren. Und wie praktischer, transversal-partizipativer Urbanismus ungeahntes, visionäres Potential beinhalten.
—
Ausstellung
Hands-On Urbanism 1850 — 2012
Vom Recht auf Grün
Kuratorin: Elke Krasny
Architekturzentrum Wien
März 2012 — 25. Juni 2012 \
http://www.azw.at/event.php?event_id=1202
Michael-Franz Woels