Die slowakische Moderne und ihre Auslöschung
Besprechung von »Friedrich Weinwurm Architekt« von Henrieta MoravčíkováDie Verwirrung beginnt schon außen: Das Buch widmet sich dem slowakischen Architekten Friedrich Weinwurm. Auf dem Cover ist ein Grundriss abgebildet, deutsch beschriftet mit Vorzimmer, Zimmer, Halle, Bad, Passage, Küche und »Magd«, ergänzt durch Angaben zu den Bodenbelägen: Parkett, Schiffb., Terrazzo, Kunststein, klar. Was aber ist »Esslingener« im Gegensatz zum »Glas« der Wohnzimmertüren, und zwar Fenster und Balkontüren bezeichnend? Ein besonderes Fensterglas? Die unweit von Esslingen aufgewachsene und mit der Architektur der Zwischenkriegszeit einigermaßen vertraute Rezensentin konnte es nicht herausfinden.
Dieses Detail macht deutlich, wie zugleich nah und fern gegenwärtigen LeserInnen die Lebenswirklichkeit Friedrich Weinwurms ist. 70 Jahre nach der Befreiung vom NS-Regime ist der Architekt der Moderne-kundigen Fachwelt ein Begriff als wichtigster slowakischer Funktionalist, zweisprachig mit primär deutscher Umgangssprache, jüdischer Herkunft, wie sein Büropartner Ignác Vécsei im Nationalsozialismus ermordet. Auf der Flucht, unter ungeklärten Umständen, beim versuchten Grenzübertritt.
Weinwurm hatte alles richtig gemacht. Studium an den Technischen Hochschulen in Berlin und Dresden, im Ersten Weltkrieg am Kopf verletzt, wodurch sich das eigenartige lederne »Sicherheitsband« erklärt, das Weinwurm noch auf Portraitfotos aus den 1920er Jahren wie einen Orden um die Stirn trägt. Bis 1938 war das Büro von Weinwurm und Vécsei in Bratislava/Pressburg die erste Adresse, wenn es um elegante, gediegene und dennoch moderne Wohn- und Geschäftshäuser ging. Man baute Banken, Apartmenthäuser, Villen, Cafés, Pensionen, Kinos, Kaufhäuser, Fabriken, Kleinwohnungen, Zeremonienhallen und Heilbäder, die das avantgardistische Flachdach durch Überstände milderten, das rigide Fensterband in verträglichere Reihen von Einzelfenstern auflösten, den strahlend weißen Bauhaus-Glattputz durch Travertinverkleidungen repräsentativ machten – in der Hauptstadt, in aufstrebenden Kommunen wie Žilina und Nitra und in Modekurorten wie Piešťany und Nový Smokovec. Dabei erwies sich Weinwurm, später gemeinsam mit Vécsei, als routinierter »Repertoire-Architekt« im besten Sinne, der einmal gefundene und bewährte Lösungen in ähnlicher Weise öfters zum Einsatz brachte, ohne sich selbst zu plagiieren. Immer wieder wurden die Bauten in der slowakischen und deutschsprachigen Fachpresse anerkennend besprochen. Wien spielte dabei keine besondere Rolle, in der Slowakei blickte man eher nach Deutschland. Nur an drei Punkten berührt Weinwurms Werk die Wiener Szene: zwei seiner Pressburger Villen wurden von Josef Hoffmann bzw. Ernst Schwadron eingerichtet, den Garten eines weiteren Hauses gestaltete der Wiener Gartenarchitekt Willi Vietsch.
Mit Henrieta Moravčíková hat sich die renommierteste Expertin für slowakische Moderne des Architekten angenommen. Ihr Buch, Ergebnis langer Recherchen, stellt Weinwurms Leben und Werk in ihrer Verschränkung ausführlich dar. Dabei wird einem der – auf Fotos stets ernst blickende – Architekt in seiner kompromisslosen humanistischen Grundhaltung, die sich auch in direktem (sozial-)politischem Engagement äußerte, zutiefst sympathisch. Kannte er den ähnlich denkenden Adolf Loos, den gleichaltrigen Josef Frank? Belege gibt es nicht.
Der Text wird begleitet von vielen historischen und neuen Fotografien von Olja Triaška Stefanovič, deren ruhiger, unaufgeregter Blick die Bauten angemessen ins Bild setzt, und ergänzt durch Reprints deutschsprachiger Originaltexte von Weinwurm sowie durch ein ausführliches Werkverzeichnis. Deprimierend sind dabei der desolate Zustand vieler Bauten und, mehr noch, die lakonischen Sätze, mit denen zahlreiche Einträge schließen: abgerissen nach der Wende. Noch ist es für manche von Weinwurms Bauten nicht zu spät. Man möchte den Zuständigen eine möglichst rasche Einsicht wünschen, zu der das unbedingt empfehlenswerte Buch hoffentlich beitragen wird.
Iris Meder