Die Kunst der Erinnerung. Nach ein paar Tagen kam die Nachricht: Walter Benjamin ist tot
Besprechung von »Der Fortschritt des Erinnerns. Mit Walter Benjamin und Dani Karavan in Portbou« von Sigrid HauserAn der spanisch-französischen Grenze gibt es am Mittelmeer einen kleinen Küstenort mit 1.300 Einwohnern namens Portbou, der zur einen Hälfte aus einem riesigen Bahnhof, wie er in einer Großstadt stehen könnte, besteht und zur anderen Hälfte aus einer neogotischen Kirche und einigen Dutzend Häusern, ein Ort, der für uns nur aus dem einen Grund von Bedeutung ist, weil hier Walter Benjamin seinen Tod gefunden hat. Am Nachmittag des 25. September 1940 kam er hier nach erfolgreicher Bewältigung des Fluchtweges über die Pyrenäen aus Frankreich an und vermeinte, nun den schwierigsten Teils seiner Flucht hinter sich zu haben, weil er ein spanisches Transitvisum und ein Einreisevisum in die USA besaß, die ihn sicher vor dem Naziterror bewahren sollten. Aus ungeklärten Gründen, sei aufgrund eines neuen Befehls des Francoregimes oder auch nur eines übergenauen Beamten verlangte man von ihm ein französisches Ausreisevisum, das er nicht besaß, weil dessen Beantragung seine Ausweisung nach Deutschland zur Folge gehabt hätte. Normalerweise wurde ein solches nicht verlangt, denn diese illegale Route war schon vielen Flüchtlingen gelungen, aber an diesem Schicksalstag konnte Benjamin keines vorweisen und hätte am nächsten Tag zurückgeschickt werden sollen. Der schwer erschöpfte und herzkranke Philosoph entschied sich in der Nacht für den Freitod durch eine Überdosis Morphium. Daraufhin ließen die spanischen Behörden die anderen Inhaftierten am nächsten Tag weiterziehen.
Das ist der Kern des Ereignisses, der dieses Grenzstädtchen zu einem Ort der Erinnerung an Walter Benjamin macht und für Sigrid Hauser den Anlass zu einem umfangreichen Essay zum Phänomen der Erinnerung bietet, das sie auch als ein Theater mit dem Stück Erinnerung bezeichnet. In der Tat könnte eine Inszenierung kein besseres Bühnenbild für den Verfasser des Passagenwerkes finden. Portbou ist ein Grenzfall, sowohl in topographischer Hinsicht, weil er sich am Fuße der Pyrenäen kaum ausdehnen kann und der Bahnhof wie eine Talsperre wirkt, als auch politisch, weil er zu den wichtigsten Grenzstationen der Pyrenäen zählt und Spanien mit Frankreich und Europa verbindet. Der Ort ist aber auch in vielerlei Hinsicht ein Passagen-Ort. Das imposante Bahnhofsgebäude ist nicht zum Ankommen konzipiert, sondern zum Umsteigen und Durchreisen. Es liegt wohl in der Unergründlichkeit des Schicksals, dass gerade Walter Benjamin als dem Denker der Passage an einem derart prägnanten Ort den Nachen Charons zur letzten aller Passagen besteigen musste.
Im übrigen war Benjamin das Thema der Erinnerung sehr geläufig. Schließlich gibt es für ihn einen fundamentalen Zusammenhang zwischen der Stadt, der Allegorie und der Erinnerung.
Hauser vollzieht dies mimetisch, beschreibt diesen kleinen Ort in elegischem Ton, teilt ihn in fünf topographische Elemente auf, von denen jedes eine spezifisch räumlich-zeitliche Dimension zur Erinnerung an Walter Benjamin einnimmt. Pro Abschnitt werden Erinnerungselemente, die zur Topographie des Ortes gehören mit biographischen Details von Benjamin, mit Zeugnissen und Berichten seiner Freunde wie Scholem oder Hannah Arendt in Verbindung gebracht. Ebenso werden immer wieder Zitate aus seinen Texten einmontiert. Darüber hinaus werden die unterschiedlichen Modi der Erinnerung durch zahlreiche Bilder dokumentiert. Im Abschnitt Ortschaft steht ein Bericht über die Anlage des Korridors des Künstlers Dani Karavan im Mittelpunkt, eine Art von Installation, die als Erinnerung und Hommage an Benjamin dient. An anderer Stelle geht es um die wechselhafte Geschichte seines Grabes und der Gedenktafeln, wo sich ständig Zweifel an der Authentizität ergeben. In weiterer Folge wird aber auch die Gedächtnispolitik der Gemeinde im Zusammenhang mit dem erhofften Kulturtourismus erwähnt, der sich nicht in erwartetem Ausmaß einstellen wollte, wodurch man zur Schaffung neuer touristischer Attraktionen wie die Errichtung einer Marina schritt, der dem Ort ein neues Gepräge verleihen sollte. Es handelt sich um so etwas wie einen mnemotechnischen Umgang in Portbou und der in der Erinnerung auftauchenden Bilder von Benjamins Leben. Portbou ist eine Erinnerungslandschaft, die mit ihren Zeichen die Gedächtniskunst anregt. Und die Beherrschung dieser Kunst konnte Hauser mit diesem schönen Buch ohne Zweifel unter Beweis stellen.
Manfred Russo ist Kultursoziologe und Stadtforscher in Wien.